Altes Testament

Notger Slenczka: Vom Alten Testament und vom Neuen

Notger Slenczka: Vom Alten Testament und vom Neuen. Beiträge zur Neuvermessung ihres Verhältnisses, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2017, 506 S., € 44,–, ISBN 978-3-374-04942-4

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Die Zitate am Anfang lassen erahnen, welche Dimension die Debatte um „Slenczkas Position(en)“ für den Betroffenen hatte. Sie ist nicht „spurlos“ an ihm vorbei gegangen: „Häufig lässt es die göttliche Vorsehung zu, dass durch mancherlei stürmischen Aufruhr, der von fleischlich gesinnten Menschen betrieben wird, auch gute Männer aus der christlichen Gemeinschaft ausgestoßen werden. Diese Schande und das ihnen angetane Unrecht sollen sie um des Friedens der Kirche willen mit höchster Geduld tragen“ (5).

Die Debatte und ihr Verlauf verdienen dabei ein aufmerksames Studium. Das Buch ermöglicht einen einfachen und gewinnbringenden Zugang zu Slenczkas Perspektive. Die bereits veröffentlichten Aufsätze werden unverändert abgedruckt, was vor allem der Dokumentation dient. Dazu zählen:

  • „Der Auslöser der Debatte: Die Kirche und das Alte Testament“ (49–84),
  • „Intertextualität und Multiperspektivität – und der Sinn des Alten Testaments“ (233–249),
  • „,Lob der Religion als eines bildenden Sprachgeistes.‘ Theologische Implikationen der Hermeneutik Schleiermachers“ (277–290) plus einem Nachwort (291),
  • „Was soll die These: Das Alte Testament hat in der Kirche keine kanonische Geltung?“ (295–310),
  • „Zur gegenwärtigen Debatte um das Alte Testament“ (311–325),
  • „Was ist das ‚Neue‘ am ‚Neuen Testament‘ und am Christentum?“ (326–330),
  • „Die Predigt über das Alte Testament“ (331–336),
  • „Wege, Holzwege und Abwege im Umgang mit den Landverheißungen“ (422–437),
  • (in Teilen) „Die trennende Kraft einer gemeinsamen Tradition“ (438–463) sowie
  • „Zur Verständigung über die Trinitätslehre im christlich-jüdischen Dialog“ (485–504).

Ergänzt werden diese Beiträge durch Einführungen oder kurzen einleitenden Bemerkungen wie

  • „Einleitung“ (in das gesamte Buch; 21–25),
  • „Einleitung: Eine facettenreiche Fragestellung“ (29–39),
  • „Hilfe für eilige Leserinnen und Leser zum Auslöser der Debatte“ (40–48).

Außerdem bereichern vertiefende Reflexionen, Reaktionen, Meditationen und Predigten diese Beiträge.

  • „Luther und das Alte Testament“ (217–232),
  • „Altes und neues. Bemerkungen zur Hermeneutik im Ausgang von Anfragen von Friedhelm Hartenstein“ (250–276),
  • „Meditationen und Predigten“ (337–417),
  • „,Rechtfertigungslehre‘ – Reformulierung im Licht des christlich-jüdischen Dialogs“ (464–484),
  • „Epilog“ (505–506).

Slenczka unterscheidet in seiner Zusammenstellung und Anordnung einen fachwissenschaftlichen Teil (29–292), allgemeinverständliche Darstellungen (293–336), Meditationen und Predigten (337–418) und „Beiträge zur christlichen Verständigung über das Verhältnis zum Judentum“ (419–504). Wahrscheinlich kann man den bislang unveröffentlichten Beitrag „Klarstellungen, Vertiefungen und Erläuterungen – das Alte Testament und die Kirchen“ (85–216) als ein Kernstück des vorliegenden Buches beschreiben.

Mit dieser Zusammenstellung gelingt es Slenczka die Debatte darzustellen und insbesondere durch seine Reaktionen in den ergänzenden Beiträgen und kürzeren Bemerkungen sowie durch seine Predigten und Meditationen wichtige Aspekte nachvollziehbar zu präsentieren. Bei alledem legt er großen Wert sowohl auf seine grundsätzliche Lern- und Korrekturbereitschaft als auch darauf, dass er bisher keine zwingenden Grund gefunden hat, seine „Position wesentlich zu revidieren“ (23). Slenczkas „Frage ist nun einfach diese: Was geschieht und welche Folgen hat es, wenn die protestantischen Kirchen und Theologen, … diese Überzeugung, dass auch das Alte Testament das Evangelium von Jesus Christus verkündigt, aufgeben und unter dem Vorzeichen der Kanonizität von einer Verbindlichkeit des Alten Testaments sprechen…“ (159). Die Frage der Kanonizität alttestamentlicher Texte wird damit ebenso thematisiert wie hermeneutische Herausforderungen, die damit verbunden sind. Slenczka spricht von einem klaren „Über- und Unterordnungsverhältnis“ von AT und NT, denn die Autorität alttestamentlicher Texte steht „unter dem Vorbehalt des Christuszeugnisses des Neuen Testaments“ (23). Seine Position besteht darin, alttestamentliche Texte ähnlich zu behandeln wie es Luther für die apokryphe Schriften in Unterscheidung von kanonischen Texten vorschlug.

Eine kompakte Version wichtiger Aspekte seiner Position kann man beispielsweise auf S. 464ff finden oder aber eine allgemeinverständliche Darstellung auf S. 295–310. Im Zuge der Reflexion dieser (An-) Frage beleuchtet Slenczka von verschiedenen Seiten die Frage, was „neu“ am Neuen Testament ist – eine Frage, mit der Christen wohl nie „fertig“ werden. Dabei stehen in einer lutherischen Prägung – und nicht nur dort – wichtige Aspekte der verschiedenen sola im Blickpunkt des Interesses. Es geht Slenczka nicht in erster Linie um Moral oder menschliches Handeln (auch wenn die Rede vom Gewissen eine bedeutsame Rolle bei ihm spielt), sondern die Gotteserfahrung steht im Zentrum. Und wenn nun – so referiert und rezipiert der Verfasser – das AT nicht „mehr“ von Christus redet (wie es lange Zeit die Überzeugung war, nun aber nicht aber als Mehrheitsmeinung gelten kann), dann sind alttestamentliche Texte nicht von derselben normativen oder kanonischen Qualität wie neutestamentliche: „Die Neubestimmung der Gotteserfahrung formuliert das Neue Testament, das in diesem Sinne die Relektüre des Alten Testaments und der vor- und außerchristlichen Gotteserfahrung unter dem Eindruck der Neubestimmung Gottes in der Begegnung mit Jesus von Nazareth ist“ (504). Außerdem setzt er sich mit weit verbreiteten Überzeugungen hinsichtlich Israels auseinander. Unter Verweis auf Marquardt kritisiert er beispielsweise, „dass genau diese Selbstintegration in den Israelbund eine geradezu unglaubliche Anmaßung und Zumutung gegenüber dem jüdischen Volk und dem Selbstverständnis seiner Sonderexistenz bedeutet – die Leugnung eben dieser Sonderexistenz“ (454). Er will also Israel „stehen lassen“ und es nicht einfach in (s)eine „theologische Welt“ im Zuge einer Deutungshoheit einbauen.

Mit der Dokumentation und den einführenden Bemerkungen werden nicht nur Slenczkas Argumentationen nachvollziehbar, sondern auch viele Aspekte der „Auseinandersetzung“ mit ihm und seinen Thesen. Diese Nachvollziehbarkeit ist dabei m. E. ein hoher Wert und ein Kennzeichen wissenschaftlicher Debatten. Das mögen manche in der Hitze des Gefechtes vergessen haben. Vieles provoziert bei Slenczka. Das ist sicherlich so. Aber er ringt – nach allem, was man sagen kann – aufrichtig um eine angemessene Beschreibung des Verhältnisses von Judentum und Christentum, der beiden Traditionen und deren Umgang mit dem AT:

„Dieses Verhältnis von Einheit und Differenz formuliert die christliche Trinitätslehre in unüberbietbar offener Ehrlichkeit – und ich persönlich halte offene Ehrlichkeit für eine Tugend, die das zwischenmenschliche Miteinander nicht nur erleichtert, sondern allererst ermöglicht“ (503).

Dem stimme ich uneingeschränkt zu. Differenz ist wichtig und keine Gefahr für ein gutes Miteinander. Slenczka mag zu Recht die Frage aufwerfen, warum „identitätsstiftende Differenzerzählungen“ (261) nicht geschätzt, sondern dekonstruiert und delegitimiert werden. Differenz ist kein Problem, religiöser Pluralismus ist „nämlich nicht das Zusammenleben des Kompatiblen, sondern das friedliche Zusammenleben unvereinbarer Überzeugungen“ (460). Es lohnt sich dieser Erinnerung nachzudenken, auch und gerade für die vorliegende Debatte.

Slenczkas Argumentationen werfen viele Fragen auf. Alleine deswegen lohnt es sich, dieses Buch zu studieren. Egal, ob man sich nun der Position Slenczaks (teilweise) anschließt oder nicht. Er ist ein wertvoller und ernst zu nehmender Gesprächspartner. In diesem Sinne sind auch die folgenden Gedanken und Fragen zu verstehen. Liegt bei Slenczka nicht vielfach eine weichenstellende – und ich würde meinen irreführende – Voraussetzung vor, als ob von einem „Neuen“, seinem Wesen und die Unterscheidung vom Alten nur vom Neuen her gedacht und gesprochen werden kann? Wenn allerdings alttestamentliche Texte immer wieder darauf hinweisen, dass (noch einmal) etwas Neues geschehen muss und wird, begreifen sie das Neue auf irgendeine Art und Weise als Fortsetzung des Alten. Wenigstens kann das Neue dann nicht ausschließlich und auch nicht primär vom Widerspruch oder von der Diskontinuität her gedacht werden. Das gilt insbesondere dann, wenn im AT selbst manche Veränderungen in theologischer Hinsicht dokumentiert werden. Immer wieder hatte ich bei der Lektüre den Eindruck, dass für Slenczka das AT in seiner (sprachlichen) Form für das NT relevant ist, aber das praktisch keine inhaltlichen Auswirkungen für neutestamentliche Schriften hat. „Es geht um die Aufmerksamkeit auf die Neustrukturierung eines Sprachraums, der sich mit der Verkündigung Jesu als des Christus vollzieht“ (291). Als ob man Form von Inhalt so einfach trennen könnte. Das hat Slenczka nicht behauptet und würde es wohl nie tun. Seine Position scheint das aber bisweilen nahezulegen.

Warum muss die Rechtfertigungslehre einen Widerspruch zwischen dem Glauben an Jesus Christus und dem Werk des Gesetzes voraussetzen? Das wird bei ihm zur Folie für die gesamte Kirchengeschichte (466). Aber ist das sowohl exegetisch wie auch systematisch-theologisch zwingend? Als Alttestamentler würde ich vor allem fragen: Ist das den alttestamentlichen Quellen angemessen? In der Auslegungsgeschichte war es die Regel: Aber kann man noch andere Weg denken und gehen? Damit wird – meiner Ansicht nach – eine Schwäche der Position Slenczkas deutlich. Es entsteht der Eindruck, dass es neben dem spannungsreichen Ist-Zustand und Slenczkas Reaktion keinen dritten (oder vielleicht vierten) Weg gibt. Vielleicht ist es aber auch schlicht die Einladung, seine Argumentation mit ihren Voraussetzungen und Folgen aufmerksam wahrzunehmen und andere Wege aufzuzeigen.

Slenczkas Ausführungen zur Normativität (125ff) sind ein wichtiger Aspekt seiner Position. Er schlussfolgert: „Vielmehr hängt die Kanonizität der Schrift nach protestantischem Verständnis daran, dass die Schrift Jesus von Nazareth so verkündigt, dass diese Person für den Leser bzw. den Hörer zum Lebensgrund werden. Die Kanonizität der Schrift hängt also an der ihr unterstellten performativen Intention, die sich ausschließlich im Kontakt mit ihr erschließt: indem man sie liest und von dieser Intention (dem Evangelium) erfasst wird“ (138). Dabei lehnt er „die Normfunktion der Schrift“ als „Vermitteln gegenständlich wahrer Einsichten und propositionaler Wahrheitsansprüche“ ab (137). Auch hier gilt: ist dies ein angemessenes Entweder-oder? Sollte eine performative Intention dieses ausschließen? Oder kann man normative Ansprüche auch noch anders beschreiben, als sie auf „gegenständlich wahre Einsichten“ oder „propositionale Wahrheitsansprüche“ zu reduzieren?

Die Differenz zwischen dem Neuen und dem Alten bestimmt Slenczka wesentlich von der Gotteserfahrung her. Er betont die Umdeutung – ich frage mich dabei, wie man dann mit Hebr 1,1–2a umgehen kann und soll. Dieser neutestamentliche Verfasser fasst wohl beides unter dem einen Gedanken des Redens Gottes zusammen. Bei aller Differenz, die in Hebr 1,1–4 auch deutlich wird, scheint Kontinuität das tragende Element dieser Ausführungen. Wie würden sich manche Gedankengänge gestalten, wenn man Paulusbriefe oder Luthers Überzeugungen von diesen Versen her versteht?

Beachtenswert sind auch Slenczkas Gedanken zum Predigen über alttestamentliche Texte. Er legt dabei nicht nur seine Praxis offen, sondern betont auch, dass er gerne über diese Texte predigt. Dabei scheint ihm eines besonders wichtig zu sein, nämlich diese Texte „entspannt und angemessen und ohne Übergriffigkeiten“ zu predigen (25). Hier finde ich mich uneingeschränkt wieder. Allerdings wirft das die Fragen nach der Angemessenheit und Übergriffigkeiten auf. Wie werden hier die Kriterien ausgewählt, um dies zu bestimmen? Welches sind sie? Slenczka würde wohl christologische Kriterien anführen, was aber sicherlich noch zu spezifizieren wäre.

Die Dynamik der Debatte um Slenczkas These zu bedenken ist vielleicht ebenso lehrreich wie die inhaltlichen Thesen zu reflektieren. „Die Zeiten, in denen den aus welchen Gründen auch immer unliebsamen Positionen der Häretikerprozess gemacht wird, sind auch in der protestantischen Theologie und in den evangelischen Kirchen eine Vergangenheit,“ resümiert Slenczka im Vorwort. Dies sollte alle aufrütteln, die sich auf die Fragestellung und die Debatte einlassen. Und so ist Slenczka für seine Konsequenz, seine Lernbereitschaf und seine Klarheit zu danken. Und ich stimme ihm uneingeschränkt zu: „Falls mein Beitrag auch sonst zu gar nichts gut sein sollte (was ich nicht glaube), dann sollte er doch wenigstens ein Anlass sein, dass die Kirchen nicht nur auf der Leerformel einer ,Kanonizität des Alten Testaments‘ bestehen, sondern Auskunft darüber geben, was sie sich unter der Kanonizität, das heißt: unter der in den Grundordnungen festgeschriebenen Bindung an die Schrift vorstellen“ (35). Der Wert von Slenczkas Position besteht schließlich nicht zuletzt darin, dass er manches zu Ende denkt, querdenkt und von einer anderen Seite her beleuchtet als viele es tun. An manchen Stellen kann man davon sprechen, dass er manchen Positionen „einfach“ einen Spiegel vorhält. Das ist sicherlich nicht immer angenehm. Das kann aber im akademischen Diskurs kaum als Schwäche gewertet werden. Nicht zuletzt ist es meines Erachtens ein grundlegender Wert wissenschaftlicher Arbeit. Nach meinem Eindruck geschieht diese Auseinandersetzung auch in und aufgrund einer Sorge um den Protestantismus, den Slenczka in einer tiefen Krise sieht (325). Slenczkas Nachdenken scheint dabei von dem Anliegen getragen, etwas konsequent und nachvollziehbar zu bedenken und darzustellen (vgl. auch seine Bemerkungen mit rezeptionshermeneutischen Ansätzen auf S. 33). Dies ist sicherlich sehr wichtig und hilfreich und eine besondere Stärke seiner Position. Vielleicht aber auch eine Schwäche, weil vieles in ein „System“ passen „muss“. Aber vielleicht gibt es das eine ohne das andere nicht. Wie so oft im (theologischen) Leben.

Zuletzt, der Wert akademischer Arbeit bestimmt sich vielleicht weniger durch den Applaus oder die Zustimmung, die man erhält. Vielmehr ist Differenz nötig, um wichtige Aspekte einer Fragestellung differenziert und angemessen zu beleuchten. Egal, wie man sich zu Slenczkas Position verortet, dies ist ihm gelungen. Dafür ist ihm ausdrücklich zu danken.

 

Heiko Wenzel, Ph.D. (Wheaton College), Professor für Altes Testament an der FTH Gießen

 

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