Michael Bräutigam: Gemeinschaft mit Christus
Michael Bräutigam: Gemeinschaft mit Christus. Adolf Schlatters Christologie der Beziehung, Aus dem Englischen von Thomas Wehr, Zürich: Theologischer Verlag, 2017, Pb., 239 S., € 48,90, ISBN 978-3-290-17897-0
Beim Buch handelt es sich um die aus dem Englischen übersetzte Druckfassung der Dissertation des Autors zur Erlangung eines PhD an der Universität Edinburgh (was leider nur dem 2015 bei Pickwick/Wipf and Stock erschienenen Original, nicht jedoch der Übersetzung zu entnehmen ist). Der Vf. war 2012–2014 Pastor der Freien evangelischen Gemeinde St. Wendel und lehrte danach an der Melbourne School of Theology. Zurzeit arbeitet er in Edinburgh an einem Postdoc-Projekt.
Die Arbeit soll zeigen, „dass das zentrale und wesentlichste Merkmal seiner [Schlatters] Christologie ihre relationale Ausrichtung ist“ (31). Dazu unterteilt der Vf. seine Untersuchung in einen biographisch-theologischen sowie einen systematisch-theologischen Hauptteil. Die Berücksichtigung des biographischen Kontextes von Schlatter wird mit dessen eigenem Verständnis begründet, wonach „Denkakt“ und „Lebensakt“ eine Einheit bildeten, die Tätigkeit der Vernunft also stets in konkrete Lebenszusammenhänge eingebunden ist. Hier hätte es nahegelegen, neben dem Selbstverständnis Schlatters weitere Gründe für dieses Vorgehen anzugeben.
Die Durchführung dieses ersten Teils ist im Ganzen überzeugend gelungen. Nach einem Durchgang durch die Lebensstationen Schlatters sucht der Vf. Schlatters Ort im Spannungsfeld der theologischen Schulen seiner Zeit zu bestimmen. Konkret: zwischen Idealismus und Erweckungsbewegung, zwischen Ritschlianismus und Konfessionalismus sowie „zwischen den Zeiten“, gemeint ist seine Stellung zwischen den „alten“ theologischen Schulen vor dem Ersten Weltkrieg und der aufkommenden Dialektischen Theologie insbesondere Karl Barths. Es gelingt dem Vf., Schlatters Christologie im Verhältnis zu theologischen Ansätzen zu profilieren, auf die sich dieser in der Dialektik von Anknüpfung und Widerspruch bezieht. So wird deutlich herausgearbeitet, in welchen Hinsichten Schlatter seinem Tübinger Lehrer Johann Tobias Beck folgte und in welchen nicht. Auch die kritische Rezeption Franz Baaders wird ausgeleuchtet. Differenziert entwickelt der Vf. Schlatters Verhältnis zu den christologischen Konzeptionen Ritschls, Harnacks und Herrmanns. Spannend zu lesen ist auch, wie sich das theologische und persönliche Verhältnis zu Barth entwickelte, nämlich dass sich dieses nach den Darlegungen des Vf. bei aller Differenz doch erstaunlich positiv gestaltete. Im Ergebnis hält der Vf. fest, dass Schlatter gegenüber idealistischen Konzeptionen „Einheit, Beobachtung, Geschichte, Volition und Relation“ als Grundfesten seiner eigenen Christologie konstituierte (78, die Begriffe werden im zweiten Hauptteil näher bestimmt), er gegenüber der liberalen Theologie an der „Möglichkeit eines universellen, auf objektiven, historischen Tatsachen basierenden Wissens über Gott“ festhält (106) und er Barths Betonung der Transzendenz zwar begrüßte, zugleich jedoch kritisierte, dass Barth dabei die Schöpfung (bzw. Natur), die Geschichte und den Menschen aus dem Blick verliert (126).
Die Struktur des zweiten Hauptteils folgt Schlatters Unterscheidung und Zuordnung von „Sehakt“, „Denkakt“ und „Lebensakt“. Das bedeutet, dass Schlatter zunächst als empirisch-realistischer Ausleger des Neuen Testaments in den Blick kommt, der die historischen Quellen aus der Perspektive des Glaubens untersucht und zugleich die Kontextbezogenheit der neutestamentlichen Schriften betont (133). Dabei vertritt er die Einheit von historischem Jesus und Christus des Glaubens sowie die Einheit seines Wesens als Gott-Mensch und seiner Handlungen. Zwei Kapitel sind Schlatters Christologie in dogmatischer Perspektive gewidmet. Hier wird gezeigt, dass Christus einerseits in einer Beziehung zu Gott (Kap. 4) und andererseits in einer Beziehung zu den Menschen (Kap. 5) steht. Diese Verschränkung von vertikaler und horizontaler Gemeinschaftsdimension gibt der Arbeit ihren Titel sowie ihre These, die wesentlich in diesen beiden Kapiteln ausgearbeitet wird. Der relationale Charakter dieser Christologie wird konkret in Schlatters Zurückhaltung greifbar, das Miteinander und Ineinander von göttlicher und menschlicher Natur in der Person Christi näher zu bestimmen. Nach Schlatter führt dies nur in unfruchtbare Spekulationen hinein. Entscheidend sind für ihn die Kategorien der Gottessohnschaft und des Gehorsams des Sohnes gegen Gott. In Schlatters Christologie kommt für das Verstehen von Person und Werk Christi der Willenseinheit von Vater und Sohn Vorrang vor beider – von ihm freilich nicht bestrittenen – Wesenseinheit zu. Daher spricht der Vf. von einer „volitional“ akzentuierten Christologie, wobei dieser Ansatz durch Einbeziehen des Heiligen Geistes eine trinitarische Einbettung erfährt. Die Beziehung zum Menschen („Menschendienst“) ist nach Schlatter ganz von Christi Beziehung zu Gott („Gottesdienst“) her zu bestimmen. In diesem Kapitel treten einige Schlatters Christologie ihr besonderes Gepräge gebende Gedankengänge hervor. So offenbare sich die Göttlichkeit Jesu „am Kreuz vor allem dadurch, dass er in der Gottverlassenheit die Beziehung zu Gott aufrechterhält“ (175), sich also in der Gottverlassenheit zu Gott hält. Bemerkenswert ist auch, dass Schlatter, dessen Kreuzestheologie sich noch deutlicher als eine Theologie der Gabe hätte konturieren lassen, die Gemeinde als die Gabe versteht, die der Vater dem Sohn als Krönung seines Werkes auf Erden übergibt, womit freilich Spannungen zum Verständnis der Geistausgießung an Pfingsten als Gründungsakt der Gemeinde entstehen.
Das sechste Kapitel zum „Lebensakt“ unterstreicht noch einmal die auf Gehorsam und Dienst zielende (und insofern ethische-volitionale) Grundrichtung von Schlatters Christologie. Das Wollen bestimmt Schlatter ausdrücklich als die „höchste Funktion unseres Lebens“ (zit. 200). Diskutiert wird Schlatters Distanzierung von den Reformatoren, die er zu sehr die Passivität (bei Schlatter: Empfänglichkeit) des Menschen zulasten der Aktivität in Gehorsam und Dienst betonen sieht. Der Vf. tendiert dazu, diese Spannung zwischen (hier konkret) Calvin und Schlatter einzuebnen. Der Band schließt mit einem den Ertrag bündelnden Fazit.
Das Buch zeichnet sich durch eine schlüssige Gliederung und sehr gute Verständlichkeit aus. Etwas irritierend ist der Ausdruck „trinitär“, der mir vorher noch nicht begegnet ist. Sprachlich ungelenk wirkt die Frage „Wo ist Adolf Schlatter?“, mit der nach seiner historisch-theologischen Verortung gefragt wird. Das Schrifttum Schlatters wird umfassend ausgewertet, also selbst Schlatters Andachtsbuch, Kleinschriften und bislang unveröffentlichte Texte werden berücksichtigt, wenn freilich der Schwerpunkt auf den Hauptwerken liegt. Schlatters Veröffentlichungen werden im theologischen Kontext der Zeit gedeutet und beziehungsreich entfaltet. Allerdings bleibt die theologische Analyse doch häufig zu sehr an der Oberfläche. Mehrfach wird gesagt, dieser oder jener Punkt bedürfe noch einer genaueren Untersuchung – warum ist diese Arbeit nicht der Ort dafür? In einer Arbeit mit dem Titel „Gemeinschaft mit Christus“ (im Engl. „Union with Christ“) kann es einfach nicht heißen: „In Schlatters Bild von unserer Gemeinschaft mit Jesus finden sich noch weitere Motive, die unsere nähere Beachtung verdient hätten, doch wollen wir uns hier zurückhalten und der künftigen Schlatter-Forschung den Vortritt lassen“ (217). Dies ist eine Zurückhaltung, die in einer (zumal nur gut 200 Druckseiten umfassenden) Dissertation eher nicht zu erwarten ist. Enttäuschend sind die Ausführungen zur Erkenntnistheorie, für die sich der Vf. auf Jochen Walldorfs einschlägige, sehr genaue Untersuchung hätte stützen können (die in der Bibliographie aufgeführt ist, aber nicht substantiell ausgewertet scheint). So wird zwar deutlich, dass für Schlatter „objektive Treue“ zum Gegenstand und subjektive Beimengungen des erkennenden Ich einander nicht ausschließen, aber diese wichtigen Punkte hätten einer stärkeren Einordnung in die Diskussion bedurft, um sie kritisch würdigen zu können.
Auch um Schlatters Überlegungen zur Gottverlassenheit Jesu am Kreuz stärker zu profilieren, wäre es förderlich gewesen, auf Jürgen Moltmann nicht nur hinzuweisen, sondern Schlatter näher mit ihm zu vergleichen. Ebenso hätte die theologiegeschichtlich kritische Frage nach dem Verhältnis von Passivität und Aktivität des Menschen im Heilsgeschehen eine noch tiefer gehende Behandlung verdient. Auffällig ist auch, dass sämtliche gegen Schlatters christologische Konzeption vorgebrachten Einwände, die jeweils am Kapitelende referiert werden, in der Sache zurückgewiesen werden, so dass die kritische Distanz des Vf. gegenüber seinem Untersuchungsgegenstand für mich in Zweifel steht.
Fazit: Die Stärke der Arbeit liegt darin, mit der Christologie einen (nicht nur) für Schlatter zentralen und wesentlichen Aspekt des gläubigen Nachdenkens in sehr verständlicher Sprache herausgearbeitet zu haben. Dies sowie die gut proportionierte Kapiteleinteilung empfehlen das Buch für die Verwendung in Lehre und (vielleicht sogar) theologisch interessierten Gemeindekreisen. Was die Christologie Schlatters als Gegenstand der Forschung angeht, leistet die vorliegende Arbeit einen wichtigen Beitrag, belegt aber zugleich den Bedarf weitergehender und vertiefender Untersuchungen.
Prof. Dr. Christoph Raedel, Professor für Systematische Theologie und Theologiegeschichte an der Freien Theologischen Hochschule Gießen