Christiane Böhm: Die Rezeption der Psalmen in den Qumranschriften, bei Philo von Alexandrien und im Corpus Paulinum
Christiane Böhm: Die Rezeption der Psalmen in den Qumranschriften, bei Philo von Alexandrien und im Corpus Paulinum, WUNT II/437, Tübingen: Mohr Siebeck, 2017, Pb., 284 S., € 84,–, ISBN 978-3-16-154664-8
Bei der Untersuchung handelt es sich um die überarbeitete Fassung einer Dissertation, mit der Ch. Böhm (B.) an der Uni Kiel (Doktorvater: D. Sänger) im Fachbereich Neues Testament promoviert wurde. Die Studie erarbeitet die Aufnahme biblischer Psalmen in drei antik-jüdischen Textkorpora. Die Bedeutung der Psalmen und damit die Relevanz der Untersuchung ergibt sich schon aufgrund der großen Zahl von Schriftrollen in den Höhlen am Toten Meer (Qumran) und durch den Umstand, dass bei Paulus und im NT insgesamt die Psalmen zu den am häufigsten rezipierten Schriften gehören. Die drei im Titel genannten Bereiche geben die Hauptteile der Studie ab. Sie werden gerahmt durch eine knappe Einleitung (Thema, Forschung, Vorgehen) und eine Auswertung. Beigegeben sind als Anhang eine vergleichende Zusammenstellung des griech. Psalmentextes (LXX) und der von Paulus vorgenommenen Abweichungen, ein Literaturverzeichnis und drei Register, welche die Arbeit hilfreich erschließen.
Als Untersuchungsgegenstand der „Qumranschriften“ entpuppt sich (lediglich) die Psalmenhandschrift 11Q5 (= 11QPsa): eine größere Psalmenrolle, die Psalmen aus den Teilbüchern IV und V (Ps 90–106/107–150) enthält. Die Psalmen sind teils anders angeordnet, und die Rolle enthält zudem außerbiblische Stücke (s. Tabelle, S. 11). Die Untersuchung geht davon aus, dass 11Q5 eine protomasoretische Psalterfassung (PMT) zugrunde liegt und die Abänderungen gegenüber dem PMT Anliegen der Qumran-Gemeinschaft aufzeigen. B. geht von einer rahmenden Struktur der sich entsprechenden Ps 101 und 2Sam 23,[1–]7 + Davids Komposition aus, auf die ein thematisch-zusammenfassender Schluss (Ps 140–134–151 A+B) folgt. 11Q5 erweist sich als planvolle, abgerundete Komposition mit einer spezifischen Art der Armenfrömmigkeit, einer gegenüber dem PMT verstärkte Davidisierung und der Hervorhebung der Tora im Vergleich zum Kult. Es handelt sich um ein Lehr- und Gebetbuch der Qumran-Gemeinschaft, welches der Rechtfertigung und Reflexion der neuen Kultpraxis abseits des Jerusalemer Tempels dient.
Philo von Alexandria ist der kürzeste der drei Hauptteile gewidmet. Dies fügt sich zum Umstand, dass der Auslegung der Tora (Pentateuch) das Hauptaugenmerk gilt, wogegen den Psalmen (nach der LXX) abgeleitete Autorität und ihren Aussagen stützende Funktionen zukommen. B. konzentriert sich auf die Untersuchung der 18 expliziten Psalmzitate, die – mit einer Ausnahme – in Philos großem Allegorischen Kommentar zur Genesis figurieren. Der Inhalt der meist recht kurzen Psalmzitate ist von Mose her autorisiert, und diese Tatsache ist für den Alexandriner maßgeblich.
Bei Paulus haben die Psalmen einen größeren Stellenwert als bei Philo, zumal dieser – B. nimmt die „sieben authentischen Paulusbriefe“ zur Grundlage – von den biblischen Schriften aus Ps (und Jes) gerne und häufig zitiert, sie in seine Argumentation einbezieht und die Relevanz herausstellt. Psalmzitate (aus der LXX) finden sich in Röm (2,6; 3,4.10–12.13.14.18.20; 4,7f; 8,36; 10,18; 11,9f; 15,3.9.11); 1Kor (3,20; 10,26.15.25.27); 2Kor (4,13; 9,9); Gal (2,16). Die Belege aus den Psalmen werden analysiert und ihre Aussagefunktion erhoben. Die thematische Verteilung ergibt: 1. Im 1Kor stehen sie im Dienst der Christusbotschaft; 2. Im 2Kor ist ihr Ort im Umgang miteinander und in der Apologie des Aposteldienstes; 3. Bis auf ein Zitat (15,3) stehen alle Belege in Röm sowie Gal 2,16 im Kontext von Aussagen zu Gott, der Stellung des Menschen (dicht in Röm 3,1–20) und des Heilshandelns an Juden und Heiden.
B. hat unterschiedliche Weisen antik-jüdischer Rezeption und Interpretation der biblischen Psalmen untersucht, um die Vielfalt des Psalmenumgangs darzustellen. Während die Rezeption durch Philo solide ausgearbeitet ist, aber inhaltlich für den (über die Spezialisten hinausgehenden) Leserkreis wenig Signifikantes bietet (was nicht B. anzulasten ist, sondern an Philos Umgang mit den Psalmen liegt), ist dies beim Apostel Paulus deutlich anders. Im NT insgesamt und bei ihm sind die Psalmen innerhalb des biblischen Schrifttums sehr bedeutsam. Sie dienen der Autorisierung und Deutung theologischer wie anthropologischer Aussagen, insbesondere dem Verstehen von Person und Werk Jesu Christi. Die mit der Rezeption verbundenen Argumentationslinien hat B. gut herausgearbeitet. Der Paulus-Abschnitt ist denn auch der am besten gelungene. Dass Paulus mit „Schrift(en)“ (noch) nicht das AT meine (B. spricht fluide von „Traditions- und Wahrnehmungshorizont“), ist zu problematisieren und die hohe Autorität der Psalmen und ihr „Schrift“-Charakter herauszustellen. Der Abschnitt der Psalmen in Qumran hat über die im Titel („Qumranschriften“) nicht angezeigte Engführung auf eine (gewichtige) Handschrift hinaus methodologisch problematische Prämissen: So ist die Zuordnung von Spender- (protomasoretischer Psalter) und Empfängertext (11Q5) weniger sicher als B. annimmt. Die angenommene Rezeptionsrichtung ist möglich, aber ebenso auch, dass die Fassungen zeitähnlich (konkurrierend?) entstanden sind (oder 11Q5 sogar älter ist). Zudem ist der Rollenanfang mit Ps 101 fraglich. Die sich an die Monographie von U. Dahmen anlehnende Kompositions- und Strukturanalyse, die mit der theologischen Profilierung der Qumran-Gemeinschaft gegenüber dem PMT einhergeht, ist daher bedenkenswert, aber keineswegs sicher. Die neueste Forschung zeigt (vgl. A. Lange, E. Jain), dass die (derzeitige) Faktenlage offener bzw. vieldeutiger ist als wünschbar und angenommen. Für eine dritte Rezeptionsweise neben Philo und Paulus wäre B. besser beraten gewesen, Zitate und Anspielungen aus anderen, in Qumran überlieferten Schriften (wie die Hodajot) auszuwerten.
Trotz Eintrübung durch diese teils kritische Bewertung ist die Arbeit lesenswert und v. a. die Paulus-Rezeption der Psalmen gut erarbeitet.
Pfr. Dr. theol. Beat Weber, Basel, Research Associate am Department of Ancient Languages and Cultures, Universität Pretoria, Südafrika
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