Systematische Theologie

Ulrich Laepple (Hg.): Messianische Juden

Ulrich Laepple (Hg.): Messianische Juden – eine Provokation. Mit Beiträgen von Richard Harvey, Peter Hirschberg, Ulrich Laepple, Hanna Rucks, Swen Schönheit, Hans-Joachim und Rita Scholz, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016, Pb., 159 S., € 23,–, ISBN 978-3788730550

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Zufällig bin ich in Jerusalem, während ich diese Rezension schreibe. Um die gelesene Theorie mit messianisch-jüdischer Glaubenspraxis zu vergleichen, besuche ich am Schabbat einen dementsprechenden Gottesdienst. Unter der Woche gehe ich zu einem Vortragsabend des in Israel lebenden messianisch-jüdischen Theologen Daniel C. Juster. Beim Gottesdienst ist der Raum mit einer israelischen Staatsflagge geschmückt. Lässt das vielleicht auf einen religiösen Zionismus schließen? Die Liedtexte klingen wie Psalmverse und enthalten die Wörter „Zion“ und „Jerusalem“ (wie in Ps 135,21). Das wirkt in dieser Stadt anders als daheim. Der Pastor kommt auch auf die „religious Jews“ zu sprechen. Er appelliert an die Gläubigen, nicht den Splitter im Auge der anderen Juden zu sehen, sondern auf den Balken im eigenen Auge zu achten. Das wirkt geistlich authentisch.

Im vorliegenden Sammelband plädieren sieben Autoren für ein offenes und zugleich differenzierendes Zugehen auf sog. messianische Juden (MJ). Diese verstehen sich als Juden, die an Jesus als Israels Messias glauben. Das Buch wendet sich weniger an evangelikale Freunde dieser Menschen. Vielmehr wirbt es bei Vertretern des christlich-jüdischen Dialogs um Wohlwollen. Die MJ sollten den Verfassern zufolge als Teil der Ökumene und als Bindungsglied zwischen Kirche und Synagoge anerkannt werden. Das gelte nicht für alle Gruppen dieser bunten Bewegung, aber für solche, die zu den grundlegenden Erkenntnissen des Dialogs kompatibel seien. Dazu gehöre die Überzeugung von der bleibenden Erwählung auch im Blick auf die jüdische Mehrheit, die nicht an Jesus glaubt. Und dazu zähle nicht zuletzt auch der Verzicht auf offensive Mission.

Hintergrund des Buches ist die Verlegenheit, in die die Kirchen seit der Abkehr von der „Judenmission“ durch die MJ gebracht werden. Letztere werden gerade in Deutschland als Protagonisten der Mission unter Juden erlebt. Von daher bleiben sie nach wie vor von dem Markt der Möglichkeiten der Evangelischen Kirchentage ausgeschlossen. Dieser prinzipielle Ausschluss wurde auch nicht dadurch aufgehoben, dass mit Harvey ein MJ erstmals auf einem Podium sprechen durfte. Sein Auftritt veranschaulichte, dass MJ existieren, obwohl es sie vielen Dialogvertretern zufolge gar nicht geben dürfte.

Harvey trägt mit seinen Aufsätzen (27–42 und 127–140) „eine Insider-Perspektive“ (27) bei. Er sieht sich weiterhin als Jude, nicht als einer, der zum Christentum konvertiert sei. Als Teil ihrer Identität bejahen ihm zufolge MJ auch grundsätzlich den Staat Israel. Damit hören die Gemeinsamkeiten innerhalb der ausdifferenzierten Bewegung schon auf. Harvey plädiert dafür, MJ in den Dialog zu integrieren, denn nur dann werde man „in die Tiefe der Geheimnisse und Pläne Gottes vordringen“ (39). Den historischen Begriff „Judenmission“ will er nicht retten und macht sich für einen neuen Terminus stark: „Israelmission. Ich meine damit die Mission durch Israel und die Mission an Israel“ (130). Die Kirche sei berufen, Gott vor den Völkern zu bezeugen. Israel sei berufen, Licht für die Völker zu sein. Und MJ seien dazu berufen, die bleibende Erwählung Israels zu verkörpern und ein eschatologisches Zeichen für Gottes Heilsabsichten zu sein.

Rucks, die über MJ in Israel promoviert hat, wendet sich der Geschichte jesusgläubiger Juden zu (13–26). Juden, die an Jesus glauben, sind bis in das 20. Jahrhundert hinein als „Judenchristen“ („Hebrew Christians“) bezeichnet worden. Von einem „messianischen Judentum“ spricht man frühestens seit den 1960er-Jahren. Bezeichnend ist, dass sich die US-amerikanische „Hebrew Christian Alliance“ 1975 in „Messianic Jewish Alliance“ umbenannte. Im Blick auf die gegenwärtige Praxis führt Rucks aus, dass es große Unterschiede innerhalb der Bewegung gebe, was die Aufnahme rabbinischer Auslegungen betreffe. In der Regel richten sich MJ nach bestimmten Traditionen zur Wahrung ihrer Identität. Dazu können der Schabbatgottesdienst und andere jüdische Feiertage gehören, genauso wie Beschneidung und Bar Mizwa.

Die Aufsätze von Laepple (43–70) und Hirschberg (71–108) ähneln sich thematisch. Beide sind Vertreter des jüdisch-christlichen Dialogs. Der Hauptunterschied zwischen den Beiträgen ist, dass Laepple mehr von der Dogmatik und Hirschberg mehr von der Exegese her argumentiert. Hirschberg legt dabei eine eindringliche Kurzauslegung von Römer 9–11 vor. Beide denken intensiv über die Bedeutung der bleibenden Erwählung Israels nach. Sie kommen zu dem Schluss, dass auch das mehrheitliche Nein der Juden zu Jesus diese Erwählung nicht aufhebt. Mehr noch: Wir müssen dieses Nein zu Jesus anders als früher positiv sehen. Denn erst durch die Ablehnung Jesu von Seiten der jüdischen Mehrheit wurde die Botschaft des Gottes Israels in alle Völker getragen. Die hier vorgelegte Paulusexegese lässt ein entscheidendes Motiv für die Beschäftigung mit den MJ deutlich werden: Eine Ablehnung der MJ widerspreche der inneren Logik der paulinischen Argumentation. Gerade wegen der jesusgläubigen Minderheit im Judentum sei sich Paulus darin gewiss gewesen, „dass auch die Majorität Gottes Heil erwarten darf“ (51). Dies soll nicht durch Mission in das Judentum hineingetragen werden, sondern bleibt dem direkten Tun Gottes vorbehalten. Entscheidend ist für Laepple und Hirschberg: MJ gehören zu einem christlich-jüdischen Dialog einfach dazu. Die Kirche müsse sowohl zum synagogalen Mehrheitsjudentum als auch zum MJ Ja sagen. Ansonsten würde man die MJ „vor eine radikale Alternative stellen: Entweder ihr werdet Christen, implizit mit der Forderung verbunden, das Jüdische bewusst zurückzustellen – was nicht weit entfernt ist vom traditionellen kirchlichen Antijudaismus –‚ oder ihr bleibt ganz traditionelle Juden und müsst dann eben euren Christusglauben aufgeben“ (101).

Die Begegnungen, die das Ehepaar Scholz am Ende schildert (141–156), lassen erkennen, warum immer wieder auch Juden zum Glauben an Jesus kommen: Sie erfahren eine positive Veränderung im Leben und bringen das mit Jesu Heilswerk in Verbindung.

Auf der einen Seite kann sich der Leser kaum der argumentativen Stringenz des Buches verschließen. Auf der anderen Seite steht die Frage: Würde eine Anerkennung der MJ durch die Kirchen das christlich-jüdische Gespräch gefährden? Genau das frage ich den eingangs erwähnten Daniel C. Juster. Er antwortet mir: Die Kirchen sollten keine Judenmission betreiben. Aber sie dürften sich auch nicht von denen distanzieren, die als Juden an Jesus glauben. Der Preis für ein versöhntes Miteinander zwischen Christen und Juden könne nicht sein, dass MJ von den Kirchen verworfen werden würden. Das wäre auch eine Art von Antijudaismus.

 

Dr. Gerhard Gronauer, Pfarrer der bayerischen Landeskirche, Lehrbeauftragter für Kirchengeschichte am CVJM-Kolleg Kassel und Co-Autor der „Synagogen-Gedenkbände Bayern“ im Rahmen seiner wissenschaftlichen Mitarbeit an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau

 

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