Andreas Mauz: Machtworte
Andreas Mauz: Machtworte. Studien zur Poetik des „heiligen Textes“, Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 70, Tübingen: Mohr Siebeck, 2017, xiii+344 S., € 134,–, ISBN 978-3-16-154193-3
Andreas Mauz stellt sich der spannenden Aufgabe, eine Poetik heiliger Texte zu beschreiben. Die Frage nach der Beziehung dieser Texte zu einer außersprachlichen Lebenswelt sowie die Berechtigung der damit verbundenen Ansprüche untersucht er nicht. Ebenso wenig beschäftigt er sich mit Individuen oder Gemeinschaften, für die diese Texte eine Relevanz entfaltet haben oder entfalten: „Die paraphrasierten Texte werden programmatisch als das wahr- und ernst genommen, was sie zunächst einmal sind: Erzählungen von Offenbarungsereignissen, narrative Darstellungen, die davon handeln, wie eine bestimmte Person zur Vermittlung einer ‚höheren Wahrheit‘ in Anspruch genommen wird“ (2–3). Dabei nähert er sich „heiligen Texten“ in einem ersten begriffsorientierten Abschnitt auf religionswissenschaftliche Weise (11–50), um danach genauer zu bestimmen, was sie aus poetologischer Sicht ausmacht. Hier stellt er mit einer „Erzählgrammatik der Offenbarung“ vor, was seine Analyse der Texte wesentlich bestimmt (51–73). Schließlich geht es ihm in erster Linie um eine Textanalyse nicht um eine Textinterpretation (vgl. 110). Diese Erzählgrammatik verortet Mauz dann in einem weiteren Abschnitt im Verhältnis zu Beiträgen aus der Literaturwissenschaft (73–111). Unter der Überschrift „Die Poetik des ‚heiligen Textes‘ im theologischen Horizont“ wird diese Poetik ins Verhältnis zu Exegese und Dogmatik gestellt und auf ihr Potential hin untersucht (113–166). Daran schließen sich sechs Studien an, welche die Erzählgrammatik anwenden und immer wieder um theoretische Überlegungen ergänzen und sie präzisieren (167–278). Im abschließenden Kapitel fasst er die Untersuchungen zusammen und gibt einen Ausblick auf Fragen, die sich an seine Ausführungen anschließen (279–290). Das Glossar (291–300) ist sehr hilfreich bei der Lektüre des gesamten Buches, nicht zuletzt weil es als komprimierte Zusammenschau wichtiger Aspekte und vielfältiger Differenzierungen gelesen werden kann.
In der vorliegenden Arbeit sind Texte insofern „heilig“ als sie das von sich behaupten. Diese narrative Herangehensweise versucht wesentliche Gemeinsamkeiten verschiedener Texte und ihre Differenzen angemessen zu beschreiben. Sie sprechen von einem menschlichen Kontakt mit einer übermenschlichen Instanz (1–2), welcher der Übermittlung von entsprechendem Wissen dient, verschriftlicht wird bzw. wurde und nun als Text vorliegt. Mauz unterscheidet dabei heiligende Texte, die geheiligte Texte als solche beschreiben. Den Begriff ‚heiliger Text‘ reserviert er für die „material-mediale Einheit eines heiligenden und eines geheiligten Textes“ (291). Die einfachen Anführungszeichen markieren dabei die in der vorliegenden Arbeit beschriebene Gattung in Unterscheidung von „heiligen Texten“ und „heiligen Schriften“. Die Konzentration auf das „Phänomen des Schreibens erlaubt es aber insbesondere, präziser zu formulieren, was der heiligende Text zu leisten hat“ (107). Seine sechs Studien gehen auf Hildegard Liber Scivias (1141-1151), Vassula Ryden The True Life in God (1986ff), Joseph Smith Das Buch Mormon (1830), Jeremia 36, Offenbarung des Johannes (v. a. Kap. 1) und Silvia Wallimann Mit Engeln beten (1991) ein. So kann er seine Erzählgrammatik und sein Erkenntnisinteresse auf eine vielfältige Auswahl von Texten mit ihren chronologischen und kulturellen Unterschieden anwenden.
Besonders wertvoll erscheint mir die literaturwissenschaftliche Beschreibung der untersuchten Texte, die großen Wert auf eine angemessene Differenzierung legt und sich durch eine aufmerksame Lektüre auszeichnet. Diese mündet beispielsweise in der Rede von einer primären, sekundären und tertiären Schriftlichkeit (281–284). Im ersten Fall betritt das Offenbarte bereits in schriftlicher Form die Bühne, im zweiten Fall ist es mehr oder minder unabhängig von der Schriftform und wird „sekundär“ verschriftlicht. Bei tertiärer Schriftlichkeit vollzieht sich die Verschriftlichung nicht im Rahmen des Offenbarungsereignisses (= sekundär), sondern danach (vgl. Wallimanns Mit Engeln beten).
Mauz’ Rede von „heiligen Texten“ hat dabei einen heuristischen Wert, der manche Selbstverständlichkeit im Umgang mit „heiligen Texten oder Schriften“ aufgrund und mit der Herangehensweise aufbricht. Er erweitert damit auch die Textauswahl und hinterfragt vertraute Kontexte und eingefahrene Deutungsmuster oder – wie es er formuliert – sie werden „distanziert“: „Und erst diese Distanzierung erlaubt es, die genannte Gemeinsamkeit und die teils erheblichen Differenzen innerhalb ihrer zu erkennen“ (52). Das Projekt ist heuristisch wertvoll, phänomenologisch und hermeneutisch sehr spannend und stellt viele beachtenswerte Beobachtungen zusammen. Die Lektüre schärft den Blick und regt zur Reflexion sowie zur Diskussion an.
Kritik zu äußern erscheint „leicht“, weil bei aller Kompetenz das Anliegen des Verfassers ambitioniert ist. Nicht zuletzt fördert Mauz’ Untersuchung die Wahrheit einer platten Aussage zutage: in der größten Stärke liegt immer auch eine wesentliche Schwäche. Die Auswahl der Studien steht nicht nur in der Gefahr, im Sinne der Aussage „sie fanden was sie suchten“ wahrgenommen zu werden. Vielmehr wird durch ihre Zusammenstellung und deren vergleichende Untersuchung ein neuer literarischer Kontext geschaffen, der in Konkurrenz zu den jeweils vorgegebenen steht und praktisch diesem (wohl) vor- und übergeordnet wird. Dies lässt sich dabei kaum auf den literarischen Kontext begrenzen. Das lässt sich bei der von Mauz gewählten Vorgehensweise letztendlich nicht vermeiden und ist – wie gesagt – eine ausgewiesene Stärke seiner Arbeit. Ich meine aber, dass die damit einhergehende Schwäche auch diskutiert werden sollte.
Der Vergleich dieser verschiedenen Texte berücksichtigt m. E. auch nicht ausreichend die explizite Verknüpfung mancher Texte. Hildegard, Ryden und Smith beziehen sich jeweils auf die Bibel und beschreiben damit auch den Kontext, nicht zuletzt den literarischen Kontext, in dem sie gelesen werden wollen.
In Weiterführung der Untersuchung legen sich meines Erachtens einige Frage nahe. Angesichts der Bedeutung der heiligenden Texte in der Beschreibung von Mauz muss man sie in gewisser Weise auch als Machtworte begreifen (vgl. 288), nicht nur die geheiligten Texte. Gilt dann auch für sie die „Schwäche“ von Machtworten (289–290)? Wenn ja, muss dann nicht noch einmal bedacht werden, ob Mauz ihre Voraussetzung (und ihre Funktion) angemessen bestimmt, nämlich dass „Wahrheiten, etwa diejenige eines Inspirations- und Offenbarungsereignisses, rational andemonstriert werden können“ (287). Außerdem halte ich es für bedenkenswert, warum sich im Alten wie im Neuen Testament so wenig heiligende Texte finden. Welche hermeneutischen, exegetischen und theologischen Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Mauz’ wertvolle Arbeit beschreibt eben nicht nur aufmerksam und präzise viele Phänomene, sondern regt zum Weiterdenken an. Dafür ist ihm ausdrücklich zu danken.
Heiko Wenzel, Ph.D. (Wheaton College), Professor für Altes Testament an der FTH Gießen
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