Friedemann Stengel: Sola scriptura im Kontext
Friedemann Stengel: Sola scriptura im Kontext. Behauptung und Bestreitung des reformatorischen Schriftprinzips, Theologische Literaturzeitung. Forum (ThLZ.F) 32, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2016, Pb., 136 S., € 18,80, ISBN 978-3-374045365
Die vorliegende Studie liegt als schmales, kleinformatiges Büchlein vor und geht zu-rück auf einen Vortrag, den der Autor im Januar 2015 im Rahmen von „Theologischen Tagen“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg gehalten hat. Die theologiegeschichtliche Untersuchung erschien 2016 und damit noch rechtzeitig zum Reformationsjubiläumsjahr 2017; doch lohnt es sich, dieser Arbeit gerade in den ‚Nachwehen‘ der Reformationsfeierlichkeiten Aufmerksamkeit zu schenken. Denn Friedemann Stengel, der seit 2010 die Professur für Neuere Kirchengeschichte in Halle vertritt, wagt sich an ein ebenso zentrales wie umstrittenes Thema. Die Phrase „sola scriptura“, mit der die Heilige Schrift als einzige Quelle und Norm des christlichen Glaubens verstanden wird, gilt als ein Kennzeichen der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und zugleich als ein Grundsatz reformatorischer Theologie. Um das Verständnis von „sola scriptura“ wird freilich gerungen. Stengels Studie lenkt den Blick auf diese Diskussion um Begriff und Inhalte des Schriftprinzips. Ausgehend von der gegenwärtigen Diskussion wendet sich Stengel dem historischen Befund zu und fragt nach den Anfängen des so selbstverständlich als reformatorisches Schriftprinzip Bezeichneten in den 1520er Jahren. Dass er dabei einen aktuellen Beitrag zur Debatte um das Schriftprinzip leisten will, zeigen die ausführliche Einleitung (9–40, Kap. 1) und der aktualisierende Ausblick (127–129, Kap. 8, nachfolgend ein Personenregister, 131f), die die historische Untersuchung rahmen (41–126, Kap. 2–7).
Stengel geht von der aktuellen Debatte um das Schriftprinzip und der postulierten ‚Krise des Schriftprinzips‘ aus (9–18) und problematisiert die Rede von einem Prinzip: „Kann sola scriptura dann überhaupt ein principium sein, etwas, das am Anfang steht?“ (13). Stengel „möchte mit dieser Studie zeigen, dass es nützlich ist, zunächst den historischen Befund zu erheben, der sich strikt an den Kontexten der Debatten orientiert“ (18), und so nimmt er zunächst in knappem Überblick das Schriftprinzip als „konkrete Behauptung am historischen Ort“ (19) in den Blick: in den lutherischen Bekenntnisschriften (19–23), in Luthers Verwendung der Formel „sola scriptura“ (24–26) und im 19. Jahrhundert (26–40). Wo in den Bekenntnisschriften von der Confessio Augustana (1530) bis zur Konkordienformel (1577) vom Schriftverständnis die Rede ist, geschieht dies in Abgrenzung und zwar gegenüber den ‚Schwärmern‘ und den Altgläubigen, gegenüber Geist und Tradition. „Festzuhalten wäre erneut, dass diese Passagen vor allem dort mit der Schriftzentriertheit argumentieren, wo sie sich gegen andere Positionen abgrenzen. Ein ausformulierter locus zur Heiligen Schrift liegt hingegen nicht vor“ (23). Zudem verwendet Luther die Formel „sola scriptura“ selten und noch nicht als „geschlossene Phrase“ (26). Zu dieser wird „sola scriptura“ erst in den folgenden Jahrhunderten, und im 19. Jahrhundert findet sich allgemein die Rede vom Schriftprinzip als Wesensmerkmal des Protestantismus, u. a. in Abgrenzung gegenüber dem zeitgenössischen Katholizismus. Erst mit Gerhard Ebeling aber, so Stengel, wird im 20. Jahrhundert „Luther zu dem Repräsentanten des Schriftprinzips gemacht“ (38). Diese Entwicklung führt ihn zur Kritik am Begriff „Schriftprinzip“ und zur These: „Hinsichtlich des reformatorischen Kontextes wäre nicht vom Schriftprinzip, sondern vom Schriftargument oder von der Argumentation mit der Heiligen Schrift zu sprechen“ (39). „Die folgende Untersuchung wird zeigen, dass sich die Vielschichtigkeit und Unabgeschlossenheit der Auseinandersetzungen um 1520 nicht einfach in ein Prinzip übersetzen lässt“ (26). – Stengel ist zuzustimmen, dass Luthers Verwendung von „sola scriptura“ in den 1520er Jahren aus einem Argumentationskontext hervorgeht und sich erst allmählich zu einer festen Phrase entwickelt. Zu fragen ist aber, ob sich ungeachtet des Terminus die inhaltliche Position, für die die Formel „sola scriptura“ steht, nicht doch in diesen Jahren als ein „principium“ der reformatorischen (Wittenberger) Theologen herauskristallisiert.
In fünf Kapiteln (41–115, Kap. 2–6) mit abschließender Auswertung (116–126, Kap. 7) nimmt Stengel die Entwicklung des „Schriftarguments“ in den Auseinander-setzungen der 1520er Jahre in den Blick. In sorgfältiger Quellenanalyse weist er nach, dass Luther das Sola scriptura-Argument erstmals in der Ablassdebatte verwendet, in der er mit dem Schriftargument die Autorität des Papstes kritisierte (41–52, Kap. 2). In der Auseinandersetzung mit Hieronymus Emser (53–76, Kap. 3) formuliert Luther das Schriftargument weiter aus: „nicht der Papst, nicht die Väter […] überhaupt keine zusätzliche Instanz legt die Schrift aus; die Schrift ist sich selbst Autorität“ (75). Von Philipp Melanchthon (77–81, Kap. 4) bekräftigt, entfaltet Luther gegen Thomas Müntzer (82–89, Kap. 5) und Erasmus von Rotterdam (90–115, Kap. 6) sein Schriftargument. In Abgrenzung gegen ein Wirken des Geistes ohne Bindung an die Schrift und gegen die Behauptung autoritativer kirchlicher Auslegung kommt Luther zur positiven Darlegung von „sola scriptura“: Die Schrift ist oberste Deutungsinstanz, göttlicher Herkunft, sich selbst interpretierend und in zweifacher Klarheit, wobei „Dreh- und Angelpunkt“ dieses Schriftverständnisses für Luther ein „solus Christus“ und „crux sola“ ist. Stengel zeigt diese Ausformulierung von Luthers Schriftverständnis nachvollziehbar aus den Quellen auf und fasst zusammen: „Hinter dem Schriftprinzip steht erstens recht eigentlich Luthers Auffassung vom allein rechtfertigenden Kreuzestod Christi, die für ihn das Zentrum der gesamten Schrift als Gotteswort ist. Zweitens ist die innere Klarheit der Schrift zugleich dieses Zentrum. Sie wird drittens durch den Heiligen Geist vermittelt […]“ (111).
Abschließend interpretiert Stengel diesen historischen Befund (116–126, Kap. 7): „Luthers Schriftprinzip ist keine in sich geschlossene Lehre, sondern ein sich auf die Schrift berufendes Argument, das als Behauptung (assertio) von göttlich durch die Schrift abgesicherter Wahrheit auftritt. Dieses Argumentieren erweist sich bei näherer Betrachtung einerseits jedoch als autoritative Absicherung einer bestimmten Theologie durch die Behauptung von Schrift-, Wahrheits- und Gott-Gemäßheit. Es ist andererseits gegen jeweils neue Fronten gerichtet und dadurch streng kontextuell“ (116f). Hier wäre zu fragen, ob der historische Befund, die Entwicklung bzw. Ausformulierung von Luthers Verständnis von „sola scriptura“, nur diese Deutung zulässt und ob die Formulierung in zeitgenössischer Frontstellung zwingend bedeutet, dass die Aussagen in diesem einmaligen Kontext ihre Begrenzung finden. Wie verhalten sich die Genese des lutherischen Schriftverständnisses und ihr inhaltlicher (Wahrheits‑)Anspruch? Stengel skizziert in einem Exkurs zu „Autor – Leser – Übersetzer – Kontext“ (112–115) hermeneutische Linien und formuliert, die Studie mit einem „Ausblick“ (127–129, Kap. 8) beschließend: „Am Anfang, vor dem Schriftprinzip, steht eine bestimmte Theologie und ein ganz bestimmtes Christus-Prinzip, das mit der göttlichen Autorität der Heiligen Schrift abzusichern versucht worden ist, die den Autor, das Zentrum, den Interpreten und den Leser der Schrift in eins setzt, der diese Sicht des Zentrums teilt“ (129).
Die Studie ist klar geschrieben und in Auseinandersetzung mit einschlägigen Forschungsarbeiten entstanden. Im Blick auf die historische Darstellung ist die Studie instruktiv, im Blick auf die Interpretation regt sie zum Weiterdenken an.
Dr. Ulrike Treusch, Professorin für Historische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule Gießen
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