Michael Moynagh (mit Philip Harrold): Fresh Expressions of Church
Michael Moynagh (mit Philip Harrold): Fresh Expressions of Church. Eine Einführung in Theorie und Praxis, Gießen: Brunnen, 2016, geb., 546 S., € 50,–, ISBN 978-3-7655-9111-2
In den breiten Strom missionaler Gemeindeaufbau-Konzepte haben sich in jüngerer Vergangenheit auch die sogenannten „Fresh Expressions of Church“ (kurz: Fresh X) eingereiht, deren spezifische Wurzeln größtenteils im Bereich der Church of England liegen. Die zunehmende Breitenwirkung dieses missionalen Ansatzes hierzulande lässt sich sowohl an der Entstehung eines deutschen Fresh X-Netzwerks (www.freshexpressions.de), als auch an der auf den ersten Blick überraschenden Tatsache ablesen, dass die innovativen Fresh X-Ideen trotz offensichtlich abweichender ekklesiologischer und missionspraktischer Schwerpunktsetzungen bereits zweimal ausführlich im Rahmen von Willow Creek-Leitungskongressen einem größeren Publikum vorgestellt wurden. Da nun also auch die beiden hier zu besprechenden Fresh X-Grundlagenbücher des britischen Vordenkers Michael Moynagh auf Deutsch erschienen sind, ist zu erwarten, dass die Stimmen der Fresh X-Bewegung in Zukunft sowohl im missionstheologischen Diskurs als auch unter missionarisch tätigen Praktikern verstärkt Gehör finden werden.
Der mit über 500 Seiten umfangreiche Band Fresh Expressions of Church. Eine Einführung in Theorie und Praxis (engl. Original: Church for Every Context. An Introduction to Theology and Practice, 2013) hat als „theologisches Grundlagenwerk für neue kontextuelle Formen von Gemeinde und Kirche“ zu gelten und besitzt „Handbuchcharakter“ (so die Herausgeber Jochen Cornelius-Bundschuh, Michael Herbst, Ralph Kunz, Patrik Todjeras und Markus Weimer; XII). Der parallel erschienene und mit über 400 Seiten ebenfalls substantielle Begleitband Fresh X – Das Praxisbuch (engl. Original: Being Church, Doing Life. Creating gospel communities where life happens, 2014) ist eine von Erfahrungsberichten und Beispielgeschichten durchzogene Hinführung zur Praxis, die gemeindebauliche Inspiration und Handwerkszeug für diejenigen liefert, die sich der Gründung von neuen Gemeindeformen verschrieben haben. Dabei stellt Moynagh im Grundlagenband auch sehr praktische Bezüge her, umgekehrt verzichtet er im Praxisband nicht gänzlich auf die theologische Grundlegung. Dennoch gilt: Wer sich fundierter mit den ekklesiologischen und missiologischen Weichenstellungen neuer gemeindlicher Ausdrucksformen auseinandersetzen will, sollte zu Moynaghs opus magnum greifen (auf das ich mich in der Folge vornehmlich beziehe). Wer dagegen als Gemeindepraktiker zunächst eine praxisnahe, allgemeinverständliche und konkrete Arbeitshilfe sucht, ist mit dem Praxisbuch besser bedient.
Einleitend nennt Moynagh die vier zentralen „ekklesiogenetischen Grundkonstanten“ (Markus Weimer) einer Fresh X-Initiative (XIX-XXIII), die – im Sinne einer Zielvorgabe – als missional, kontextuell, lebensverändernd und ekklesial (d.h. gemeindebildend) definiert werden. Neue kontextuelle Gemeinden sind folglich ausgerichtet auf Menschen, die normalerweise nicht in die Kirche gehen und bisher wenige Bezüge zum christlichen Glauben hatten. In einem zunehmend säkularen Umfeld liegt gerade darin die Bedeutung der Fresh X-Bewegung. Im Einklang mit anderen missionalen Stimmen, erscheint ein attraktionaler Komm-Ansatz („Komm zu uns!“) im Blick auf stark kirchen- und glaubensferne Zeitgenossen kaum mehr zielführend, weshalb ein „inkarnatorischer Zugang“ („Wir gehen und bleiben!“) gerade für dieses kirchenferne Milieu vorzuziehen ist. Die ins Auge gefasste Kontextualisierung stellt in einem pluralisierten, nachchristlichen Kontext den Versuch dar, „Kirche auf eine Art und Weise zu sein, die Jesus treu bleibt und gleichzeitig zu den Menschen passt, denen sie dient. Sie setzt voraus, dass sich die Form der Gemeinde der jeweiligen Situation anpassen kann“ (167). Dabei lädt man Menschen in eine verbindliche, lebensverändernde Nachfolge Jesu ein und will helfen, den neu entdeckten Glauben im Alltag in den verschiedensten Lebensbereichen Ausdruck zu verleihen. Ekklesial sind die neuen Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens deshalb, weil ihnen im Gegensatz zu anderen missionarischen Initiativen von Beginn an explizit das Potenzial zugeschrieben wird, eine reife Form von Gemeinde zu werden.
Moynaghs Grundlagenwerk gliedert sich in vier Hauptteile. In einem ersten Teil (Kap. 1–4) werden die neuen kontextuellen Gemeinden mit ihrem historischen und gegenwärtigen Kontext verknüpft und entsprechend auch soziologisch eingeordnet. Dabei fällt vor allem das Bemühen des Autors auf, die Wesenszüge der von ihm maßgeblich mitgeprägten Fresh X-Bewegung aus den neutestamentlichen Quellen abzuleiten (3–29). In Teil 2 (Kap. 5–10) behandelt der Autor ekklesiologische und missiologische Grundlagen der kontextuellen Gemeinde. Hier stehen Fragen nach dem Ort der Mission im Leben der Gemeinde und nach angemessenen Modellen einer theologisch verantwortbaren Kontextualisierung im Mittelpunkt. In Teil 3 (Kap. 11-16) wird der „Geburtsvorgang“ einer kontextuellen Gemeinde praktisch skizziert. In diesem Zusammenhang unterscheidet Moynagh zwei mögliche Modelle auf dem Weg zu einer neuen Kirche. Das erste Modell beginnt mit der Etablierung eines attraktiven, kontextrelevanten Gottesdienstes. Allerdings scheint dieses Modell gerade „dann weniger effektiv zu sein, wenn es darum geht, Menschen zu erreichen, die nur geringe oder gar keine Erfahrung mit dem christlichen Glauben mitbringen und für die der Sprung in die Gemeinde zu groß ist. Für diese Menschen werden Freundschaften zu Gemeindebesuchern kein ausreichender Anlass sein, die Gemeinde zu besuchen“ (228–229). Daher hat sich im Rahmen der Fresh X-Bewegung ein zweites Modell herauskristallisiert, das besser geeignet scheint, „wenn man diejenigen erreichen will, die kaum oder niemals Kontakt mit der Kirche hatten“ (229). Am Anfang dieses Modells steht der jeweilige Lebenskontext, an den zunächst durch intensives Zuhören und liebevollen Dienst angeknüpft wird, bevor konkrete Schritte hin zur Bildung einer kirchlichen Gemeinschaft bzw. zur Etablierung einer gottesdienstlichen Veranstaltung gegangen werden. Schließlich wird im vierten und letzten Hauptteil (Kap. 17–21) die Frage erörtert, wie neu entstandene Gemeindeformen bei ihrem Wachstum zu geistlicher Reife nachhaltig unterstützt werden können.
Am Ende jedes Kapitels werden die Kernaussagen zusammenfassend gebündelt. Wer sich also in einem ersten Schritt nicht gleich durch das umfangreiche Gesamtwerk arbeiten will, kann sich so zunächst gut einen Überblick über die wichtigsten Gedankengänge verschaffen. Darüber hinaus liefert Moynagh jeweils einige Diskussionsfragen, die die Möglichkeit zu einer (auch gemeinschaftlichen) Vertiefung der entsprechenden Themen bieten. Jedem Abschnitt sind außerdem weiterführende Literaturhinweise beigegeben, wobei den Herausgebern zu danken ist, dass in Deutsch vorliegende Titel auch als solche gelistet wurden.
Eine detaillierte Bewertung dieses vielschichtigen Bandes oder gar der darin zum Ausdruck kommenden Konturen einer ganzen Bewegung ist an dieser Stelle nicht möglich. Doch insgesamt besteht kein Zweifel: Moynaghs fundierte Beobachtungen, Analysen und Handlungsperspektiven verdienen es, aus praktisch-theologischer und missiologischer Sicht, intensiv und kritisch rezipiert zu werden. Denn in unserem nachchristlichen Umfeld sind wir dringend auf neue, gleichermaßen ekklesiologisch wie kontextuell durchdachte Ansätze für den missionarischen Gemeindeaufbau angewiesen. Wenn diese dann ausnahmsweise nicht aus dem US-amerikanischen Kontext kommen, wo der christliche Grundwasserspiegel trotz allem noch signifikant höher ist als im säkularen Europa, gilt es umso genauer hinzuschauen. Auch wenn sich die Fresh X-Bewegung in Anknüpfung an das britische Volkskirchen-Vorbild in Deutschland bisher überwiegend im Bereich der Landeskirchen entfaltet hat, spricht manches dafür, dass sich das von Moynagh ausführlich vorgestellte Gedankengut gerade in Rahmen des freikirchlichen Gemeindeaufbaus als hilfreich erweisen könnte. Da viele Fresh X-Initiativen nachweislich einen postkonfessionellen Charakter tragen (Sabrina Müller), ist davon auszugehen, dass sich diese Art der christlichen Gemeinschaftsbildung grundsätzlich gut mit einer freikirchlichen, stärker kongregationalistischen Ekklesiologie verbinden lässt. Außerdem sind die meisten Fresh Expressions in Großbritannien evangelikalen bzw. evangelikal-charismatischen Ursprungs, was darauf hindeutet, dass diese Formen der missionarischen Gemeindearbeit auch in tendenziell eher theologisch konservativen Freikirchen anschlussfähig sind.
Verschiedentlich weist Moynagh auf Untersuchungsergebnisse hin, die nahelegen, dass die innovativen Fresh X-Ansätze eine überdurchschnittlich starke Anziehungskraft auf Menschen ausüben, die sich von der Kirche entfernt haben oder bisher gänzlich ohne kirchliche Erfahrung geblieben sind (vgl. bspw. Praxisbuch, 31–33). Wie gerechtfertigt ein solch hoffnungsvoller Ausblick letztlich ist, wird sich m. E. erst noch erweisen müssen. Bestimmte Untersuchungen scheinen tatsächlich in diese Richtung zu deuten, allerdings präsentieren sich die bisher im Bereich der Church of England erhobenen empirischen Daten bisweilen als recht uneinheitlich. Um die Frage zu beantworten, ob die neuen kontextuellen Ausdrucksformen von Kirche besser in der Lage sind, nachchristliche Zeitgenossen zu erreichen als andere missionarische Konzepte, wird in Zukunft (dann auch hinsichtlich der möglicherweise in größerer Zahl entstehenden Fresh X-Initiativen in Deutschland) weitere quantitative wie qualitative Forschung notwendig sein.
Dr. Philipp Bartholomä, Leiter des Europäischen Instituts für Gemeindegründung und Gemeindewachstum, Pastor der Er-lebt Gemeinde in Landau