Christoph Raedel (Hg.): Das Leben der Geschlechter
Christoph Raedel (Hg.): Das Leben der Geschlechter. Zwischen Gottesgabe und menschlicher Gestaltung, Ethik im Theologischen Diskurs 24, Berlin: LIT Verlag, 2017, Pb., XII+225 S., € 24,90, ISBN 978-3-643-13631-2
Die Thematik des Buches ist von lebenspraktischer Bedeutung für alle Menschen. Seit Michel Foucaults, Geschichte der Sexualität (1976) und spätestens seit Erscheinen des Buches der Feministin Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter (dt. 1991), wird in der Öffentlichkeit die Hypothese gezielt als gesicherte Erkenntnis verbreitet, dass die Biologie des Körpers zwar durch die Natur vorgegeben ist, der „erlebte Körper“, nicht zuletzt die empfundenen Geschlechterrollen und die ihnen entsprechenden Gefühle, sich aber erst unter kulturell-sozialen Einflüssen ausbilden, also sozial konstruiert und nicht biologisch vorgegeben sind. Das bedeute, dass die Identität von biologischem Geschlecht (sex) und empfundener Geschlechtlichkeit (gender) bei Geburt nicht schon gegeben seien und daher auch die Polarität und Komplementarität der biologischen Geschlechter (Frau, Mann) und mit ihr die Heterosexualität nicht zum Leitbild sexuellen Lebens erhoben werden dürfe. Jeder müsse daher die seinen eigenen Neigungen angemessene Weise des sexuellen Lebens finden und sie auch wechseln dürfen. Dieser Konstruktivismus lehnt jede vorgegebene Form und jedes festgelegte Ziel (z. B. Heterosexualität, Ehe, Familie) für die Gestaltung des sexuellen Lebens ab. Der Mensch soll sich nicht zuletzt in seinem geschlechtlichen Leben möglichst selbst in Freiheit gemäß seinen Neigungen gestalten, ja sich, nicht zuletzt in seinem Geschlecht, selbst „konstruieren“.
Der Philosoph Harald Seubert (175–196) stellt die Entwicklung hin zu diesen „Gendertheorien“ und ihre „Widervernünftigkeit“ sowie die oft verschwiegenen negativen Folgen der beliebigen sexuellen Selbstgestaltung dar. Der Konstruktivismus eliminiere alle Fragen nach dem Wesen der Geschlechtlichkeit. Seubert kommt zu dem Schluss, dass die „Komplementarität der Geschlechter“ die „durch nichts zu ersetzende Lebensform ist“ (197). Es empfiehlt sich beim Lesen mit diesem Aufsatz zu beginnen, weil er den kulturellen Rahmen absteckt, in dem auch die anderen Beiträge zu sehen sind.
Der Band enthält Referate einer Tagung der AfeT im Jahre 2015. Es ging dabei zentral darum, „wie sich die Geschlechtlichkeit als Gabe Gottes verstehen lässt, die auf die Gestaltung durch Menschen und interpersonale Verhältnisse hin geöffnet ist“ (Raedel, VIII). Dem Alttestamentler Julius Steinberg geht es in seinem informativen Beitrag darum, dass aus der Zeitbezogenheit alttestamentlicher Aussagen nicht ihre Zeitbedingtheit und damit ihre Belanglosigkeit für die heutige Zeit gefolgert wird (5). Es ist daher unangemessen, die biblischen Aussagen an den Vorstellungen der Gegenwart zu messen und daraufhin zu dem Schluss zu kommen, dass sie für die heutige Zeit nicht mehr relevant sind (16). Er zeigt auf, wie grundlegende Aussagen in verschiedenen Zeiten und Verhältnissen in unterschiedlicher Weise zur Geltung gebracht wurden. In der ganzen Tora-Gesetzgebung findet sich kein „Gebot zur Unterordnung der Frau unter den Mann“ (13). Die juristische Verantwortung des Mannes für die Familie ist nicht als Überordnung des Mannes zu verstehen, sondern Folge einer festgefügten Rollenverteilung zwischen Mann und Frau (8). Nach der Schöpfungsgeschichte nehmen Mann und Frau „die Funktion der Statthalterschaft Gottes gemeinsam und in gegenseitiger Ergänzung wahr“ (21). Sie setzt die Polarität der Geschlechter als Schöpfung Gottes voraus. Allerdings sei zu beachten, dass die ursprüngliche Schöpfung dem „Idealen, dem Intentionalen der Schöpfung“, dem „Leitbild“ zuzurechnen ist. Das schließt nicht aus, dass es Menschen gibt, die von ihrer Prägung her nicht oder nur schwer nach diesem Leitbild leben können. „Die Urgeschichte vermittelt in ihrer Gesamtanlage die Botschaft, dass diese Spannung zwischen Leitbild und erlebter Wirklichkeit im jetzigen Äon nicht aufgelöst werden kann – in keine der beiden Richtungen: Weder dürfen wir die Betroffenen marginalisieren, noch können solche Abweichungen aus biblischer Sicht einfach als neue Form von Normalität gelten“ (20).
Dem kann man zustimmen, aber damit sind weder die sich für Christen und christliche Gemeinden wie auch die Öffentlichkeit insgesamt ergebenden Fragen geklärt, wie diese von „der Normalität“ abweichenden Formen gelebter Sexualität zu bewerten und zu gestalten sind. Einigkeit herrscht in der Öffentlichkeit fast nur noch darin, dass die Pädophilie – eine nach Ansicht der meisten Experten unheilbare Veranlagung, oft verursacht durch sexuellen Missbrauch in der Kindheit und Jugend – heute (im Gegensatz zur Antike) moralisch und rechtlich nicht geduldet werden kann. Bei anderen moralisch problematischen Gestaltungen der Sexualität unter Erwachsenen enthält man sich weitgehend ethischer Bewertungen, wenigstens soweit sie einvernehmlich praktiziert werden.
Steinberg stellt als Form einer Gestaltung der Sexualität das „Hohelied Salomos“ vor (25–29), das insgesamt „aus der Perspektive der Frau heraus formuliert“ ist (27). Leider nimmt er keinen Bezug auf Hos 2 und Mal 2,10ff, wo die Ehe zwischen Mann und Frau in Beziehung gesetzt wird zum Bund Gottes mit Israel, so wie in Eph 5,25ff zum Verhältnis von Christus und der Gemeinde Christi (vgl. dazu Raedel, 140ff). Damit wird die für Christen entscheidende Frage gestellt, ob, wie und wodurch sich die Bewertung sexueller Praktiken und Lebensformen in der Öffentlichkeit einerseits und in den christlichen Gemeinden andererseits unterscheiden. Diese Frage wirft insbesondere der umfassende Beitrag des Neutestamentlers Roland Deines auf („Leiblichkeit und Sexualität im Neuen Testament“, 35–85). Er stellt auf dem Hintergrund der vielfältigen Formen von Sexualität in der heidnischen Antike (Pädophilie, Prostitution u. a.) vor allem die sich damit auseinandersetzende Sicht des Apostels Paulus dar. Für ihn ist der „Leib […] Träger der von Gott gegebenen Identität“ und „Ort der Gottesbegegnung“ (69f). Die „Unzucht“ (porneia) betrifft nicht nur das „Fleisch“ (sarx), sondern vor allem den „Leib“ (soma) und damit die Gottesbeziehung. Es stellt sich daher die Frage, wie sich die Christen heute zur sexuellen Vielfalt in unserer Gesellschaft verhalten sollen (vgl. dazu den Beitrag von Oliver O’Donovan, „Schöpfung und Ehe“, 157ff).
Christoph Raedel behandelt in seinem Beitrag „Geschlechtsidentität und Geschlechterrollen“ (119–155) ausgehend von der Frage nach der personalen Identität der Person wesentliche theologische und anthropologische Fragen der Geschlechtsidentität. Die Philosophie hat seit der Aufklärung die Identität der Person ohne Bezug zu Gott allein aus dem Selbstbewusstsein des Menschen und ohne Bezugnahme auf die Leiblichkeit des Menschen begründet. Der Mensch ist dann der Schöpfer seiner eigenen Identität. Nach den neuen Gendertheorien konstruiert der Mensch „ein Geschlechtsbewusstsein unter vollständiger Absehung von der anatomischen Geschlechtlichkeit“ (123). Das besagt auch, dass die personale Seinsweise und Identität nicht mehr in ihren Beziehungen zu Gott und anderen Menschen besteht sondern im Selbstbezug und der Selbstgestaltung des Lebens, so dass der Mensch zum Schöpfer seiner selbst wird und Gottes und letztlich auch des Anderen nicht mehr bedarf. Damit entfällt die Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf und zwischen von Gott vorgegebener Schöpfung und Selbstgestaltung des Lebens und mit ihr die von Gott in seiner Schöpfung vorgegebene „dialogische Polarität von Mann und Frau“, die die „Grundgestalt aller weiteren sozialen Anerkennungsverhältnisse zwischen Menschen“ ist (130). Diese von Gottes Schöpfung vorgegebene Gestalt des Lebens ist kein Festgelegtsein, es ist eine Gabe Gottes, in die der Mensch hineinwachsen muss, um seine geschlechtliche Identität in ihr zu finden und zu gestalten. Die „Geschlechtsidentität bewegt sich zwischen den Polen Konstitution und Konstruktion, theologisch ausgedrückt: zwischen Gabe und Gestaltung“ (146). Die Gabe ist mithin heilsame Ordnung Gottes, innerhalb welcher der Mensch zur Gestaltung seiner sexuellen Beziehungen aufgerufen ist. „Es ist daher weder schrift- noch wirklichkeitsgemäß, Abweichungen von der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit theologisch normalisieren zu wollen“, aber „empirisch aufweisbare Abweichungen davon sollten […] nicht als Beleg einer irgendwie besonderen Sündhaftigkeit gelesen werden“ (134). Die Sünde kann man dann mit Søren Kierkegaard darin sehen, dass der Mensch verzweifelt versucht, die ihm „von Gott bestimmte Identität“ oder eine andere Identität zu realisieren, aber daran scheitert. „Überwunden wird die Verzweiflung, wenn der Mensch das Selbst sein willals das ihn Gott gesetzt hat und er darin sowohl bejaht, dass er von Gott gesetzt ist als auch wie er von Gott gesetzt ist“ (136). Wenn ihm dennoch eine entsprechende Gestaltung seines Lebens nicht gelingt, dann sollte ihm gemäß der reformatorischen Unterscheidung von Person und Werk, Sünder und Sünde auch in der christlichen Gemeinde die Anerkennung als Person und ihrer Würde nicht vorenthalten werden (134).
Diese grundlegenden Überlegungen von Raedel stellen auch eine theologisch-ethische Orientierung für einen einfühlsamen seelsorgerlichen Umgang mit Menschen dar, die ihre geschlechtliche Identität nicht in einer heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit leben können. Dabei muss man sich aber bewusst sein, dass die Unterscheidung zwischen einer Achtung der Person und einer ethischen Beurteilung ihrer geschlechtlichen Lebensweise eine nicht leichte Gradwanderung ist und die von der heterosexuellen Ehe abweichenden unterschiedlichen sexuellen Lebensweisen (neben homosexuellen auch bisexuelle, polyamore u. a.) einer gesonderten ethischen Bewertung im Vergleich zu heterosexuellen Ehe bedürfen. Diese Problematik wird aber letztlich auch nicht dadurch gelöst, dass man entsprechend der Neufassung des Artikels 6 des Grundgesetzes homosexuelle Partnerschaften der Ehe von Frau und Mann gleichstellt und deshalb auch kirchlich „traut“. An diesem Punkt hätte man sich noch weitere klärende Ausführungen gewünscht. Es ist aber sehr zu begrüßen, dass in diesem Sammelband eine solide kritische Auseinandersetzung mit maßgeblich von der Gendertheorie bestimmten Veröffentlichungen (auch der ev. Kirchen) stattfindet.
Auf den interessanten Beitrag von Ulrike Treusch über die „Geschlechterverhältnisse in der Erweckungs- und Missionsgeschichte des 19. Jahrhunderts“ (88–118) und den sozialethisch und -politisch wesentlichen Beitrag der Juristin Anne Lenze „Zur Diskriminierung von Familien in deutschen Sicherungssystemen“ (199–209) sei hier nur verwiesen.
Prof. Dr. Ulrich Eibach, Pfarrer i.R., apl. Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.