Dave Andrews: Der Jesus Dschihad
Dave Andrews: Der Jesus Dschihad. Der gewaltfreie Weg aus dem Konflikt zwischen Islam und Christentum, Asslar: Gerth, 2017, geb., 288 S., € 16,–, ISBN 978-3-95734-245-4
Ein provokantes Buch. Es regt zum Nachdenken an. Mehr noch, man muss reagieren, kann es nicht einfach hinnehmen oder achtlos beiseitelegen. Wer es gelesen hat, kann nicht zur Tagesordnung übergehen. Es enthält zu viele Gedanken, die Vertrautes auf den Kopf stellen; zu viele Perspektiven, die Aspekte der Wirklichkeit ausleuchten, die (zu) oft zu kurz kommen; zu viele Beobachtungen, an denen man nicht einfach vorbeigehen kann. Wer dieses Buch in die Hand nimmt, muss sich darauf einstellen: Bekanntes wird in Frage gestellt, durcheinander gebracht und teilweise radikal anders angeordnet.
Der Aufbau des Buches lässt das Anliegen des Verfassers wohl recht gut erkennen. In der Einführung unterscheidet er den großen Dschihad („das innere geistliche Ringen eines Gläubigen um die Erfüllung seiner oder ihrer religiösen Pflichten“, 31) vom kleinen („der körperliche Kampf gegen Unterdrücker, einschließlich der Feinde des Islam“, 31). Danach reiht Andrews im ersten Teil (33–130) Kriege, Gewalttaten und Grausamkeiten unter den Überschriften „Die sogenannten christlichen ‚Heiligen Kriege‘“ bzw. „Die sogenannten muslimischen ‚Heiligen Kriege‘“ zunächst aneinander. Auf diesem Hintergrund denkt er über die Ursachen und Erklärungen für solche Grausamkeiten nach. Dabei beschäftigt ihn vor allem die Frage, ob diese etwas über das Wesen des Christentums oder des Islams aussagen (94; mehr dazu siehe unten). Der zweite Teil (131–230) widmet sich dem „Jesus Dschihad“, den er als gewaltfreien Kampf neu definiert. Er setzt dabei beim „normalen Mensch“ als „Kriegsdienstverweigerer“ ein (133–143), spricht von einer notwendigen Veränderung islamischer Theologie (143–163) und konzentriert sich auf „Jesus als Vorbild für den gewaltfreien Kampf“ (165–200). Dabei geht er von den Beobachtungen über Isa oder Jesus aus, die Koran und den Evangelien gemeinsam sind (165). Ein Blick auf Franz von Assisi, Badshah Khan, Leymah Gbowee und Muhammad Ashafa veranschaulicht, wie diese vier einen gewaltfreien Kampf gelebt haben (201–230). Er beschließt das Buch, indem er sein Anliegen der gewaltlosen Veränderung unserer Welt radikal und unmissverständlich auf den Punkt bringt (231–247): „Wollen wir selbst die Veränderung sein, die wir uns für diese Welt wünschen – oder wollen wir nicht so leben?“ (so z. B. 236).
Der Übersetzung des englischen Originals ist in der deutschen Ausgabe ein Inter-view mit Dr. Mohammed Khallouk (Zentralrat der Muslime in Deutschland) und Ek-kehart Vetter (Deutsche Evangelische Allianz) vorangestellt. Eine aufmerksame Lek-türe dieses Interviews belegt die Herausforderung des Buches auf verschiedenen Ebenen, ob es nun beispielsweise die Rede von legitimer Gewalt (Khallouk, 21) oder die für Vetter notwendige Unterscheidung von alltäglicher Frömmigkeit und Theolo-gie ist (23).
Die größte Stärke dieses Buches liegt meines Erachtens darin, dass es aufrüttelt und zum Mitdenken auffordert. Das beginnt bereits beim Titel: „Der Jesus Dschihad. Der gewaltfreie Weg aus dem Konflikt zwischen Islam und Christentum“ (im engli-schen Original: The Jihad of Jesus. The Sacred Nonviolent Struggle for Justice). Der deutsche Untertitel konzentriert sich dabei auf die problemlösenden Aspekte von Andrewsʼ Argumentation und der englische auf ihre (konstruktive) Zielorientierung. Die Verbindung von Jesus und Dschihad fordert dabei zu einer Reaktion heraus. Wer sich auf die Frage einlässt, warum Andrews dies genau so formuliert und daraufhin das gesamte Buch liest, wird vieles entdecken und lernen. Dies hat auch manches für sich, selbst wenn es dem Leser oder der Leserin dann am Ende des Buches so ergehen sollte wie mir: Bis zuletzt habe ich nicht verstanden, warum man an die Stelle von Dschihad nicht besser „Einsatz“ oder „Leidenschaft“ setzt. Andrews würde wohl sagen, dass es ihm eben darum geht, also: Dschihad kann und muss nicht mit Krieg und Gewalt gleichgesetzt werden. Und in Verbindung mit Jesus bringt Andrews es dann folgendermaßen auf den Punkt: „Mit Jesus-Dschihad ist der Kampf gemeint, dessen Ziel es ist, das Himmelreich auf Erden sichtbar zu machen – gewissermaßen den Himmel hier auf diese Welt zu holen“ (231). Kurzum, Andrews gebraucht Worte wie Dschihad (und einige andere in seinem Buch) anders als viele andere Menschen. Das provoziert und fordert heraus. Er will sie neu definieren, neu mit Inhalt füllen und andere Wege aufzeigen. Das hat dann aber auch einen Preis. Es kann verwirren, Missverständnisse auslösen oder begünstigen und neue Probleme verursachen. Bei der Lektüre des Buches gewinne ich den Eindruck, dass Andrews bereit ist, diesen Preis zu zahlen, weil er zum Umdenken herausfordern will. Vielleicht will er aber auch „nur“ zum Gespräch einladen. In solch einem Gespräch würde ich unter anderen folgende grundlegende Fragen an ihn richten: Was meint er mit „Islam“ und „Christentum“? Sind das politische, gesellschaftlich-kulturelle oder religiöse Größen? Wenn es eine Mischung ist, in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Wie unterscheidet sich sein Jesusbild von dem eines humanistischen Vorbildes? Welche Rolle spielen Kreuz und Auferstehung für die Rede von Jesus? Beides steht am Rand (Kreuz) oder tritt in den Hintergrund (Auferstehung), weil Andrews sich auf die Gemeinsamkeiten von Koran und Evangelien konzentriert. Das Anliegen der Suche nach Gemeinsamkeiten kommt dabei deutlich heraus (vgl. 165f), aber inwiefern ist dieser gemeinsame Nenner eine wesentliche Verkürzung der neutestamentlichen Rede von Christus? Sieht Andrews diese Problematik, und wenn ja, wie würde er darauf reagieren? Ist es angemessen und hilfreich den biblischen Begriff „Königreich“ und den islamischen „umma“ quasi austauschbar zu gebrauchen (231f)?
Nicht zuletzt setzt er in seiner Argumentation voraus, dass sich eine „geschlossene islamische Ideologie zu einer offenen islamischen Theologie“ wandeln muss (vgl. 143ff). Er spricht von „Dekonstruktion und Neuausrichtung“. Das ist eine hohe Erwartung. Er führt Beispiele an, wie Menschen das gelebt haben und wie es theologisch gelingen kann. Ich denke, er erwartet nicht nur eine Reformation des Islam, sondern eine Revolution. Ob die Quellen des Islam diese Revolution tragen können und tragen wollen, ist dabei eine Frage, die es zu beantworten gilt. Andrews scheint es zu bejahen. Wie viele Muslime das ebenso sehen und leben, ist meines Erachtens die entscheidende Frage.
Aber vor allem würde ich mich wohl mit Andrews Antwort auf eine wichtige Frage beschäftigen: Sagen Gewalttaten etwas über das Wesen von Religion aus oder nicht? Nachdem Andrews viele interessante und wertvolle Beobachtungen und Deutungsversuche für Gewalt (93–118) dargestellt und kommentiert hat, kommt er auf einen für ihn zentralen Gedanken, der vielen Gläubigen aufstößt: Die jeweilige Auslegung der Religion von Christen und Muslimen ist die Ursache für die scheinbar nicht endenden Gewalttaten und Grausamkeiten (119). Das Wort „Auslegung“ ist zu beachten, denn für Andrews ist die jeweilige „Konstruktion“ der Religion (vgl. 95) weichenstellend. Dabei stellt er die Kapitel „Eine geschlossene religiöse Weltanschauung und das unausweichliche Problem mit der Gewalt“ (120–124) und „Eine offene religiöse Weltanschauung und die glaubwürdige Chance zur Gewaltlosigkeit“ (124–127) einander gegenüber.
Die größte Schwäche des Buches besteht meines Erachtens darin, dass es mich mit einem gewissen „entweder–oder“ zurücklässt. Entweder man steht auf der Seite einer geschlossenen Weltanschauung (was mehr oder minder unausweichlich auch zu Gewalt führen muss) oder man folgt der Deutung von Andrews. Eine Alternative scheint es nicht zu geben; zumindest habe ich keinerlei Hinweis auf eine dritte Richtung wahrgenommen. Im Anschluss an Auszüge aus dem Brief islamischer Gelehrter an Christen „A Common Word between Us and You“ (2007) schreibt Andrews: „Welch eine Einladung. Kein aufrichtiger Mensch kann eine solche Einladung ablehnen“ (129). Das klingt recht alternativlos. An- und Rückfragen sind kaum denkbar, obwohl ich da doch einige hätte.
Heiko Wenzel, Ph.D. (Wheaton College), Professor für Altes Testament an der Freien Theologischen Hochschule Gießen
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