Systematische Theologie

Werner Thiede: Evangelische Kirche

Werner Thiede: Evangelische Kirche. Schiff ohne Kompass?, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2017, geb., 280 S., € 29,95, ISBN 978-3-534-26893-1

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„Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt, fährt durch das Meer der Zeit…“. Doch ist dieses Schiff noch auf Kurs? Ging der Kompass gar über Bord? Anlässlich des Reformationsgedenkens erschien Thiedes Buch, das laut Klappentext als „Debattenbuch“ verstanden werden will. Es gliedert sich in drei Hauptteile.

In Herausforderungen zeigt er gesellschaftliche und (theologie)geschichtliche Veränderungen auf, die natürlich auch eine Reaktion der Ev. Kirche nötig machten und machen. Auf zentrale Veränderungen wie naturwissenschaftlicher Fortschritt, religiös-weltanschauliche Pluralisierung und fortschreitende Technisierung hat die Kirche erst einmal keinen Einfluss, diese Veränderungen sind faktisch vorgegeben. Wie sich die Kirche jedoch im Geschehen positioniert und ihren Auftrag ausführt, liegt sehr wohl in ihrem Entscheidungsspektrum. Hier stellt der Verfasser fest, haben sich im kirchlichen Leben neben einer eher passiven Mitte zwei konkurrierende Strömungen entwickelt: eine konservative und eine liberale, von denen die letztere bis in kirchliche Leitungsebenen hinein die Vorherrschaft vorerst für sich entschieden zu haben scheint. Das Ringen um eine „Pluralitätsfähigkeit“ (16) hat teilweise selbst zu einer säkularisierenden Pluralisierung der kirchlichen Lehre geführt.

Hinzu kommt der Kulturprotestantismus, dessen historische und inhaltliche Entwicklung sehr gut aufgezeigt wird. Dass dieser jedoch keine historisch abgeschlossene Epoche ist, sondern – wenn auch mit teils veränderten Facetten – bis in die Gegenwart der Ev. Kirche hineinwirkt, arbeitet der Autor an unterschiedlichen Beispielen heraus: So werden u. a. reformatorische Bekenntnisse als zeitlich überholt betrachtet, oder „Maßstäbe des Heiligen“ (64), beispielsweise Bereiche der Sexualethik „systematisch zurechtgebügelt“ (63). Unter anderem geschieht dies durch ein verkürztes, einseitiges Verständnis von Liebe oder dem Pauluswort „alles ist (mir) erlaubt“ (1Kor 6,12; 10,23). Sind die sinkenden Mitglieds- und Gottesdienstbesucherzahlen schon wenig erfreulich genug, werde auch Mission im Sinne einer Ausführung des Auftrags Jesu ebenfalls umgedeutet. Dabei sei es notwendig, „Gemeindeaufbau vom Missionsauftrag her zu denken“ (51).

Letztlich, so der Verf., kommen sogar die reformatorischen „Solis“ unter die Räder, wenn beispielsweise dem sola scriptura additiv die Vernunft beiseite oder sogar vorangestellt wird, was die ständig begleitende Gefahr der historisch-kritischen Methode ist, die, so in Bezug auf Ulrich Wilckens, „teilweise neu zu formatieren“ (73) sei. Auch die anderen Exklusivpartikel werden teilweise in einer Art und Weise umgedeutet, dass ihnen nicht nur inhaltliche Fülle und lebensverändernde Kraft geraubt werden, sondern sie letztlich zu Worthülsen verkommen. In diesem Teil wirft der Verf. auch einen kritischen theologischen Blick auf die ökumenische Rechtfertigungslehre von 1999, die manche Grundaspekte der biblischen Rechtfertigungslehre außer Acht lasse, um einen gemeinsamen Konsens bilden zu können.

Was ist Kirche? Was tut sie? Und wie tut sie es oder sollte es tun? Hier braucht es heute Vergewisserungen, die der Pfarrer der Ev.-luth. Landeskirche in Bayern auch im zweiten Teil seines Buches im kirchengeschichtlichen Meilenstein der Reformation sucht. Das Kirchenverständnis von Luther, Melanchthon, Zwingli und Calvin kommt in den Blick, damit auch z. B. die Perspektivkraft der reformatorischen Rechtfertigungslehre mit ihrer Gewissheit des Heils in Ewigkeit allein aus Gnade im Vergleich zur reformierten Prädestinationslehre Calvins und Zwinglis. Diese suche „Zeichen des Heils am Subjekt“ (115), um ihres Heils gewiss zu werden, bei der Erwählung Gottes berücksichtigt zu sein.

Auch in anderen Fragen, wie dem Verständnis des ordinierten Amtes, gibt es innerevangelisch wie natürlich auch im Verhältnis zur röm.-kath. Kirche Differenzen. Während die Auffassungen der beiden Kirchen in ihrem Kern unterschiedlich sind, bestehen die Spannungen innerhalb der Ev. Kirche in der Frage, ob das ordinierte Amt aus dem allgemeinen Priestertum abgeleitet oder als göttliche Stiftung verstanden wird. Wenn jedoch ordinierte Amtsträger ihre Verantwortung wahrnehmen und Prädikanten / Lektoren „entschiedener als bislang“ (129) schulen und fördern, könne ein stärkeres Miteinander entstehen, so Thiede. Und dieses sei in der Lage, die Spannungen der verschiedenen Amtsauffassungen für die Kirche fruchtbar werden zu lassen.

Ebenfalls zeichnet der Verf. die Entwicklung der Visitation und ihres Zwecks in den Kirchen der Reformation bis heute nach. Daraus folgend, sei es hilfreich, unter dem Begriff ‚Inspektion‘ die verwaltungstechnische Kontrolle, unter ‚Visitation‘ den „geistlich ausgerichteten Besuchsdienst“ (167) zu fassen. Für Letzteren müsse klar gelten, dass hier auch Predigt und Lehre in den Blick zu nehmen sind.

Im letzten Abschnitt des zweiten Buchteils kommt Thiede auf die Sakramente zu sprechen, die nach dem Augsburger Bekenntnis wesenhaft zur Kirche gehören. Die Frage, welche Handlungen nun als Sakramente zu verstehen sind und welche nicht, führt den Verf. zur Grundfrage, ob es denn tatsächlich nur um einzelne Handlungen gehe. Kann, darf oder sollte gar Kirche mit Christus als ihrem Haupt nicht ganzheitlich sakramental verstanden werden? Jedenfalls wie es wichtig sei, auf „Schriftgemäßheit“ (170) der einzelnen Handlungen zu achten. So orientierten sich die Reformatoren z. B. im Blick auf die Kindertaufe eher an Tradition als an Bibel. Spätere Systematiker wie Bonhoeffer und Barth haben zu Recht auf die theologische Problematik der Kindertaufe hingewiesen. Heute sollte seitens der Kirche die Erwachsenentaufe nicht nur anerkannt, sondern auch beworben werden. Ebenfalls regt Thiede in diesem Teil zu einer Reflexion hinsichtlich der verschieden(st)en Abendmahlsformen und der theologisch begründeten Neu- oder Wiederentdeckung der Beichte an, die Luther als „drittes Sakrament“ der Absolution einstufte. Abschließend mahnt der Autor zu einer Neu- und Rückbesinnung auf die Ortsgemeinde und deren geistliche Lebensgestaltung. Liberale Theologie und Gottesdienstordnungen mit wenig Gestaltungsfreiraum können wohl kaum zu wachsenden Gemeinden führen.

Im Dritten, dem kürzesten Teil Perspektiven bündelt der systematische Theologe quasi seine Arbeit konkretisierend – symbolisch klingt Luther an – in 95 Thesen. Sie umfassen richtungsweisend Fragen der (über)konfessionellen Einheit, des Wesens der Kirche an sich, ihres Umgangs mit gesellschaftlichen Entwicklungen und ihres Auftrags in Sachen Mission, Sakramente, Mitmenschlichkeit und Lehre.

Werner Thiede nimmt kein Blatt vor den Mund. Auch wenn, nein: weil es um die Kirche geht, der er „überzeugt“ (10) angehört. Er schreibt verständlich, fordert zur (Selbst)Reflexion heraus und provoziert Reaktion. Thiede entlarvt manchen systematisch- oder praktisch-theologischen Fortschritt als mindestens drohenden, teils vollzogenen Schritt fort vom gottgedachten Kurs der Kirche. Dabei bleibt er nie bei Negativnennungen stehen, sondern zeigt konkrete Schritte zur Kurskorrektur.

Um den Lesefluss nicht zu stören, wurden die Fußnoten mit Quellenangaben und weiterführenden Gedanken in den Anhang gepackt. Dieser enthält auch das Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister.

Es ist zu wünschen, dass dieses Buch auch nach dem Reformationsgedenkjahr gelesen wird und sich so manche Rückbesinnung als Fortschritt erweisen kann.

Michael Schwantge, Gemeinschaftspastor in Oppenheim