Christian Stettler: Das Endgericht bei Paulus
Christian Stettler: Das Endgericht bei Paulus. Framesemantische und exegetische Studien zur paulinischen Eschatologie und Soteriologie, WUNT 371, Tübingen: Mohr Siebeck, 2017, geb., XIX+415 S., € 139,−, ISBN 978-3-16-155007-2
Christian Stettler – seit 2014 Privatdozent für Neues Testament an der Universität Zürich und Titularprofessor an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel – legt hiermit die überarbeitete Fassung seiner Habilitationsschrift vor.
Im ersten Kapitel formuliert er zunächst seine Fragestellung, bevor er einen Abriss der Forschungsgeschichte seit 1930 bis 2013 bietet (5−47). Er stellt die Ansätze von 28 Forschern vor, die er kompetent und kompakt darstellt und anschließend beurteilt, indem er ihren Fortschritt für die Forschung würdigt und kritisch anmerkt, was seiner Meinung nach problematisch ist und wo weiter zu arbeiten ist. Lesenswert ist auch der konzentrierte und informative Exkurs zur „New Perspective on Paul“, ebenfalls in Darstellung und Beurteilung gegliedert (19−26). Aus der Forschungsgeschichte zieht Stettler Folgerungen für seine Arbeit, in der er drei Fragestellungen nachgehen will (45−47), nämlich 1. ob bei Paulus einander widersprechende Gerichtskonzeptionen vorliegen, 2. will er mit Hilfe der Frame-Semantik die von Paulus „in den Gemeinden unterrichtete Lehre vom Endgericht“ so weit wie möglich rekonstruieren, 3. will er der Thematik von Endgericht und Werken, Gnade und Toragehorsam, Rettung ohne Werke und Lohn für die Werke nachgehen. Diese drei Fragestellungen bearbeitet er in den Kapiteln II bis IV.
Im 2. Kapitel (49−71) überprüft Stettler die These (u. a. von M. Konradt), es gebe bei Paulus zwei unterschiedliche Gerichtskonzeptionen – ein Vernichtungsgericht, das die Ungläubigen trifft, und ein Beurteilungsgericht über die Werke der Menschen −, von denen das Beurteilungsgericht lediglich als kontextbezogenes Argument verwendet werde und für Paulus prinzipiell entbehrlich sei (49f). Demgegenüber stellt Stettler zunächst heraus, dass Gerichtsaussagen nur als Argument verwendet werden können, weil sie auch abgesehen vom Kontext gelten, also eine gemeinsame Grundüberzeugung von Paulus und den Adressaten darstellen (50f). Über ihre Funktion im Kontext hinaus haben sie eine „Referenzfunktion in Hinsicht auf die paulinische Katechese“ (52). Er untersucht dann die Stellen 2Kor 5,10, Röm 14,10−12 und 2,6−16 und kommt zum Fazit: „Das universale Beurteilungsgericht als Kulmination der geschichtlichen Gerichte Gottes ist also die Voraussetzung der paulinischen Lehre von der Rechtfertigung, Rettung, Erlösung und Versöhnung durch den Messias Jesus ([Röm] 3,21−5,21)“ (68). Das Zorngericht Gottes über die Heiden ist die negative Seite des Gerichts und setzt eine Beurteilung des menschlichen Handelns voraus; das positive Gegenstück ist die Rettung im Gericht, sodass Paulus nicht von unterschiedlichen Gerichtskonzeptionen spricht. „Das die Werke beurteilende Endgericht [bildet] die unverzichtbare Grundvoraussetzung der paulinischen Soteriologie“ (71).
Bevor Stettler sich im 3. Kapitel (73−178) dem semantischen Frame „Endgericht“ bei Paulus zuwendet, setzt er sich mit der Rolle der Rezeptionsästhetik bei der Auslegung neutestamentlicher Texte auseinander und unterstreicht die Wichtigkeit einer autororientierten Interpretation insbesondere der neutestamentlichen Briefe. Im Blick auf das Thema des Buchs „geht es darum, so präzise wie möglich zu rekonstruieren, was Paulus selber über das Endgericht gelehrt hat, soweit es aus seinen Briefen erkennbar ist“ (93). Das Instrumentarium dazu stelle die neuere Frame-Semantik bereit. Diese wird ausführlich und verständlich erläutert (93−124). Die Bedeutung von Wörtern wird „durch das enzyklopädische Wissen oder Weltwissen eines Autors“ bestimmt (105), der durch bestimmte Wörter bei den Lesern ein ganzes Wissenskonzept (Frame) hervorruft − ohne dieses im Detail zu kommunizieren. Er setzt bei ihnen ein Vorwissen voraus, also einen common ground zwischen Autor und Adressat. Davon ausgehend versucht Stettler, den paulinischen Frame „Endgericht“ zu rekonstruieren. Er untersucht dazu die Füllung der einzelnen Frame-Elemente (Agens = Handelnde, Zeitpunkt, Ort, Patiens bzw. Experiens, über die Gericht ergeht, Akt, Art und Weise sowie Standard = Maßstab) in den Briefen. Im Ergebnis stellt er fest, dass Paulus in allen untersuchten Texten „einen einzigen Frame voraussetzt, eine Konzeption vom Endgericht nach den Werken, die weithin konstant ist“ (143). Die Framesemantische Analyse erfolgt in Anhang A zu den einzelnen Texten (289−323), in B zusammengefasst als Inventar des Frames (323−334). Anschließend stellt Stettler Beziehungen zu anderen semantischen Frames sowie die kognitive Umwelt des Paulus dar. Die Rekonstruktion des paulinischen Evangeliums als eines komplexen Frames bildet den Abschluss des Kapitels (162−179). Es zeigt sich, dass das Endgericht in ein größeres endzeitliches Szenario eingebettet ist.
Das 4. Kapitel bietet drei Exkurse, die den paulinischen Frame „Endgericht“ vertiefen. Es geht erstens um den Maßstab des Gerichts (179−207), den er in Jesu eigener Liebe und Hingabe bis zum Tod sowie in seiner Tora sieht, die die Mosetora vollendet. Diese bleibt in einem erfüllten Sinn und in transformierter Weise auch für die Christen gültig (206). Zweitens untersucht Stettler anhand von 1Kor 3,5−4,5 die Konsequenzen des Gerichts für die Christen (207−241). Daraus schließt er, dass in einem Extremfall, wenn jemand zwar keine unvergebenen Sünden, aber auch keinen positiven Gehorsam vorzuweisen hat, dieser „allein aufgrund des Vertrauens … auf das Rettungswerk Jesu Christi“ gerettet wird (240f). Drittens geht es darum, wie sich das Gericht nach den Werken zur Rechtfertigung aus Gnade verhält (242−277; vgl. 167−170). Stettler geht dem oft vernachlässigten Problem der Sünde von Christen nach. Diese unterscheiden sich im Endgericht von den nicht an Jesus glaubenden Menschen dadurch, dass ihre Sünden vergeben sind, auch die nach ihrer Bekehrung, sofern sie nicht im sündigen Verhalten verharrten, und dass sie mit dem Heiligen Geist begabt sind, „durch den sie ein Gott wohlgefälliges Leben führen können“ (276). „Das neue Handeln [der Christen] „ist ganz die Verantwortung des Menschen und zugleich ganz die Wirkung Gottes“ (276). Im Endgericht nach den Werken ist für die Glaubenden erstens die Vergebung der Sünden entscheidend und zweitens, „ob das ,Leben im Geist‘ – inklusive Umkehrbereitschaft! – bis zum Ende durchgehalten wurde“ (277).
Wie bereits in seiner Monographie „Das letzte Gericht“ (Tübingen 2011), in der er die Endgerichtserwartung von den Schriftpropheten bis Jesus dargestellt hat, versteht Stettler das Endgericht als Mittel zur Durchsetzung von Gottes Gerechtigkeit, seiner Wohlordnung und seines Heils, also der endgültigen, universalen Gottesherrschaft. So überwindet er die Alternative von Vernichtungs- und Beurteilungsgericht. Die Arbeit besticht durch eine überzeugende Argumentation, selbst wenn man einzelne paulinische Aussagen anders interpretiert; so spricht Paulus meines Erachtens erst in Röm 2,28f von den Heidenchristen, nicht schon in Röm 2,12−16 (vgl. 191−193, 256). Das ändert aber nichts daran, dass Stettlers Verständnis des Endgerichts und dessen Einbettung in das paulinische Evangelium mich insgesamt überzeugt hat, sodass ich seine Arbeit gerne empfehle. Über das eigentliche Thema hinaus vermittelt er, wie durch die neuere Linguistik sowohl die autororientierte Interpretation als auch die Frame-Semantik wertvolle Hilfen für eine sachgemäße Auslegung bieten können.
Dr. Wilfrid Haubeck, Professor em. für Neues Testament an der Theologischen Hochschule Ewersbach in Dietzhölztal
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