Systematische Theologie

Sven Grosse / Harald Seubert (Hg.): Radical Orthodoxy

Sven Grosse / Harald Seubert (Hg.): Radical Orthodoxy. Eine Herausforderung für Christentum und Theologie nach der Säkularisierung, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2017, Pb., 252 S., € 38,–, ISBN 978-3-374-04859-5

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Der vorliegende Sammelband beruht auf einer Tagung der Staatsunabhängigen Hochschule Basel am 6.12.2014. Die beiden Herausgeber sowie ein weiterer Autor (Gianfranco Schultz) lehren an der STH Basel, die sich einer an der Heiligen Schrift und der Reformation orientierten Theologie besonders verbunden weiß. Konferenz wie Sammelband wurden durch die Wahrnehmung einer teilweisen Nähe der eigenen Anliegen zu der bisher im deutschsprachigen Raum kaum bekannten, in Großbritannien aber zunehmend an Einfluss gewinnenden Denkschule motiviert. Da die anderen Publikationen von und über Autoren der „Radical Orthodoxy“ (RO) fast durchgängig in englischer Sprache verfasst sind, erleichtert der Sammelband den Zugang zu den Gedanken des Schulgründers John Milbank und seines Umfeldes erheblich. Milbank kommt dabei ebenso zu Wort wie Forscher unterschiedlicher fachlicher wie konfessioneller Provenienz einschließlich einer säkularistischen Perspektive (Achim Lohmar). Reformierte (Schultz), lutherische (Wannenwetsch, Grosse), katholische (von Wachter) und orthodoxe (Schneider) Theologen nehmen dabei Stellung zur bei aller Breite durchaus anglikanischen Position Milbanks.

Erste Grundgedanken der RO wurden formuliert in John Milbanks Werk Theology and Social Theory. Beyond Secular Reason, Oxford: Blackwell, 1990, 22006. In The Word Made Strange. Theology, Language, Culture, Oxford: Blackwell, 1997 erfolgte die Hinwendung zu Thomas von Aquins Ontologie. Catherine Pickstocks After Writing. On the Liturgical Consummation of Philosophy, Oxford: Blackwell, 1998 deckte den Zusammenhang von Ontologie und Doxologie auf. 1999 erschien der Sammelband John Milbank u. a. (Hg.), Radical Orthodoxy. A new theology, London: Routledge. Inzwischen ist mit dem Centre of Theology and Philosophy an der Universität Nottingham und dessen Open-Access-Zeitschrift Radical Orthodoxy: Theology, Philosophy, Politics (RO:TPP), mehreren Schriftenreihen und einem 2009 publizierten Reader die Präsenz in der Wissenschaft unübersehbar und institutionell greifbar geworden. Der Schüler- und Freundeskreis Milbanks forscht in unterschiedlichen Disziplinen.

Diese Organisationsstruktur entspricht dem Anliegen, die Theologie nicht in ein sozusagen sturmfreies Gebiet zurückzuziehen, sondern „eine allumfassende Vision zu entwickeln, in der eine neue belebte Theologie säkulare Inbesitznahmen sozusagen zurückfordert und sie aus einer reichen christlichen Perspektive verändert“ (86). Orthodox denkt man, weil man sich einem Christentum mit einem verbindlichen Glaubensbekenntnis zugehörig weiß. Radikal agiert man durch eine bewusste Rückkehr zu geistigen Wurzeln in der altkirchlichen und mittelalterlichen Theologie (13f). Auch wenn die Kerngruppe der RO aus dem hochkirchlichen Flügel der anglikanischen Kirche stammt, sieht man sich in ökumenischer Offenheit mit Theologen anderer Konfessionen verbunden, sofern sie die Kritik an Fehlentwicklungen der Moderne teilen (61, 82f).

Die RO fordert ein selbstbewusstes Auftreten der Theologie. Anspruchsvoll sagt die Theologie demnach etwas über alles, während die anderen Wissenschaften alles über etwas sagen (17, 219f). Kein Bereich der Gesellschaft kann sich demnach Gott entziehen (19). Sven Grosse präzisiert den von der RO rezipierten thomistischen Begriff der „analogia entis“ dahingehend, dass es sich um eine „analogia attributionis“ handele. Das kreatürliche Sein ist Sein, weil und indem es Anteil an Gottes Sein in Fülle hat (20). Schultz sieht eine Parallele zum Motto der reformierten Philosophie: „All life is religion“ (165). Es geht um den Universalanspruch des Glaubens in Konkurrenz zum Säkularismus.

Milbank grenzt sich von der Franziskanerschule der Spätscholastik ab, durch die anstelle einer seinshaften sowie rational einsichtigen Verbindung von Gott und Mensch eine einseitige Akzentuierung des Willens Gottes zustande kam (47f). An die Stelle von Realismus und Intellektualismus trat der Nominalismus und Voluntarismus. Dadurch kam es zu einer Trennung von Vernunft und Glaube, Philosophie und Theologie bzw. Immanenz und Transzendenz (75). Im Sinne Milbanks betont Adrian Pabst, dass die Immanenz immer schon von der Transzendenz durchdrungen sei (95).

Besonders verdienstvoll arbeitet die RO dort, wo sie gegen den geschichts- und wissenschaftsphilosophischen Mainstream mit guten Argumenten anläuft. So versucht Milbank, die vermeintliche Zäsur-Bedeutung Kants zu relativieren. Neben Kant gab es vorher Descartes und Spinoza bzw. bereits Arianer, Sozzinianer, Unitarier und nachher die französischen Romantiker. Alle sieht die RO verbunden in einem Nihilismus, der nichts davon wissen kann, wie die Dinge selbst sind (41f, 52f, 55). Den entscheidenden Einschnitt erkennt die RO im Ansatz des Johannes Duns Scotus, weil hier das Verhältnis von Gott und Mensch rein formal und nicht partizipatorisch definiert werde (81, 164). Der RO überwindet die Subjekt-Objekt-Spaltung bzw. die Isolierung einer der beiden Seiten durch Beziehung (164f, 220f).

Gegen die Behauptung eines irreversiblen Fortschritts der Geistesgeschichte greift die RO bewusst ältere Traditionsströme auf, verdeutlicht die Kontinuität miteinander ringender Alternativansätze, führt in einem Genealogie-Verfahren intellektuelle Stammbäume vor Augen. Dabei geht es weniger um Details als um Grundlinien, Charaktere, Funktionen (227f). Positive Aussagen sollen vor dem dunklen Hiíntergrund von Fehlentwicklungen an Plausibilität gewinnen (24). Vermeintlich überholte „Denkweisen der Patristik oder der Scholastik“ werden „unmittelbar in ein Gespräch mit leitenden Denkansätzen der Gegenwart“ gebracht (102).

Gegen die Tendenz zu Dualismus und Abstraktion in der Moderne betont die RO die Bedeutung des Sinnlich-Ästhetischen. Der Mensch kommt „immer bereits zu spät“, um Vernunft und Sinneserfahrung als Erkenntnisquelle voneinander trennen zu können (56). Ähnlich wie Oswald Bayer mit Blick auf Luther bezieht sich die RO auf Hamann, um den Widerfahrnis-Charakter theologischer Erkenntnis herauszustellen. Man kann sich nur auf das einlassen, „was einem geschieht“ (56f). Milbank fasst zusammen: „Alles wahre Denken ist daher gleichzeitig sowohl Kunst als auch Gebet“ (57).

Milbanks anglokatholische Ausrichtung artikuliert sich in seiner Abgrenzung gegenüber der Bibelkritik, aber auch gegenüber einer von der liturgisch-ekklesialen Verortung losgelösten Bibellektüre (59f). Die Erfahrung der wirksamen Präsenz Gottes geschieht durch die Partizipation an der Liturgie. Der theurgische Abstieg Gottes in das menschliche Herz „manifestiert sich zugleich als ein Akt liturgischen Lobpreises“ (50). Der Vorrang des Doxologischen (80), die ekklesiale Ontologie (77), geht im Ansatz der RO damit einher, die Hölle als „Weigerung zu feiern“ zu definieren, umgekehrt die „Erneuerung der Gabe“ und „Teilhabe am Göttlichen“ durch „die Rückkehr zur Festlichkeit“ zu erreichen (72). Die RO sieht gerade im fragmentarischen Charakter anglikanischer Theologie die Offenheit für das unverfügbare Wirken Gottes ausgedrückt (51).

Am Rande kommt in dem Sammelband auch die Relevanz der RO für den gesellschaftlich-politischen Bereich zur Sprache. Die RO tritt für die Würdigung natürlicher Verschiedenheiten und gegen das zusammenhanglose Nebeneinander von Individuen ein (25f). Die Gottesbeziehung erleichtert die Wahrnehmung der anderen Menschen in deren institutioneller Einbindung in die Gesamtgesellschaft (40, 68, 168). Ergänzend wäre hinzuweisen auf das Engagement einiger RO-Vertreter in der sog. Red-Tory-Bewegung, die in der Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft Berührungspunkte zwischen traditionellen Konservativen und Labour-Anhängern entdeckt.

Methodisch agiert die RO konfrontativ, zeigt Konsequenzen und Widersprüche anderer Ansätze auf. Sie ist „eine Denkströmung mit der Löwenpranke“ (Seubert, 102). Es geht um „eine apologetische Gegenoffensive, die das scheinbar Unhinterfragbare in Frage stellt, dies aber auf plausible und zeitgenössische Art und Weise tut“ (68). So deckt Milbank auf, dass das Christentum durch die Entsakralisierung politischer Macht gerade Quelle einer positiven Säkularisierung war. Andererseits ende eine sich als autonom und selbstreferenziell verstehende Öffentlichkeit im Moralismus (z. B. political correctness, 40, 44).

In der Aufsatzsammlung kommen auch kritische Anfragen an RO zu Wort. Achim Lohmar (146ff) wirft in säkular-soziologischer Begrifflichkeit der RO ein autoritäres Gottesbild vor. Adrian Pabst (140ff) relativiert Daniel von Wachters (118ff) Behauptung, die RO metaphorisiere die Wahrheit und gehe postmodern vor. Gianfranco Schultz empfiehlt, das „Geschenktsein“ der Partizipation weniger in ontologischer Weise zu denken (170). Bernd Wannenwetsch moniert Tendenzen zu einer theologia gloriae, weil die Argumentationsweise der RO „Nistplätze für eine triumphalistische Versuchung“ (237) zur Verfügung stelle. Das Hauptproblem liegt nach Sven Grosse in der Vernachlässigung der Reformation als Bezugsquelle trotz einiger ähnlicher Anliegen. Milbank kritisiert die Reformation, weil sie den Unterschied von Gott und Mensch bzw. Vernunft und Glaube verschärft habe (26). Grosse korrigiert, dass nach Luther nicht die Kreatürlichkeit, sondern das Sündersein des Menschen den Gegensatz zu Gott begründe. Daher gehe es nicht nur um eine Veränderung des Denkens, sondern um die Versöhnung mit Gott (29). Wie die Reformation betont die RO einen existenziellen statt abstrakt-distanzierten Zugang zur Bibel, allerdings in liturgischer Gestalt (58f). Die RO vernachlässigt aber die Wirkung der Bibel als Erkenntnis- und Urteilsgrundlage. Dann könnte nicht wie tendenziell bei Milbank jedes irgendwie transzendente Phänomen einer „Feenperspektive“ (Milbank, 50f) begrüßt, sondern müsste geprüft werden, was schriftgemäß ist und was nicht.

Mit Wannenwetsch (229f) wäre zu hoffen, dass sich RO und reformatorisch grundierte Theologie auch aufgrund eines solchen Sammelbandes gegenseitig besser verstehen und befruchten.

 

Dr. Christian Herrmann, Bibliotheksdirektor und Leiter der Historischen Sammlungen, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart

 

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