Historische Theologie

Lies, Jan Martin (Hg.): Streitkultur, Akteure, Wirkungen

Lies, Jan Martin (Hg.): Streitkultur, Akteure, Wirkungen. Der lutherische Bekenntnisbildungsprozess in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Controversia et Confessio 12, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2024, Hb., 253 S., € 99,–, ISBN-13 978-3-525-56205-5


Exzessives Streiten über theologische Inhalte hat den Ruf der altprotestantischen Orthodoxie nachhaltig ruiniert. Die dogmatisch notwendige Kontroverse um die theologische Wahrheit beginnt jedoch schon in der Epoche der Reformation und wird von den Schülern der Reformatoren in der Nachreformationszeit bzw. Frühorthodoxie fortgesetzt. Ihren vorläufigen Abschluss findet sie im Einigungswerk der Konkordienformel von 1577. Im Rahmen von „Controversia et Confessio“, einem vom Bund und vom Land Rheinland-Pfalz geförderten Forschungs- und Editionsprojekt der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, wurden von 2007 bis 2023 Ursachen und Auswirkungen der nach Luthers Tod beginnenden theologischen Kontroversen erforscht und die wichtigsten Quellen in neun Bänden herausgegeben und kommentiert. Im Verlauf der theologischen Auseinandersetzungen innerhalb des evangelisch-lutherischen Lagers und nach außen gegen römisch-katholische und reformierte Lehranschauungen bildeten sich die großen Konfessionen heraus, die Europa – früher offensichtlicher, heute eher hintergründig – geprägt haben und noch beeinflussen.

            Hervorragende Beteiligte des Projekts „Controversia et Confessio“ sind die Projektleiterin Irene Dingel und die Mitarbeiter Kęstutis Daugirdas, Hans-Otto Scheider und Jan-Martin Lies. Ihnen gilt an erster Stelle der Dank dafür, die intensive theologische Arbeit der nachreformatorischen Zeit in der Weise erforscht und editorisch aufbereitet zu haben, dass heute niemand mehr – dem jahrzehntelang tradierten Diktum des liberalen Kirchengeschichtskompilators Karl Heussi folgend – abfällig von „Streitigkeiten der Epigonen Luthers“ sprechen sollte (Heussi, Kompendium §92d).

            Der vorliegende Aufsatzband dokumentiert die Beiträge der Abschlusstagung des Projekts „Controversia et Confessio“ vom 4. bis 6. Mai 2022 in den Räumen der Mainzer Akademie. Die in den neun Textbänden dargestellte und in den vorangegangenen Untersuchungen erforschte Streit- und Kontroverskultur ist Ausgangspunkt einer abschließenden Bewertung, aber auch der Darstellung von Fragen, die nach Abschluss des Projekts offengeblieben sind (Vorwort, 7–9). Dreizehn Beiträge beschäftigen sich mit Aspekten der „Kontroversen und ,Streitkultur‘“ (Teil I, 11–75) „Bekenntnissen und Bekenntnisbildung“ (Teil II, 77–131) mit den „Akteuren und ihren Netzwerken“ (Teil III, 133–207) sowie mit „Wirkungsgeschichtlichen Perspektiven“ (Teil IV, 209–243).

            Jan Martin Lies erklärt die Gründe, warum Beleidigungen (Invektiven) Merkmal des Schlagabtauschs verschiedener Theologengruppen waren (13–26). Im Gegensatz zur früheren oberflächlichen Verurteilung dieser „Streitkultur“ wird heute der wesentliche Einfluss dieser Rhetorik auf die lutherische Konfessionsbildung herausgearbeitet (I. Dingel, 13f): „Gerade schimpfliche Bezeichnungen erwiesen sich als besonders effektiv, um Unterschiede zwischen widerstreitenden Wahrheitsansprüchen offenzulegen und Wertungen vorzunehmen“ (23). Heute kann für diesen Vorgang der „Framing“-Begriff verwendet werden (Lies, ebd.). – Armin Kohnle behandelt in seinem Beitrag den Streit über den Taufexorzismus in der Nachreformationszeit (27–42). Der Exorzismus innerhalb des Taufrituals war in dieser Zeit strittig, wurde aber dennoch nicht in die Reihe „Controversia et Confessio“ aufgenommen. Luther hat den Taufexorzismus im Taufbüchlein (1523) beibehalten, durch gegenseitige Verdächtigungen des „Kryptocalvinismus“ und der „Rekatholisierung“ in Streitschriften sowie darauf folgenden Fakultätsgutachten wurde aus dem ehemaligen Adiaphoron für die Lutheraner eine Pflicht (42). – Die Protestantische Kirchengeschichtsschreibung bedient sich der Verfalls- und Kontinuitätskonzepte ihrer Zeit, um den Wahrheitsanspruch evangelischer Lehre zu rechtfertigen (Wolf-Dieter Schäufele, 43–61). Das Auffinden von „Wahrheitszeugen“ (testes veritatis) belegt, dass es evangelische Predigt auch in vergangenen Jahrhunderten gegeben hat (50 u. ö.). – Im letzten Aufsatz des ersten Teils behandelt Robert Kolb die Clavis Scripturae des Matthias Flacius Illyricus (63–75). Kolb deutet die Ausarbeitung der Clavis im Kontext des evangelischen theologischen Unterrichts und der Verteidigung des Glaubens gegen die Papstkirche (74).

            Im zweiten Teil über Bekenntnisse und Bekenntnisbildung stellt Stefan Michel seine Forschung zum Bekenntnis als Teil der innerlutherischen Kontroverse vor (79–93). Timothy J. Wengert verfolgt die Konfessionsbildung und ihre jeweilige Funktion im zeitgenössischen Kontext, indem er Rechtfertigungs- und Abendmahlslehre der Confessio Saxonica, der Confessio Virtembergica und des Weimarer Konfutationsbuchs untersucht (95–116). Die politische Beratung adeliger Herrschaftsträger durch Theologen und Juristen wird von Luise Schorn-Schütte thematisiert (117–131).

            Der dritte Teil nimmt die Akteure der Kontroversen und ihre Netzwerke in den Blick. Henning P. Jürgens beobachtet an den „Gegenpolen“ im Wittenberger Netzwerk Andreas Osiander (1496/98–1552) und Johann Agricola (1492–1566), dass der Nürnberger seine Gegner durch zahlreiche Schriften bloßstellt (135–154), sogar ein Lied gegen das Interim dichtet (147), an beleidigender Polemik allem Anschein nach aber noch von Erasmus Alber und Caspar Aquila übertroffen wird (150–154). – Das Verhältnis von Matthias Flacius Illyricus (1520–1575) und Johannes Wigand (1523–1587) untersucht Luka Ilić (155–168). Flacius und Wigand arbeiteten mehr als zwei Jahrzehnte zusammen, zuerst in Wittenberg und Magdeburg, dann auch in Jena. Zur Trennung kam es ab 1565 wegen der Erbsündenlehre des Flacius (165f). – Georg Major, Justus Menius, Johann Pfeffinger und Victorinus Strigel traten im innerlutherischen Konflikt nicht im gleichen Maße auf wie Prominente vom Range eines Matthias Flacius (169–184). Amy Nelson Burnett plädiert aufgrund der neuen Quellenforschung und -edition im Rahmen des Projekts Controversia et Confessio dafür, diese weniger namhaften Theologen nicht von vornherein als Verlierer („Loser“, Definition 169) abzuqualifizieren, sondern „to follow the complex processes of clarification, polarization, and consensus in inner-Lutheran debate – and to form our own judgements about winners and losers“ (184). – Ein Beitrag von Hans-Otto Schneider über den Streitschriftendruck in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts versucht im Sinne eines „Werkstattberichts“ (186), die Fragen der „merkantil-finanziellen Seite“ und der persönlichen Haltung der Drucker und der Verleger zum Inhalt der in ihrem Betrieb publizierten Werke zu klären (185–207).

            Volker Leppin charakterisiert im letzten Teil des Tagungsbandes am Beispiel der Leipziger Disputation 1519 und der Debatte über die Willensfreiheit zwischen Luther und Erasmus 1525 die Funktion der theologischen Kontroversen als Metadiskurse über legitime Grundlagen des Streits und theologischer Lehre. Ein weiteres Element der Auseinandersetzung ist die Abgrenzung heterogener reformatorischer Identitäten und die Exklusion einzelner aus dem Wittenbergischen Konsens. Auf der Grundlage des Wittenberger Erbes bilden sich wiederum Gruppen, die den weiteren Streitverlauf im konfessionellen Zeitalter präfigurieren. Schließlich hatten vor allem die Reichsreligionsgespräche das Ziel, Pazifizierung zwischen den Konfessionen und Stabilisierung innerhalb der eigenen Gruppe zu bewirken (211–227). – Der Beitrag von Klaus Unterburger über „Streit als Charakteristikum für theologische Meinungsbildung in der Frühen Neuzeit“ beschließt die Sammlung (229–243). Unterburger weist auf den geschichtlichen Hintergrund akademischer Disputationen in der Methodik mittelalterlich-scholastischer Universitätstheologie hin. Auf der Grundlage des evangelischen Glaubens entwickelten sich im Medium theologischer Kontroversen sowohl die Theologie selbst als auch ihre Methode weiter.

            Die hier in Kürze vorgestellten Abhandlungen zeigen, in welcher Weise auf der Grundlage des Editionsprojekts „Controversia et Confessio“ weiter geforscht werden kann. Als äußerst hilfreich wird sich in Zukunft das Internetportal „Controversia et Confessio“ [C&C Digital https://www.controversia-et-confessio.de] erweisen, weil es schnelle Datenbankrecherchen der edierten Quellen und mehr als 240 Personenbiogramme ermöglicht. Zusammen mit der Neuausgabe des lutherischen Konkordienbuchs durch Irene Dingel (BSELK 2014) und besonders mit dem zweiten Band der Quellensammlung zu den BSELK (Quellen und Materialien, Bd. 2: Die Konkordienformel, QuM 2, 2014) ist nun die lutherische Bekenntnisbildung und Konfessionalisierung auf einzigartige Weise dokumentiert sowie leicht und öffentlich zugänglich.


Pfarrer Dr. Jochen Eber, Schriesheim