Altes Testament

Katrin Müller: Lobe den Herrn, meine „Seele“

Katrin Müller: Lobe den Herrn, meine „Seele“. Eine kognitiv-linguistische Studie zur næfæš des Menschen im Alten Testament, BWANT 215, Stuttgart: Kohlhammer, 2018, Pb., 360 S., € 70,–, ISBN 978-3-17-034436-5

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Dass das Forschungsgebiet der alttestamentlichen Anthropologie nach wie vor aktuell ist, zeigt die hier zu besprechende Studie von Katrin Müller. Hierbei handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung einer bei Andreas Wagner (Bern) angefertigten Dissertation. Das einleitende erste Kapitel (11–18) führt knapp und präzise in die zugrundeliegende Problemstellung ein: Das Lexem נֶ֫פֶשׁ wurde in der Septuaginta mit ψυχή, daran anknüpfend in der Vulgata mit anima und in deutschen Bibeln meist mit „Seele“ übersetzt. Daraus haben sich der traditionelle christliche Seelenbegriff sowie ein dichotomisches bzw. trichotomisches Menschenbild entwickelt, die jedoch keine Grundlage im Alten Testament beanspruchen können. M. fragt nun, ob das Lexem נֶ֫פֶשׁ bzw. das dahinterliegende Konzept für das im Alten Testament vermittelte Menschenbild tatsächlich zentral ist und welchen Beitrag es zu dessen Erhebung leisten kann (13–14).

Das zweite Kapitel (19–99) bietet zunächst einen ausgesprochen gründlichen Forschungsüberblick über die (vorrangig christliche) Beschäftigung mit נֶ֒פֶשׁ seit der Zeit des Humanismus. Hier wird deutlich, dass die „Anthropologie des Alten Testaments“ von Hans Walter Wolff (1973) einen Wendepunkt markiert. Eindrücklich und kenntnisreich schildert M., wie sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nach einer bis dahin recht einheitlichen Übersetzung des Lexems mit „Seele“ differenziertere Interpretationen Bahn brachen, die zunächst auf Vergleichen mit der arabischen Wurzel für „Atem“ basierten. Im 20. Jahrhundert kam dann die „Eigenart des israelitischen Denkens“ in den Blick (z. B. Pedersen, 1920 und Johnson, 1949). Für Wolff bedeutet „hebräisches Denken“ vor allem „synthetisches Denken“, worunter er die Möglichkeit versteht, durch die Nennung eines Körperteils auf dessen Funktion zu verweisen. Die einzelnen Forschungsbeiträge werden von M. kaum kommentiert oder bewertet. Daraus sowie aus dem beeindruckenden Umfang ergibt sich leider eine gewisse Unübersichtlichkeit des Forschungsüberblicks, die durch eine konsequentere thematische Gliederung vielleicht hätte vermieden werden können.

Die Notwendigkeit einer weiteren Studie ergibt sich erst im dritten Kapitel (100–125), in dem methodische Anfragen an Wolffs Konzept des „synthetischen Denkens“ genannt werden. Über Wolff hinausgehend plädiert M. in Anlehnung an Andreas Wagner für ein „synthetisches Bedeutungsspektrum“, da manche hebräische Lexeme nicht nur Körperteile und ihre Funktionen bezeichnen, sondern auch zur Bezeichnung von Gesten oder zur Benennung von Abstrakta verwendet werden können, wie sie anhand einiger Beispiele zeigt (101–105). Zum anderen fragt sie, ob diese synthetische Bedeutung der Körperteillexeme tatsächlich ein Spezifikum des Hebräischen bzw. der semitischen Sprachen darstellt, wie Wolff noch behauptet hat. Diese Frage beantwortet sie negativ, da die kognitive Linguistik gezeigt hat, dass in vielen Sprachen Bedeutungs­erweiterungen durch konzeptuelle Metaphern und Metonymien möglich sind. Daraus ergibt sich für M. die anzustrebende Methodik, bei der Untersuchung von נֶ֫פֶשׁ mit solch einem „metonymischen Bedeutungsspektrum“ zu rechnen.

Im vierten Kapitel (126–205) untersucht M. zunächst mögliche Bedeutungen des hebräischen Lexems נֶ֫פֶשׁ. Dabei nennt sie zunächst die Grundbedeutung „Kehle“ sowie, durch Metonymie davon abgeleitet, „Atem“. Ferner diskutiert sie das (seltene) Vorkommen der „Kehle“ in Gesten und bei der Beschreibung körperlicher Empfindungen. Verschiedene metonymische Gebrauchsweisen erfordern eine Übersetzung mit „Verlangen“ oder mit „Leben“ bzw. „Lebenskraft“. Ebenfalls metonymisch ist die Verwendung des Lexems für eine Person als Ganzes, die ausführlich in Kapitel 5 diskutiert wird. Mit guten Gründen wendet sich M. gegen die noch von Wolff vertretene Bedeutung „Leiche“ an einigen Stellen. Vor allem aber hinterfragt sie die traditionelle Bedeutung „Seele“. Dass M. zuvor anhand des Duden erklärt, was sie unter dem deutschen Wort versteht, macht die Begründung transparent: Da נֶ֫פֶשׁ nie in der Bedeutung eines körperlosen und unsterblichen Teils des Menschen verwendet wird, sollte man aufgrund der Denotation und Konnotation des deutschen Lexems in der Regel auf die Übersetzung „Seele“ verzichten (195–205).

Im fünften Kapitel, dem Hauptteil der Arbeit (206–304), fragt M., ob sich anhand der Verwendung von נֶ֫פֶשׁ überhaupt anthropologische Aussagen machen lassen. Dazu untersucht sie Texte, in denen נֶ֫פֶשׁ anstelle eines Pronomens verwendet wird und somit eine bestimmte Person bezeichnet. Hier liegt die konzeptuelle Metonymie „Körperteil für Person“ zugrunde, die auf der Grundbedeutung „Kehle“ und den damit zusammenhängenden lebenserhaltenden Funktionen basiert. Solch eine Untersuchung kann freilich nur dann aufschlussreich sein, wenn die Metonymie nicht „tot“ ist, d. h. wenn sie noch nicht so sehr bei Sprachbenutzern etabliert ist, dass die Grundbedeutung nicht mehr mitverstanden wird. Dass dies bei den untersuchten Texten tatsächlich nicht der Fall ist, wird dadurch plausibel, dass in den entsprechenden Kontexten genau die Emotionen und Umstände angesprochen werden, die schon bei der Untersuchung in Kapitel 4 begegneten: Verlangen bzw. Abscheu einerseits sowie das Leben und seine Erhaltung oder Gefährdung andererseits. Die Metonymie ist folglich noch nicht lexikalisiert, so dass נֶ֫פֶשׁ nur noch als „Person“ verstanden würde. Somit können diese Texte zur Ermittlung des Menschenbildes im AT herangezogen werden. Bestätigt wird dadurch die Wolffs Einschätzung, dass נֶ֫פֶשׁ den „bedürftigen Menschen“ bezeichne. Dies wird von M. zu der These ausgebaut, dass das anthropologische נֶ֫פֶשׁ-Konzept die „bedürftige, verlangende und gefährdete Lebendigkeit“ als zentrales Element enthalte (292). Ein Vergleich mit anderen Körperteillexemen wie לֵב zeigt, dass es zwar Überschneidungen in der Bedeutung gibt, dass die Lexeme aber im Allgemeinen nicht austauschbar sind. Sehr wertvoll sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen zu Dtn 6,5 (287–288). Wolffs These, נֶ֫פֶשׁ konstituiere einen „anthropologischen Hauptbegriff“, steht M. jedoch kritisch gegenüber, da auch die weniger beachteten Körperteillexeme לָשׁוֹן, שָׂפָה, פֶּה, עַ֫יִן, אֹ֫זֶן oder יָד metonymisch für eine Person verwendet werden können (303–304).

Das sechste Kapitel (305–317) bietet eine Zusammenfassung, wobei leider kein Ausblick auf weiterführende Forschungsmöglichkeiten gegeben wird. Eine ausführliche Bibliographie sowie ein Register runden das gelungene Werk ab.

Hat man sich durch diese umfangreiche Studie durchgearbeitet, so fühlt man sich zunächst wie erschlagen von der Fülle des Materials. In der Rückschau muss man dann aber festhalten, dass sich die Mühe der Lektüre gelohnt hat. Die von M. herangezogenen Belegtexte, die in hebräischer Sprache mit deutscher Übersetzung präsentiert werden, bauen gut aufeinander auf. M. argumentiert sorgfältig und vorsichtig abwägend, gibt wenn nötig Hinweise auf textkritische Probleme und ist in beständigem Gespräch mit der Kommentarliteratur. Es ist der Autorin zu danken, dass sie ein aktuelles theologisches Forschungsthema mit einer aktuellen linguistischen Methodik bearbeitet hat. Besonders erfreulich ist, dass M. immer wieder Hinweise zu möglichen Übersetzungen von נֶ֫פֶשׁ ins Deutsche gibt. Hier plädiert sie grundsätzlich gegen die Wiedergabe mit „Seele“, klammert aber auch die Frage nach den Erwartungen der Rezipienten, etwa bei bekannten Texten, nicht aus (292–293).

Nicht erschlossen hat sich dem Rez. die Bedeutung der sechs eingestreuten Exkurse, die ein bereits in vier Gliederungsebenen strukturiertes Buch noch schwerer durchschaubar machen. Vor allem der Exkurs über ψυχή im NT (294–297), der ohne jegliche Erwähnung der Septuaginta auskommt, hat eher den Charakter einer ausgedehnten Fußnote. Gelegentlich ist die linguistische Terminologie unscharf oder missverständlich. Wo z. B. behauptet wird, dass die Bedeutung von נֶ֫פֶשׁ an einer bestimmten Stelle „changiert“ (174–175 u. ö.), sollte man besser von Polysemie sprechen. Doch das sind die einzigen Kritikpunkte an dieser weiterführenden und inspirierenden Studie.

Dr. Carsten Ziegert, Hochschuldozent für Biblische Sprachen und Über­setzungs­theorie an der Freien Theologischen Hochschule in Gießen.