Malte Dominik Krüger: Das andere Bild Christi
Malte Dominik Krüger: Das andere Bild Christi. Spätmoderner Protestantismus als kritische Bildreligion, Dogmatik in der Moderne 18, Tübingen: Mohr Siebeck, 2017, geb., XVI+618 S., € 99,–, ISBN 978-3-16-154584-9
In seiner Habilitationsschrift Das andere Bild Christi geht der Marburger Systematische Theologe Malte Dominik Krüger von einer provokanten These aus. Das menschliche Bildvermögen ist noch grundlegender als das Sprachvermögen. Daher müsse auch der Protestantismus trotz aller traditionellen Wortbezogenheit lernen, die zentrale Bedeutung des Bildes für die Religion generell wie für sich selbst zu würdigen.
Nun lässt sich leicht zeigen, dass Bilder in der Gegenwartskultur große Bedeutung haben. Soziale Netzwerke wie die Medien generell leben von der unmittelbaren Macht der Bilder, so dass von einem regelrechten iconic turn in der heutigen Zeit gesprochen wird. Mit seiner traditionellen Logozentrik tut sich der Protestantismus mit Bildern schwer. Der auf Gewissheit eingestellte protestantische Glaube lebt aus und mit Worten. Bilder haben protestantischerseits den Ruf, missbrauchsanfällig zu sein. Ihre vermeintliche Eindeutigkeit erweist sich leicht als trügerisch. Tatsächlich erscheint die bildhafte Erscheinung oft vieldeutig. Die Wiedergabe von Sachverhalten mittels Bildern gerät in der Regel unterkomplex.
Angesichts dieser komplizierten Ausgangslage überzeugt Krüger zunächst mit einem höchst kundigen und belesenen Überblick über die heutige Diskussion zur Bildthematik in Philosophie, Medientheorie und den Kulturwissenschaften insgesamt. Schon diese Integrationsleistung macht dieses Buch überaus lesenswert. Anthropologisch erweist sich das Bildvermögen grundlegend in dem Sinne, dass auch die Sprache es immer schon voraussetzt und in Anspruch nimmt. Sprache lässt sich nicht herauslösen aus der mit der menschlichen Leiblichkeit verbundenen Welt des Sehens und Zeigens.
Wie aber lässt sich diese Thematik mit der klassisch protestantischen Theologie verknüpfen? Nun ist es für den modernen Protestantismus wesentlich geworden, sich auf die anthropologische Wende der Neuzeit einzulassen und die Entfaltung des christlichen Glaubens nicht mehr auf die Voraussetzung der Gotteswirklichkeit im Sinne der klassischen Metaphysik aufzubauen bzw. von dieser abhängig zu machen. Auch Krüger setzt auf ein neuprotestantisches Argumentationsmuster: Das menschliche Bildvermögen ist anthropologisch so grundlegend, dass es immer schon in Anspruch genommen wird, gerade auch in der Religion. Will man sich über Religion verständigen, so ist ihre Verwobenheit mit anthropologischen Gegebenheiten wahr- und ernst zu nehmen. Die neuere Theologie hat in immer neuen Anläufen basale Strukturen menschlicher Existenz herausgearbeitet, an die anzuknüpfen möglich wenn nicht nötig ist. Das Gefühl bei Schleiermacher ist ein besonders prominenter Ansatzpunkt, dem eine ganze Reihe von Folge- oder Parallelunternehmungen an die Seite gestellt werden könnten, wie im Anschluss an Kant das sittliche Bewusstsein bzw. das Gewissen, die menschliche Existenz mit ihrer Angst bzw. Verzweiflung (Kierkegaard) oder die Frage nach dem Sinn (Tillich) oder etwa auch die Sprache in der hermeneutischen Theologie (Ebeling). Schließlich hat Wolfhart Pannenberg noch einmal im großen Stil vorgeführt, dass solche Fundierung der Theologie in der Anthropologie nicht nur möglich, sondern unter modernen Bedingungen unverzichtbar ist.
In diesem Sinne muss auch das menschliche Bildvermögen als Grundlage für jede Religion gewürdigt werden. Im Durchgang durch unterschiedlichste kulturwissenschaftliche Bildtheorien gibt der Verfasser nicht nur einen hervorragenden Überblick zur gegenwärtigen Debatte zum Bild. Er verarbeitet die Diskussion auch zu einer Typologie von vier Grundgestalten: das zeichentheoretische, das wahrnehmungstheoretische, das imaginationstheoretische und das negationstheoretische Bildverständnis. In einem zweiten Schritt verarbeitet er diese Bilddeutungstypen theologisch, um ihre jeweilige Stärke auch im Blick auf die Religion zur Geltung zu bringen. So kann Religion als „Bildvermögen im Horizont des Unbedingten“ (471) beschrieben werden.
Wie aber soll die Kirche des Wortes – das Bild so hoch schätzen können? Reizvoll ist die historische Spurensuche, auf die Krüger seinen Leser mitnimmt. In der Frühzeit des Christentums fehlen uns letztlich Belege für den Umgang mit Bildlichkeit. Von dem Moment an, wo das Christentum Kirchen baut, ist das Christusbild maßgeblicher Ausdruck christlicher Frömmigkeit. Das Bild Christi hat nicht nur für die Ikonographie der orthodoxen Kirchen zentrale Bedeutung. Das Bild spielt auch in der evangelischen Theologie eine erheblich größere Rolle, als vielfach vermutet wird. Nicht zuletzt Martin Luther hat neben seiner Betonung des Wortes auf die überragende Bedeutung des Bildes Christi verwiesen. Das Evangelium von Jesus Christus malt diesen mit Paulus gesprochen vor Augen (Gal 3,1). In diesem Sinne nennt Krüger eine Reihe von protestantischen Klassikern wie z. B. Martin Kähler, für deren Theologie die bildhafte Vermittlung des Glaubens zentrale Bedeutung besaß.
Zugleich kann die raffinierte Spurensuche nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Protestantismus in Sachen Bildlichkeit im Vergleich mit der ikonographisch orientierten Orthodoxie und dem bilderfrommen Katholizismus am wenigsten bildaffin ist. So sieht Krüger in der Bilderablehnung der Reformierten Tradition letztlich eine Engführung, die in der späteren Entwicklung weitgehend in Angleichung an die lutherische Sicht korrigiert worden ist.
Worin könnte denn nun das unterscheidend Protestantische liegen? Für Krüger ist es die prinzipielle Selbstzurücknahme, sei es im Blick auf die Kirche, sei es hinsichtlich der eigenen Lehre, die den Protestantismus zur kritischen Bildreligion werden lässt. Alle Ämter und Dienste der Kirche dienen dem Evangelium selbst, verweisen von sich weg auf Christus. Die traditionelle Schwäche des Protestantismus, sich selbst Form und Gestalt zu geben, bringt zugleich auch eine Offenheit für kulturelle Wandlungen mit sich. Das Zeitalter des iconic turn erreicht der Protestantismus mit leichtem Gepäck. Die Bildthematik macht auf neue Weise beschreibbar, dass Glaube stets vermittelt wie indirekt auf Gott bzw. das Unbedingte bezogen ist. Die Verweisungsfunktion des Bildes wird dabei stets kontrastiert durch ein negierendes Moment: Das Bild ist immer zugleich auch nicht das, worauf es verweist. Dem entspricht der Aspekt der Kontrafaktizität der protestantischen Rechtfertigungslehre. Was wir vor Gott sind, erschließt sich im Glauben und nicht einfach in der unmittelbaren Selbsterfahrung. Darum gibt es keine protestantische Religion ohne immanente Religions- bzw. Bilderkritik. Das Unbedingte darf so wenig mit dem Bedingten verwechselt werden wie das Bildobjekt mit seinem Bildsujet.
Von dieser Reflexion auf die Bedeutung des Bildes her lassen sich auch zu materialen Fragen der Theologie erhellende Perspektiven entwickeln, z. B. im Blick auf die Auferstehung Jesu Christi. Vielfach hat man in der Moderne gefragt, ob die Auferstehung Jesu als geschichtliche Realität oder als bloße Fiktion einzuordnen sei. Diese Alternative wird seiner Ansicht nach schon durch die biblischen Berichte unterlaufen, da diese an keiner Stelle die Auferstehung an sich selbst schildern. Als äußeres Faktum sei uns eine Auferweckung des Gekreuzigten durch Gott schlechthin entzogen. Die biblischen Texte berichteten vielmehr von den Auferstehungserscheinungen, die die ersten Jüngerinnen und Jünger bezeugten. Der Glaube an die Auferstehung ist weder rational beweisbar noch ein autoritätshöriger Sprung ins Ungewisse. „Es handelt sich vielmehr bei dem Glauben an Jesus als dem Bild Gottes um eine Zuversicht, die aus Einsicht kommt“ (524).
Wenn es für den menschlichen Weltzugang unvermeidlich ist, mittels Bilder Orientierung zu finden, ist jedem Objektivismus im Reden über Gott der Boden entzogen. Gott selbst ist nicht an sich verfügbar. Bedeutet das, dass der Projektionsvorwurf, wie er klassisch von Ludwig Feuerbach gegenüber dem Christentum erhoben wurde, zutrifft? Ja und Nein. Dass alle unsere Vorstellungen von Gott immer schon geprägt sind von unserem Imaginationsvermögen, kann grundsätzlich eingeräumt werden. Das betrifft jedoch nicht nur den menschlichen Umgang mit Religion, sondern jede Form menschlicher Orientierung. Diese Einsicht entlarvt keineswegs einen rein illusorischen Status religiöser Gedanken. Im Anschluss an Paul Tillich könne man unterscheiden zwischen der projektiven Tätigkeit des menschlichen Bewusstseins und der Projektionswand, die selbst keine Projektion ist (50ff). In diesem Bild entspricht Gott nicht den einzelnen Bildern in ihrem je bedingten Charakter, sondern der unverfügbaren Projektionswand, auf die sich der Mensch bezogen weiß. Glaube kann in diesem Sinne als eine Einbildung Gottes verstanden werden, im Sinne eines Genitivus subjectivus und objectivus.
Insgesamt halte ich diesen Entwurf für sehr erhellend wie in seinem Plädoyer für die unverzichtbare Bedeutung der Bildlichkeit für jede Religion und im Besonderen auch für den Protestantismus für überzeugend. Die Verhältnisbestimmung von Bild und Sprache ist m. E. fortführungsbedürftig. So mag es richtig sein, dass das Sehen das Hören gemeinhin an Evidenz und Glaubwürdigkeit übertrifft (299). Nur: Es ist gute reformatorische Tradition, das Sehen im Hören zur Präzision kommen zu lassen. Das Wort mag ohne die Bilder leer sein, doch die Bilder können ohne die Klärungen der Worte blenden. In diesem Sinne mag auch das protestantische Schriftprinzip als Archiv grundlegender Verbildlichungen Gottes nicht nur ein Aspekt der gegenwärtigen Krise des Protestantismus sein, sondern auch Teil ihrer Bewältigung werden können.
Prof. Dr. Thorsten Dietz, Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Tabor und Privatdozent an der Universität Marburg