Neues Testament

Michael Sommer / Uta Poplutz / Christina Hoegen-Rohls (Hg.): Die Johannesapokalypse

Michael Sommer / Uta Poplutz / Christina Hoegen-Rohls (Hg.): Die Johannesapokalypse. Geschichte — Theologie — Rezeption, WUNT 508, Tübingen: Mohr Siebeck, 2023, geb., VIII+451 S., € 154,00, ISBN 978-3-16-161250-3


Wer sich mit der Johannesoffenbarung (Offb) beschäftigt, kommt nicht umhin, neben Kommentaren, Spezialmonographien und Artikeln in Zeitschriften auch die in zahlreichen Sammelbänden veröffentlichen Essays zu Einzelthemen der Johannesoffenbarung zu lesen, die seit 1994 regelmäßig erschienen sind (Society of Biblical Literature 1994 Seminar Papers, ed. E. H. Lovering, SBLSP 33, Atlanta 1994; 1900th Anniversary of St. John’s Apocalypse, ed. E. V. Oikonomou, Athen 1999; Theologie als Vision: Studien zur Johannes-Offenbarung, ed. K. Backhaus, SBS 191, Stuttgart 2001; Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung, FS O. Böcher, ed. F. W. Horn, Neukirchen-Vluyn 2005; Religious Rivalries and the Struggle for Success in Sardis and Smyrna, ed. R. S. Ascough, SCJ 14, Waterloo 2005; The Reality of Apocalypse, Symposium 39, ed. D. L. Barr, HTS 53, Atlanta 2006; Apokalyptik und Qumran, ed. J. Frey / M. Becker, Paderborn 2007; Im Geist und in der Wahrheit. Studien zum Johannesevangelium und zur Offenbarung des Johannes, FS M. Hasitschka, ed. K. Huber / B. Repschinski, NTA 52, Münster 2008; A Feminist Companion to the Apocalypse of John, ed. A. J. Levine, London 2009; Mächtige Bilder. Zeit- und Wirkungsgeschichte der Johannesoffenbarung, ed. B. Heininger, SBS 225, Stuttgart 2011; Imagery in the Book of Revelation, ed. M. Labahn / O. Lehtipuu, CBET 60, Leuven 2011; Die Johannesoffenbarung, ABG 38, ed. M. Labahn / M. Karrer, Leipzig 2012; Die Johannesapokalypse, ed. J. Frey / J. A. Kelhoffer / F. Tóth, WUNT 287, Tübingen 2012; Revelation and the Politics of Apocalyptic Interpretation, ed. R. B. Hays / S. Alkier, Waco 2012; Die Offenbarung des Johannes, ed. T. Schmeller / M. Ebner / R. Hoppe, QD 253, Freiburg 2013; Paul, John, and Apocalyptic Eschatology, FS M. C. de Boer, ed. J. Krans / L. J. L. Peerbolte / P. B. Smit / A. W. Zwiep, NovTSup 149, Leiden 2013; The Book of Revelation, ed. G. V. Allen / I. Paul / S. P. Woodman, WUNT 2.411, Tübingen 2015; Das Gottesbild in der Offenbarung des Johannes, ed. M. Stowasser, WUNT 2.397, Tübingen 2015; Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse, WUNT 346; ed. S. Alkier / T. Hieke / T. Nicklas, Tübingen 2015; Book of Seven Seals: The Peculiarity of Revelation, Its Manuscripts, Attestation, and Transmission, ed. T. J. Kraus / M. Sommer, WUNT 363, Tübingen 2016; New Perspectives on the Book of Revelation, ed. A. Yarbro Collins, BETL 291, Leuven 2017; Reading Revelation in Context, ed. B. C. Blackwell / J. K. Goodrich / J. Maston, Grand Rapids 2019; The Oxford Handbook of the Book of Revelation, ed. C. R. Koester, Oxford 2020). Ich habe die Titel dieser Sammelbände, die zumeist auf Konferenzen zurückgehen, bewusst aufgelistet, um aufzuzeigen, dass der Johannesoffenbarung seit dreißig Jahren ein Ausmaß an akademischer Aufmerksamkeit gewidmet wird, das es so zuvor nicht gegeben hat.

Der hier zu rezensierende Band ist im Zusammenhang mehrerer Tagungen entstanden (2015 in Halle-Wittenberg, 2017 in Wuppertal, 2018 in Münster). Die fünfzehn Autoren sind zumeist durch frühere Beiträge zur Offb ausgewiesene Kenner der Materie. Unter der Überschrift „Geschichte“ behandelt Jan Dochhorn (in dem einzigen auf Englisch veröffentlichten Aufsatz) die Tradition des letzten Kaisers der Geschichte, den Irenäus in klassischer Weise beschrieben und mit dem Tier aus dem Meer (Offb 13; 17) identifiziert hat, das im Kontext der Visionen Daniels im Sinne des Nero redivivus verstanden wurde. Thomas Witulski beschreibt lokalgeschichtliche Beziehungen von Offb 18 zur Stadt Rom als Handelsplatz und versucht gleichzeitig, seine Datierung der Offb in die Zeit nach 112 n. Chr. zu rechtfertigen. Die lokalgeschichtlichen Bezüge verankern die Offb überzeugend in der Wirtschaftsgeschichte des römischen Reiches, ohne dass sich daraus Konsequenzen für eine Spätdatierung ergeben.

Unter dem Stichwort „Theologie“ behandelt Konrad Huber das Gottesverständnis der Offb im Kontext der Christologie, die er in seiner Habilitation (Linz 2006) sowie in mehreren Aufsätzen behandelt hatte. Huber betont, dass die Person und die Funktion Jesu Christi von allen Geschöpfen und allen himmlischen Gestalten abgehoben wird, was die Folgerung nahelegt, dass Johannes Christus göttlichen Status zuerkennt und ihm göttliche Würde verleiht. Tobias Nicklas behandelt das Gottesbild der Offb im Kontext der Frage nach menschlicher Identität, die nach dem Autor ans Ziel kommt, wenn Menschen bei dem Gott ankommen, der sich selbst als der „Kommende“ (Offb 1,8) bezeichnet, dessen Angesicht sie schauen und dessen Namen sie auf ihrer Stirn tragen (Offb 22,4). Thomas Bauer, der sich in seiner Dissertation mit dem tausendjährigen Reich beschäftigt hatte (Diss. Gießen 2006; BZNW 148, 2007), verteidigt die Forschungstradition, die der Offb Antipaulinismus attestiert; Johannes und Paulus haben beide, zeitversetzt, in Ephesus gewirkt, wobei Johannes der paulinischen Tradition feindselig gegenüberstehe. Während sowohl Johannes als Paulus das mosaische Gesetz für irrelevant hielten, fordere Johannes Werke als Zeichen der Bewährung nach der Taufe, um das Heil zu erlangen, und bezeichne Repräsentanten der paulinischen Tradition als „Bileam“ und „Isebel“ und somit als falsche Propheten. Der Fragenkreis von atl. Gesetz und Ethik im Kontext von Gottesverständnis, Christologie und Ekklesiologie verdient, in einer größeren Arbeit ausführlich und ohne kritische Eingrenzung dessen, was „paulinisch“ ist (Eliminierung von Eph, Kol, und der Pastoralbriefe), behandelt zu werden. Martin Stowasser schreibt über das Schicksal der Völker in der Offb und sieht die Antwort auf die Frage, ob die feindlichen Völker im Feuersee „verdampfen“ oder in der neuen Welt Gottes präsent sind, in der Textpragmatik: die positiven Aussagen über die Völker (Offb 21,1-8, 23-27) sollen die Kirche daran erinnern, dass sie missionarische Strahlkraft für die Völker besitzen soll. Beate Kowalski (Habil. Innsbruck 2003 über die Rezeption von Hesekiel in der Offb) behandelt die ekklesiologischen Konzepte und Realisierungen durch eine skizzenhafte Beschäftigung mit den Sendschreiben (Offb 2-3) und mit Bildern und konkreten Vorstellungen (Offb 1,5-6; christologische und liturgische Dimension; lokale Kirchen und universale Kirche; Kirche als heilige Stadt und neues Jerusalem); diese sollen der bedrängten Gemeinde helfen, die Ideale mit der Wirklichkeit zu verbinden und damit Trost und Hoffnung zu gewähren.

Unter der Überschrift „Rezeption“ referiert Marcus Sigismund über die Editio Critica Maior der Offb (erschienen im Mai 2024) als textkritische und editionswissenschaftliche Herausforderung. Johannes Stettner beschäftigt sich mit der Vorstellung des tausendjährigen Reichs, dem Weltende, und der Welterneuerung bei Commodian (3. Jh.); David Ganz in einem reich bebilderten Artikel mit Buchvisionen und Schreibszenen in mittelalterlichen Apokalypsedarstellungen; Jan Rohls in einem Artikel ohne Bilder mit der Darstellung des Jüngsten Gerichts in der Kunstgeschichte („Theologie im Bild“) von Dürer über Rogier, Membling, Hieronymus Bosch, Signorelli, Cranach (in Luther’s September-Testament), Michelangelo (Sixtinische Kapelle), Robusti, El Greco, Rubens, Cornelius, Rodin, Kandinsky, Marc und Meidner bis M. Beckmann; Heike Stöcklein mit Illustrationen der Offb in Bibelausgaben von der Mitte des 15. Jh. bis 1530 (nicht bebildert); Beate Kowalski und Michaela C. Hastetter in einem ausführlichen Artikel mit Musik in der Offb (z. B. 1,10; 4,1; 5,8; 15,2; 18,22, 23; 19,1-7), dessen zweiter Teil die Hymnen der Offb in der Musik des 20. Jh. (F. Schmidt, J. Françaix) darstellt.

Wie bei jeder Aufsatzsammlung sind manche Artikel ausführlicher, detaillierter recherchiert und überzeugender als andere. Alle Aufsätze zwingen den Leser zur genauen Lektüre nicht nur der Aufsätze selbst, sondern der Johannesoffenbarung, was das Ziel jeder exegetischen und theologischen Beschäftigung mit dem Neuen Testament sein sollte.


Prof Dr. Eckhard J. Schnabel, Gordon-Conwell Theological Seminary USA