Systematische Theologie

Michael Blume: Islam in der Krise

Michael Blume: Islam in der Krise. Eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug, Ostfildern: Patmos, 2017, Hb., 192 S., € 19,–, ISBN 978-3-8436-0956-2

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Die globale Gegenwart und ihre Zukunft kommen meines Erachtens nicht an der Frage vorbei, wie es mit „dem Islam“ weitergeht. Die islamische Welt umfasst über 20 % der Weltbevölkerung, prägt große Teile unseres Globus, hat Zugriff auf einen wesentlichen Anteil der Ressourcen Öl und Gas und beheimatet viele militärische und ethnische Konflikte auf diesem Planeten. Nicht zuletzt leben viele Millionen von Muslimen in unserer (europäischen) Mitte.

Der evangelische Religions- und Politikwissenschaftler Michael Blume stellt in seinem Buch „Islam in der Krise“ die Frage nach dem „Ergehen“ des Islams in den Mittelpunkt. Der Titel bringt die Vielzahl an wertvollen Informationen, anregenden Fragestellungen, beachtenswerten Statistiken und interessanten Perspektiven, die in dem Buch präsentiert werden, recht klar auf den Punkt: der Islam befindet sich in einem Krisenmodus oder wie Blume es formuliert: „Nein, der Islam ist noch nicht tot, doch er gleicht einem Schwerkranken, der vor Verzweiflung und Schmerz um sich schlägt.“ Diese These legt Blume in seinem Buch nachvollziehbar, reichlich belegt und an vielen Stellen überzeugend dar. Der Untertitel beschreibt auf treffende Weise zwei wesentliche Tendenzen, die eben diesen Krisenmodus belegen: „Eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug.“ Blume ist sich dabei sehr wohl bewusst, dass er viele Leserinnen und Leser herausfordert, weil vertraute Deutungen und Überzeugungen in Frage gestellt werden (8). Darin liegt sicherlich die größte Stärke und der offensichtliche Wert dieses Buches. Alleine deswegen lohnt es sich das Buch in die Hand zu nehmen. Man muss nicht allen Analysen folgen. Auch müssen Blumes Deutungen und Schlussfolgerungen nicht durchgängig überzeugen. Aber sie fordern auf jeden Fall zum Weiterdenken heraus und helfen an vielen Stellen, die Wirklichkeit angemessener wahrzunehmen.

Bei der Entfaltung seiner grundlegenden These setzt Blume bei dem Phänomen des stillen Rückzugs vieler Muslime ein (13–46). Wie überhaupt die schweigende Mehrheit der Muslime für ihn ein wichtiges Phänomen ist, das er immer wieder ins Gespräch einbringt. Im Anschluss daran beschreibt er 1485 als das Schicksalsjahr für die islamische Welt (47–78). Während in Europa durch den Buchdruck eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft einsetzte, verbot der damalige Sultan Bayasid II. (oder: Bayezid; 1447–1512) das Drucken arabischer Buchstaben. Sein Sohn bestätigte 30 Jahre später diese Entscheidung. Im dritten Kapitel zeigt Blume, wie der Ölreichtum die Entwicklung in islamischen Ländern verhindert und deswegen als Fluch begriffen werden kann (79–91). Die lähmende Wirkung von Verschwörungstheorien ist das Thema des vierten Kapitels (93–122). Im fünften Kapitel (123–146) widerspricht Blume der weitverbreiteten Überzeugung, dass Muslime durch eine höhere Geburtenrate nach und nach die westliche Welt islamisieren. Vielmehr führt er Statistiken an, die zeigen, dass hier unterschieden werden muss: „religiöse Muslime, Christen, Juden haben mehr Kinder als ihre weniger frommen oder nicht-mehr-religiösen Nachbarn. Das ist in der Türkei ebenso wie in den USA, in Israel ebenso wie in den Niederlanden, in der Schweiz ebenso wie in Indonesien“ (132). Darüber hinaus sieht er „im Bildungsaufstieg vieler Musliminnen eine wesentliche – wenn nicht gar die entscheidende – Chance für eine Erneuerung der islamischen Kultur und Religion in einer zunehmend globalisierten Welt“ (145). Auf den abschließenden Seiten formuliert Blume einige Gedanken zu der Frage, „was Muslime und Nichtmuslime tun können, um die Krise des Islams zu überwinden“ (147–154). Das beginnt bei einem Plädoyer dafür, dass Freiheit „entschieden ausgefüllt wird“, weil sie sonst stirbt. Außerdem sollten sich Muslime zivilgesellschaftlich besser organisieren und das Schweigen der Mehrheit brechen. Nichtmuslime können auch einen wesentlichen Beitrag leisten: „Die schnellste und wirkungsvollste Tat zur Schwächung von Diktaturen und Terrorgruppen besteht in der Reduzierung des Öl- und Gasverbrauches“ (148). Die darauf folgenden Gedanken beleuchten weitere wichtige Aspekte, auch wenn es gegen Ende wie ein Sammelsurium von Ideen wirkt, die alle irgendwie richtig und gut sind. Wahrscheinlich kommt damit aber eine grundlegende Überzeugung des Verfassers zum Ausdruck: Wir können unsere Gegenwart und Zukunft gestalten, Muslime wie Nicht-Muslime: „lebendige Religionen sind nicht starr – und es liegt immer an uns selbst, was wir aus ihnen machen“ (180). Dies mag auch mit seiner Biographie verknüpft sein. Blume wurde als Erwachsener getauft und heiratete als evangelischer Christ seine muslimisch-sunnitische Klassenkameradin. Sie überließen den Kindern die Entscheidung, für welche Religion sie sich entscheiden. Das Zitat („Schützt den Islam vor den Fanatikern, sonst müsst ihr die Welt vor dem Islam schützen“), mit dem er sein Buch eröffnet, verdankt er seinem Schwiegervater (7, 11). In seiner Forschung beschäftigte er sich vielfach mit dem Thema Religion und Hirnforschung. Auf den Seiten 155–176 befindet sich ein Glossar, das nicht nur für die Lektüre des vorliegenden Buches sehr hilfreich ist. Es ist vielmehr eine Fundgrube an prägnanten Erklärungen, auch wenn man über das eine oder andere Detail sicherlich diskutieren kann.

Man muss nicht allen Erklärungen und Schlussfolgerungen Blumes zustimmen, um dieses Buch mit Gewinn zu lesen. Wer sich auf ein Gespräch mit Blume und seinen Deutungen einlässt, findet viele Einstiegsmöglichkeiten. So würde ich engagiert mit ihm darüber diskutieren wollen, ob man 1485 als Schicksalsjahr beschreiben kann. Es ist sicherlich ein wichtiges Datum, allerdings leuchtet mir nicht ein, warum das ein wesentlicher Grund für den Stillstand in der islamischen Welt sein soll oder muss. Islamwissenschaftler verorten den Beginn des Stillstands in der Regel zwei oder drei Jahrhunderte früher. Das diskutiert Blume nicht. Anders formuliert, ist 1485 eine Ursache für oder eine Folge von Stillstand in der islamischen Welt? In Weiterführung seiner Gedanken, die der Verbindung Bildung – Fortschritt bzw. Bildung – Aufbrechen eines Stillstandes großes Gewicht geben, wäre auch zu diskutieren, wie man nach der Buchdruckrevolution nun die nächste Medienrevolution einschätzt.

Es ist meines Erachtens immer gut, vertraute Perspektiven auf ihre Überzeugungskraft hin zu befragen. Blumes Buch hinterfragt manches. Dafür ist ihm ausdrücklich zu danken.

 

Heiko Wenzel, Ph.D. (Wheaton College), Professor für Altes Testament an der Freien Theologischen Hochschule Gießen

 

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