Systematische Theologie

Frederik Elwert / Martin Radermacher / Jens Schlamelcher (Hg.): Handbuch Evangelikalismus

Frederik Elwert / Martin Radermacher / Jens Schlamelcher (Hg.): Handbuch Evangelikalismus, [transkript] Religionswissenschaft, Bielefeld: Transkript-Verlag, 2017, geb., 452 S., € 39,99, ISBN 978-3-8376-3201-9

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Bei dem Handbuch Evangelikalismus handelt es sich um eine durchgehend religionssoziologische Studie. Wie die Herausgeber bereits in der Einleitung darlegen hat das unglaubliche zahlenmäßige Wachstum der evangelikalen Bewegungen und Kirchen – vor allem in der südlichen Hemisphäre – den Anstoß zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Phänomen des Protestantismus veranlasst. Mit der Festlegung auf religionswissenschaftliche Fragestellungen und Methoden ist der Vorzug verbunden, dass viele typische Klischees, die in der theologischen Auseinandersetzung gang und gäbe sind, vermieden werden. Bei dem Bemühen um eine adäquate Definition des Evangelikalismus unterstreichen die Autoren, dass sich sehr wohl klar bestimmbare Merkmale sowohl historisch als auch religionsgeografisch aufweisen lassen. Andererseits stellt der Evangelikalismus ein vielschichtiges Erscheinungsbild dar, das sich in unterschiedlichen, teilweise sogar widersprüchlichen Inhalten und Organisationsstrukturen präsentiert. Die theologischen Gemeinsamkeiten evangelikaler Kirchen fassen die Autoren durch den Hinweis auf allgemein anerkannte Definitionen zusammen: nämlich ein strikter Biblizismus, die Notwendigkeit persönlicher Bekehrung und Heiligung sowie der Auftrag zu Mission und Evangelisation. Die Vielfalt der evangelikalen Bewegungen erklärt sich indes aus den unterschiedlichen konfessionellen Traditionen und der weltweiten Verbreitung evangelikaler Gemeinden. Das führt dazu, dass die Verfasser gelegentlich Schwierigkeiten haben, die einzelnen Stränge ihrer Analysen deutlich auseinanderzuhalten, da bestimmte Charakteristika in verschiedenen Weltregionen auftauchen.

Das Handbuch wird seinem Selbstanspruch verlässliche und breit angelegte Informationen zu geben aufs Ganze gerecht. Die klar gegliederten Beiträge sachkundiger Autoren ergeben ein detailliertes Mosaik des Evangelikalismus. Die Leser können sich rasch über Einzelthemen und Aspekte kundig machen. Die beiden Hauptteile des Werkes bearbeiten einerseits die historischen Hintergründe und Zusammenhänge im Blick auf verschiedene Kontinente. Andererseits erläutern die Verfasser Spezifika der Frömmigkeitspraxis, der Sozialformen und spezifischer Sach- bzw. Lebensbereiche, wie z. B. Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Sport, Soziale Arbeit usw.

Deutlich ergibt sich aus dem Vergleich der einzelnen religionsgeografischen Studien die besondere Bedeutung des Evangelikalismus in den USA, der nicht zuletzt durch prominente Persönlichkeiten (wie Billy Graham) wesentlich zur internationalen Beachtung des Evangelikalismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beigetragen hat. Nicht übersehen darf man hinsichtlich des evangelikalen Selbstbewusstseins das Zusammenspiel der in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts gegründeten World Evangelical Fellowship (heute World Evangelical Alliance) mit ihrer stabilen Infrastruktur und der sich in dynamischen Großveranstaltungen entfaltenden Lausanner Bewegung. Beide Organisationsformen sind für die Wahrnehmung der Evangelikalen im ökumenischen Kontext von herausragender Bedeutung.

Die Entwicklung der Evangelikalen in Afrika zeigt nach Überzeugung der Verfasser, wie sich aus der pietistisch geprägten Mission des 19. Jahrhunderts ein konservatives aber höchst vitales protestantisches Kirchentum in nahezu allen Konfessionen entfaltet hat. Der Beitrag über den Evangelikalismus in Afrika von Jörg Haustein sei deshalb kurz exemplarisch für die religionsgeografische und religionshistorische Arbeitsweise der Autoren skizziert. Haustein beschreibt zunächst Beurteilungen aus einem dezidiert anti-evangelikalen Hintergrund, um dann die Missionsbewegung des 19. Jahrhunderts, die Glaubens- und Heiligungsbewegung und schließlich das Entstehen der Pfingstkirchen in Afrika sachlich zu beschreiben.

Die London Missionary Society war von der englischen Erweckungsbewegung inspiriert und hat in der Folgezeit entscheidende Einflüsse auf die Entstehung des Evangelikalismus in Afrika gehabt. Von deutscher Seite sind es vor allem überkonfessionelle pietistisch geprägten Missionsgesellschaften, wie die Berliner, Basler, Rheinische, Leipziger und Hermannsburger Mission gewesen, die den Evangelikalismus auf dem schwarzen Kontinent geprägt haben. Der Kampf gegen Sklaverei, das Insistieren auf die Eingeborenensprache bei der Bibelübersetzung und nicht zuletzt das Verlangen nach persönlicher Bekehrung standen im Zentrum dieser Missionsarbeit. Die Glaubensmissionen haben sich als Gegenbewegung zur Bürokratisierung und Konfessionalisierung des etablierten Kirchentums verstanden. Sie versuchten, ins Innere des afrikanischen Kontinents vorzudringen, indem sie eine Kette von Missionsstationen aufbauten.

An die Glaubensmissionen konnte dann die Pfingstbewegung anknüpfen. Ihr ging es vorzugsweise um übernatürliche Krankenheilungen, die Praxis der Zungenrede und das prophetische Reden. Als problematisch stellte sich jedoch das in den 1950er Jahren aufbrechende sog. „Wohlstandsevangelium“ dar.

Insgesamt belegt der Artikel von Haustein, dass sich die Autoren um sachliche Objektivität bemühen und ihre religionssoziologischen Urteile auf wissenschaftliche Arbeit gründen. Das Gewicht der Evangelikalen in Afrika lässt sich wesentlich aus der Verknüpfung von kontinentaleuropäischem Pietismus und dem angelsächsischen Methodismus bzw. Baptismus in Verbindung mit der pfingstkirchlich-charismatischen Bewegung erklären. In dieser wechselseitigen Verstärkung liegen die eigentlichen Zukunftskräfte des Evangelikalismus, wie ihn die Verfasser sachgemäß beschreiben.

Die vielen hilfreichen Einzelkapitel zu diversen Sachthemen mit ihren Facetten, die von den Autoren konzentriert erörtert werden, können hier ebenfalls nur exemplarisch angedeutet werden.

In dem Beitrag „Evangelikalismus und Wissenschaft“ umreißt z. B. Sebastian Schüler das Spannungsverhältnis von Evangelikalen und Naturwissenschaftlern. Auch hier zeigt sich die Dominanz des US-amerikanischen Einflusses auf den weltweiten Evangelikalismus. Beispielhaft wird dies im Blick auf die Diskussion um die Evolutionstheorie und die biblische Schöpfungslehre entfaltet. Der „Scopes Monkey Trial“ macht die politische Dimension der Auseinandersetzung besonders hinsichtlich des Schulunterrichts deutlich. Sebastian Schüler zieht die Linien weiter und benennt die Differenzierung, die das Konzept des „Intelligent Design“ ermöglicht als Ansatzpunkt für das Gespräch mit „aufgeschlossenen Evangelikalen“, die sich über die Naturwissenschaft hinaus auch für ökologische Aufgaben engagieren.

Im Fazit des Beitrags von Schüler wird seine wohlwollende Prävalenz für liberalprotestantische Tendenzen in der evangelikalen Bewegung sichtbar.

Abschließend ist im Zusammenhang des Handbuches auch danach zu fragen, warum die ansehnliche Evangelikalismusforschung aus evangelikaler Feder nicht berücksichtigt wurde. Der Grund ist wohl in der konzeptionellen Beschränkung auf religionssoziologische und religionswissenschaftliche Fragestellungen zu suchen. Dadurch werden allerdings relevante Aspekte zum Thema übersehen.

Das Handbuch ist in jedem Fall mit seinen Literaturverweisen und ausführlichen Bibliografien ein Forschungsbeitrag, der in seiner wissenschaftlichen Gründlichkeit aufgenommen und weiterdiskutiert werden sollte.

Prof. Dr. Rolf Hille (Heilbronn), Professor für Systematische Theologie, Freie Theologische Hochschule in Gießen