Thorsten Dietz: Sünde
Thorsten Dietz: Sünde. Was Menschen heute von Gott trennt, Witten: SCM R. Brockhaus, 2016, geb., 220 S., € 16,95, ISBN 978-3-417-26784-6
Thorsten Dietz ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg. Er studierte Theologie in Münster, Tübingen und Marburg (wo er promovierte und sich habilitierte). Sein Buch über Sünde schrieb er „in erster Linie für Christen“ (5); denn mitunter spüren Christen, dass sie das Thema Sünde „nicht mehr gut erklären können“ (5). Dabei vermisse ich in seinem Buch allerdings eine Zusammenfassung, d.h. die vielen angeschnittenen Einzelaspekte werden nicht gebündelt zu zentralen Antworten, die der christliche Leser nun aufgreifen könnte für Gespräche mit Andersdenkenden, etwa über die Frage „Was Menschen heute von Gott trennt“ (so der Untertitel). Der Hauptteil des Buches besteht aus sieben Kapiteln (3 bis 9), in denen Dietz sieben Zugänge zum Sündhaften darlegt und diese überschreibt mit: blind, hart, süchtig, selbstlos, reich, sicher und träge, laut Dietz „sieben neue Sünden, neu im Sinne von neu verstanden“ (7). Diese „sieben Sünden“ behandelt Dietz nacheinander, ohne sie in ein Konzept einzuordnen (wie es in einer Einleitung oder einer Zusammenfassung geschehen könnte). Immerhin einen Ansatz zu einer solchen Zusammenschau bietet Dietz in seiner „Zwischenbetrachtung“ (131f). Leider gibt es auch kein Sach- oder Bibelstellenregister.
Der Stil des Werks ist allgemeinverständlich, mitunter salopp, etwa: „wir alle wissen, dass man sich nie und nimmer im Nachhinein dadurch rausreden kann, dass man doch nichts für seine eigene Müdigkeit könne“ (46), oder: „Na klar, man kann mit einem Smartphone Nägel in die Wand schlagen“ (47). Dennoch, und trotz kurzer Sätze, ist das Nachvollziehen der Gedankengänge oft anspruchsvoll; mitunter wird die Geduld des Lesers auf die Probe gestellt, indem Dietz zuerst eine gute Frage darlegt und den (manchmal vergeblich) auf eine Antwort Wartenden auf eine Umleitung über diverse Zitate aus Filmen führt.
Als Beispiel dafür, wie Dietz sich mit Andeutungen – anstelle von nachvollziehbaren Antworten – begnügt, zitiere ich den letzten Absatz des Buches: „Alles kommt zu seinem Ende. Auch die Sünde. Das ist ein Glaubenssatz. Ein Satz, der mehr verspricht, als unsere alltägliche Lebenserfahrung beglaubigen kann. Es ist der Satz von Menschen, die bei diesem Jesus von Nazareth auf eine Spur gestoßen sind. Eine Spur, die nach draußen führt, raus aus dem Ozean menschlicher Sünde und Verlorenheit. Heraus aus aller Verstrickung, heraus aus den Gräbern der Verzweiflung, heraus aus dem Tod. Es ist nur eine Spur, aber sie ist ein Versprechen auf mehr, auf Neues und Ungeheures, und genau so etwas suche ich als Entdeckungsreisender …“ (210). Ich meine aber, dass Gott uns durch seine biblische Offenbarung weit mehr gibt als nur eine Spur als Anhaltspunkt bei der weiteren Suche.
Eine besondere Stärke von Dietz liegt in seiner großen Vertrautheit mit der modernen Kultur. Er verweist auf Filme und Literatur, um bestimmte Ansichten und Empfindungen moderner Menschen zu veranschaulichen. So zitiert er z. B. aus dem Gedicht „Menschen getroffen“, das Gottfried Benn am Ende seines Lebens schrieb, folgenden Satz: „Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden, woher das Sanfte und das Gute kommt, weiß es auch heute nicht und muss nun gehen“ (203). Solche Bezüge zur modernen Kultur könnten eine Brücke schlagen für das Gespräch mit Menschen, die keine Christen sind. Solche Bezüge stimmen teilweise mit biblischen Einsichten überein, sie weisen jedoch oft in andere Richtungen, etwa in eine esoterische. So beispielsweise im letzten Unterkapitel, überschrieben mit „Erlösung“ (208–210). Den letzten Absatz dieses Unterkapitels zitierte ich bereits oben. Bibelzitate gibt es in diesem Unterkapitel nicht, aber sechs Zitate aus einem Gespräch zwischen Frodo und Sam (aus „Herr der Ringe“), mit Hoffnungen wie der folgenden: „Ein neuer Tag wird kommen und wenn die Sonne scheint, wird sie umso heller scheinen“ (209). Das klingt eher nach einer allgemein-menschlichen Hoffnung als nach der christlichen. Dietz verweist auf die Evangelien, die seines Erachtens eine Geschichte erzählen, die Bedeutung/Sinn hat: „Woher kommt ein solcher Sinn? Offenbar aus der Begegnung mit etwas, was sich abhebt von allem einerlei“ (210). Geht es nur um eine „Begegnung mit etwas“, oder um eine Begegnung mit einer Person, mit Gott selbst?
An manchen Stellen erscheint mir das Buch nicht ganz ausgereift, etwa wenn Dietz schreibt: „Es gehört zu den grundlegenden Einsichten moderner Theologie, dass Sünde nur im Lichte ihrer Überwindung in den Blick geraten kann“ (47). Dann aber scheint Dietz selbst dieser Einsicht zu widersprechen – leider nur in einer Anmerkung („Endnote“) am Ende des Buches: „Wie will man Sünde von der Vergebung her beschreiben, ohne beim Thema Vergebung einen vorläufigen Begriff dessen zu haben, was vergeben werden soll?“ (213).
Dietz konzentriert sich bei der Betrachtung von Sünde auf den menschlichen Bereich; Sünde ist für ihn „die große Verkehrung unseres Lebens“, woraus folgt: „So verfehlen wir Gott, indem wir uns selbst verfehlen“ (131). Wenn Begriffe wie „Gott“ oder „Nachfolge“ auftauchen, dann nur kurz (z. B. 190), denn Dietz widmet sich vor allem der Entfaltung des individuellen Potentials und der Verbesserung des sozialen Miteinanders. Er bringt Tipps zur Lebensveränderung, woran sich Hoffnungen knüpfen wie: „Vielleicht werde ich ein wenig offener für die anderen“ (151). Sünde erscheint hier nur selten als schuldhafte Abwendung von Gott.
Mich beschäftigt beim Thema Sünde seit langem die Frage, wie einem Nichtchristen bewusst (gemacht) werden kann, (1) was Sünde mit ihm persönlich zu tun hat, (2) inwiefern seine Sünde so schwerwiegend ist, dass sie ihn von Gott trennt, und (3) dass zur Beseitigung dieser Sünde Jesus sterben musste (einen Antwortversuch präsentiere ich in meinem Buch Warum es gut ist, Christ zu werden. Was es bringt und was es kostet, Nürnberg: VTR, 2013, S. 36–56). Zum Aspekt (1) finde ich bei Dietz manche Anregungen, aber nicht zu den Aspekten (2) und (3).
Dietz versucht in seinem Buch, nichtchristlichen Zeitgenossen neue, für sie nachvollziehbare Zugänge zum Thema Sünde zu eröffnen, und zieht dabei Aussagen moderner Literatur und Filme heran. Ich finde in seinem Buch gute Fragen, originelle Ansätze, zahlreiche Andeutungen und Umschreibungen, aber keine komprimierte, auf die Bibel als göttliche Offenbarung gestützte Beleuchtung dieses wichtigen Themas.
Dr. Franz Graf-Stuhlhofer, BSc., Prof. für freikirchliche Theologie an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems
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