Praktische Theologie

Peter Zimmerling / Wolfgang Ratzmann / Armin Kohnle (Hg.): Martin Luther als Praktischer Theologe

Peter Zimmerling / Wolfgang Ratzmann / Armin Kohnle (Hg.): Martin Luther als Praktischer Theologe, Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 50, Leipzig: EVA, 2017, 538 S., € 58,–, ISBN 978-3-374-05160-1

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Anlässlich des 500. Reformationsjubiläums hat eine Projektgruppe „Luther als Praktischer Theologe“ der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie unter der Leitung von Peter Zimmerling und Mitarbeit der Leipziger Kollegen Wolfgang Ratzmann und Armin Kohnle im Oktober 2015 zu einer ersten Tagung zum Thema in die Leucorea nach Wittenberg eingeladen. Anfang Dezember 2016 folgte ebenda eine zweite interdisziplinäre Tagung. Die Ergebnisse liegen nun in diesem substantiellen Band vor.

Der Gegenstand mag überraschen. Hat die Praktische Theologie nicht erst mit Schleiermacher begonnen? Im Rahmen der Schleiermacher-Renaissance im Zuge der religionshermeneutischen Wende der Praktischen Theologie der letzten beiden Jahrzehnte konnte dies gar nicht genug betont werden. Stellt dann nicht schon das Thema „Luther als Praktischer Theologe“ einen Anachronismus dar? Mehrere Autoren des Bandes nehmen dann auch entsprechende Abgrenzungen vor (Grethlein, 30ff; Grözinger, 166; Hermelink, 393f; und auch schon Meyer-Blanck, 5, in seinem Geleitwort). Nun ist unbestritten, dass es die Universitätsdisziplin „Praktische Theologie“ vor Schleiermacher in Deutschland noch nicht gab, was nicht ausschließt, dass es die Sache schon gegeben haben könnte. Zimmerling hat bereits 2010 als Ergebnis seiner Zinzendorf-Forschungen erarbeitet, dass es im frühen 18. Jahrhundert ein praktisch-theologisches Nachdenken zu verschiedenen Handlungsfeldern kirchlichen Lebens gegeben hat (Ein Leben für die Kirche: Zinzendorf als Praktischer Theologe, Göttingen 2010). In einem Kapitel mit viel Reformpotential für die Praktische Theologie argumentiert er auch jetzt dafür, dass man von Luther mit Fug und Recht als Praktischem Theologen sprechen kann (17–29). Der Reformator hat auf zahlreichen kirchlichen Handlungsfeldern praktische Herausforderungen aufgegriffen und dafür nicht nur pragmatische Lösungen vorgeschlagen, sondern die Gegenstände – im Rahmen seiner Zeit – von wohl begründeten theologischen Grundüberzeugungen her durchdacht und beantwortet. Vielen seiner Antworten, die maßgebend in die Bekenntnisschriften der Lutherischen Kirchen eingeflossen sind, kommt auch heute noch Plausibilität zu. Zimmerling ist überzeugt, dass gerade das normative theologische Reflektieren des Reformators anhand der Heiligen Schrift der seit der empirischen Wende fortschreitenden Selbstsäkularisierung der Praktischen Theologie entgegenwirken könnte (28).

Der Sammelband besteht aus neun Teilen zu den verschiedenen Kernthemen, die in den Einzelbeiträgen von den Autoren aus unterschiedlichen Perspektiven bzw. zu unterschiedlichen Teilaspekten behandelt werden. Teil I widmet sich dem übergreifenden Thema „Martin Luther als Praktischer Theologe“ mit Beiträgen von Peter Zimmerling (17–29) und Christian Grethlein (30–40). – Teil II behandelt das Handlungsfeld „Gottesdienst“ mit Aufsätzen von Johannes-Friedrich Albrecht zur Theorie des Gottesdienstes bei Luther (43–55), Jochen Arnold zur Theologie des Gottesdienstes bei Luther (56–73) und weiteren Einzelbeiträgen von Dorothea Haspelmath-Finatti (74–83), Alexander Kupsch (84–101), Stephan Weyer-Menkhoff (102–115 und 133–152, wobei letzterer Beitrag hinsichtlich des Wortes Gottes im Gottesdienst teilweise den Eindruck einer verbosen Umdeutung Luthers macht) sowie Martin Lüstraeten (116–132). – Teil III wendet sich der „Predigt“ zu mit Forschungsbeiträgen von Susanne Bei der Wieden (zu den Invokavitpredigten, 155–165), Albrecht Grözinger (166–172), Hans-Martin Dober (173–187) und Johannes von Lüpke (188–208, mit bemerkenswerten Ausführungen, 192ff, zur Macht des gepredigten und im Glauben angenommenen Evangeliums als wirksames Gotteswort). – Teil IV ist dem Themenbereich „Hymnologie / Musik“ bei Luther gewidmet: Andrea Hofmann analysiert Luthers Liedschaffen (211–222), vertieft von Konrad Klek (223–236); Matthias Heesch verfolgt Nachwirkungen von Luthers Musikverständnis über J.S. Bach bis in die neuere Musiktheorie (237–259). – Teil V befasst sich mit „Seelsorge“ beim Reformator: Peter Zimmerling trägt einen Grundsatzartikel zu „Luther als Seelsorger“ bei (263–280), Ute Mennecke vertieft diesen aus kirchenhistorischer Perspektive (281–302); Christian Volkmar Witt erarbeitet die schöpfungstheologischen Grundlagen von Luthers Ehe- und Familienverständnis (303–322), ergänzt von Hans-Martin Gutmann zu Luthers Traubüchlein im Zusammenhang seiner Freiheitsschrift (323–338); Dietmar Päschel setzt sich mit Luthers Seelsorge an Sterbenden und seiner Lehre vom Todesschlaf auseinander (339–350) und Dorothea Ugi vertieft die Thematik indem sie Luthers „Sermon von der Bereitung zum Sterben“ daraufhin befragt, wie Seelsorge an Sterbenden einen Beitrag zur Resilienz liefern kann (351–364); Peter Zimmerling behandelt schließlich das Thema „Beichte“ bei Luther (365–379). – Teil VI des Buches widmet sich dem Bereich „Gemeindeaufbau“: Armin Kohnle (383–392 zur Frage der Laienbeteiligung in Luthers Kirchenordnung) und Jan Hermelink mit Überlegungen zu Handlungsimpulsen für die Gemeindeentwicklung im Anschluss an Luther (393–407) tragen dazu bei. – Teil VII befasst sich mit „Katechetik / Religionspädagogik / Bildung“: Michael Beyer (412–420) und Wolfgang Ratzmann (421–432) liefern lesenswerte Beiträge zur Katechese im Anschluss an den Reformator; HansMartin Lübking reflektiert die Bedeutung der Taufe für kirchliche Bildung und religiöse Sozialisation (433–443). Das spezielle Feld der Mediengestaltung zur Reformationszeit reflektiert Martin Leutzsch (444–459). – Teil VIII widmet sich sodann der „Pastoraltheologie“: In sich ergänzenden Beiträgen widmen sich Dorothea Wendebourg (463–476) und Walter Dietz (477–499) dem Themenfeld Ordination – Amt – und Allgemeines Priestertum bei Luther. Der Beitrag von Eberhard Winkler zu Luthers Bedeutung für das Verständnis des Evangelischen Pfarramts (500–512) wird wegen seiner Bedeutung unten nochmals aufgegriffen werden. – Teil IX zum Thema „Spiritualität“ schließt den Band ab: Christian Möller orientiert den teils beliebig gebrauchten Begriff „Spiritualität“ an einem möglichen reformatorischen Grundverständnis und entwickelt sieben Thesen zur Spiritualität bei Luther (515–522); ein Beitrag zum Beten-Lernen mit und bei Luther von Johannes Schilling schließt den Themenreigen ab.

Der verdienstvolle Sammelband führt zu wesentlichen Handlungsfeldern der Kirche in reformatorische Grundlagen ein, immer wieder verbunden mit Reflexionen auf die Bedeutung der Überzeugungen Luthers für heute. Besonders eindrücklich (und mutig) geschieht das in dem Beitrag des emeritierten Hallenser Praktischen Theologen Eberhard Winkler (500ff). Gegenüber einem Verständnis von Pfarramt, das eine funktionale Erfüllung von Aufgaben in der Gesellschaft bei bester finanzieller Absicherung und möglichst klar geregelter Arbeitszeit betont, plädiert Winkler im Anschluss an Luther für folgende Punkte: Erfüllung des biblischen Verkündigungsauftrags, ggf. gegen die Erwartungen von Gemeindegliedern (502), eine intrinsische geistliche Motivation für den Pfarrdienst (504), Orientierung der Inhalte pfarramtlichen Handelns an den Vorgaben der Heiligen Schrift (505f), die für eine Kirche der Reformation Normgröße bleiben muss und neben sich keinen Aufklärungsrationalismus als zweite Normgröße dulden kann (506). Von dieser Basis aus thematisiert Winkler auch das Lebensvorbild von Pfarrern und Pfarrerinnen und fragt, ob die zunehmende Zahl von Ehescheidungen im Pfarrhaus quasi als Schicksal angesichts veränderter Lebensbedingungen und –werte heute hingenommen werden soll (507f). Eine vermehrte Bindung an biblische Normen „als einer göttlichen Vorgabe“ könnte sich in der Ethik von Pfarrern als wesentliche Hilfe erweisen (508). Winkler plädiert nicht für den fehlerfreien Pfarrer, aber mit Luther für den in Leben und Lehre an die Schrift gebundenen Diener am göttlichen Wort, dessen Dienst von Auftragsgewissheit und Hingabe geprägt ist (509ff). – Schon allein um dieses Beitrags willen – aber nicht nur! – lohnt es sich, anhand dieses Buches mit den Leitlinien zu beschäftigen, die sich von Luther her für praktisch-theologisches Handeln heute ergeben.

 

Prof. Dr. Helge Stadelmann, Professor für Praktische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule Gießen sowie im Doktoralprogramm der Evangelische Theologische Faculteit Leuven / BE.