Altes Testament

Rainer Kessler: Der Weg zum Leben

Rainer Kessler: Der Weg zum Leben. Ethik des Alten Testaments,Gütersloh: Gütersloher, 2017, geb., 699 S., € 34,99, ISBN 978-3-579-08135-9

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Vorliegendes Werk des emeritierten Marburger Alttestamentlers Rainer Kessler ist die erste deutsche alttestamentliche Ethik seit Eckhart Otto (1994). An dessen Entwurf bemängelt Kessler die Beschränkung auf Rechts- und Weisheitstexte, es fehlt praktisch die gesamte narrative und prophetische Tradition (73f). Im Gegensatz dazu möchte er nun „kanonisch“ vorgehen, einer am evangelischen (69) „Kanon entlanggehenden Darstellung den Vorzug zu geben“ (62), und das historisch-kritisch (566).

Eingebettet in diese kanonische Lektüre sind 20 als Textboxen gestaltete Impulse zu ethischen Problemfeldern. Viele befassen sich mit Fragen von Staat und Wirtschaft (Nr. 2, 5, 11, 13, 14). Es geht hier aber auch um Grundlagen der Ethik (Nr. 1, 4, 8, 19) und Schwierigkeiten, welche sich aus alttestamentlichen Texten selbst (Nr. 3, 9, 18, 20) oder einer fragwürdigen Hermeneutik ergeben (Nr. 7, 10). Die dort gezogenen Querverbindungen zu Systematik, Philosophie und Literatur sind oft sehr informativ und lehrreich.

Natürlich bleibt auch manches strittig, wenn etwa in Impuls 9 zum Thema Homosexualität die Belegstellen Lev 18 und 20 – mit einer hermeneutischen Stahlbürste, so wird es manchem erscheinen – dem ideologischen Trend der Gegenwart angepasst werden (vgl. Gnadauer Verband, 571f). Besonders problematisch erscheint hier der vermittelte Eindruck, dass solche Reinheitsgebote „keineswegs immer beachtet“ werden (brauchen), da sich ja selbst der Erzvater Jakob nicht an Lev 18,18 gehalten und zwei Schwestern geheiratet habe. Eine kanonische Lektüre müsste aber gerade andersherum argumentieren: Jakob lebt vor Mose; sein Drama unterstreicht die Notwendigkeit, dass Jahwe dieser Unsitte in Lev 18 endlich einen Riegel vorschiebt.

Im Folgenden kann nur eine Auswahl an Beobachtungen zum Hauptteil des Werks geboten werden, der kanonischen Darstellung:

A. Tora. Die Einbettung der Tora-Weisung in einen erzählerischen Rahmen deutet Kessler mit Hilfe von einem „Zwei-Säulen-Modell“ (89): Auf den Säulen „Segen“ (Gen) und „Befreiung“ (Ex 1–15) ruht die Forderung nach Gerechtigkeit (Gesetz).

Es ist dabei überraschend, wie wenig Beachtung Kessler den Textsignalen in Genesis 1–3 schenkt, welche auf Ungehorsam und Todverfallenheit des Menschen hindeuten. Anders als bei Paulus (hier ist Kesslers Begriff von „kanonisch“ nicht mit „biblisch-theologisch“ zu verwechseln) erscheint die Todesdrohung von 2,17 bei Kessler als nicht in 5,5 umgesetzt (107). Adam und Eva verlassen den Garten nicht als gefallene Sünder, sondern mit göttlicher Weisheit ausgestattet, „unwiederbringlich ‚autonom‘. Die Menschen können zwischen ‚gut und böse‘ unterscheiden, und sie müssen das in jeder ethischen Situation immer wieder von Neuem tun. Diese Entscheidung kann ihnen kein göttliches Gebot abnehmen“ (111f). Erst später erscheinen Menschen auch als „faktisch unfrei“ (112). „Nicht Gen 3, sondern Gen 4 ist die ‚Ursündenerzählung‘.“ (114).

Eine zweite Überraschung bilden bei einer kanonischen Lektüre die Rückschlüsse, die Kessler auf das Gottesbild der Fluterzählung zieht. Gott habe erst lernen müssen, dass Gewalt keine Lösung sei (117f). Ist das hier wirklich noch der weise Weltenschöpfer aus Genesis 1 oder eher ein Bub, der beim Zurückschubsen im Sandkasten erwischt worden ist?

Sehr schön arbeitet Kessler heraus, dass die biblischen Erzväter keine Helden sind und übernimmt von J. G. Seume die Beschreibung der Erzählungen als „ein Gewebe menschlicher Torheiten und Tugenden“ (135). Die ethische Bedeutung von Gen 18,19 für das gesamte Buch wird nicht wahrgenommen. Dass Abraham beseelt gewesen sei von einem „Wunsch nach friedlichem Zusammenleben und interkulturellem Austausch“ (129), erscheint ebenso als neuzeitliche Projektion, wie der später recht unvermittelt auftauchende und oftmals wiederholte Terminus „vorrangige Option für die Armen“ aus der lateinamerikanischen Befreiungstheologie (Puebla 1979).

Intensiv beschäftigt sich Kessler mit Funktion und Verhältnis einzelner Gebotstexte zueinander. Der Dekalog ist nicht Summa oder Zusammenfassung der Tora, sondern ihr Eingangsportal und Ouvertüre (198). Erstaunlicherweise geht er nicht auf die Möglichkeit einer Dekalogstruktur des Deuteronomiums ein. Da er so die Verbindung von „Ehre Vater und Mutter“ zum Ämtergesetz (Dtn 16,18–18,22; vgl. 320f) nicht sieht, kommt er zur Deutung, das Gebot beziehe sich nur auf „die alten bedürftig gewordenen Eltern und nicht die Autoritätspersonen“ (188).

Gewiss ist es der Kürze der Darstellung geschuldet, dass Kesslers Begründungen für seine Datierungen nicht immer überzeugen wollen. Auf der Suche nach einem passenden Kontext für das Bundesbuch springt Kessler von den Erzvätern gleich in die Königszeit – d. h. er vergisst Mose, die kanonisch bezeugte Institution des Rechts (!) – und entscheidet sich vage mit „vermutlich“ (212). Ein zweites Beispiel ist die Datierung eines angenommen Ur-Dtn durch de Wette, welche „im Wesentlichen nach wie vor im Recht“ sei (246). An dieser Stelle wäre zumindest ein Hinweis darauf wünschenswert gewesen, dass de Wettes zirkelschlüssige Argumentation die Beweislast einer solchen Datierung definitiv nicht tragen kann, vgl. Eckart Otto, Das Deuteronomium. Politische Theologie und Rechtsreform in Juda und Assyrien,BZAW 284, Berlin: De Gruyter, 1999, 6–14.

Sehr gut beschreibt Kessler die Argumentation im Dtn u. a. als „Kreislauf des Segens“: Der Wohlhabende wird zur Freigiebigkeit dadurch motiviert, dass Unbarmherzigkeit zum Zerfall der Gesellschaft und dann auch zu seinem eigenen Schaden führen würde (259). In einer sehr lesenswerten Auseinandersetzung mit Adam Smith und Karl Marx gelangt er schließlich zu einer sozialutilitaristischen Begründung sozialer Gerechtigkeit (266).

B. Die Prophetie. Aus den Vorderen Propheten greift Kessler nur drei „Felder“ heraus: §20. Die Ausrottung ganzer Völkerschaften (Jos), §21. die Diskussion um die rechte Staatsform (Ri, Sam), §22. David als (kein) Vorbild moralischen Verhaltens (vielmehr als Beispiel eines Menschen, der „den Wirrungen der conditio humana unterworfen“ ist, 346).

Besonders interessant ist Kesslers apologetischer (33f) Umgang mit Kritik am Buch Josua. Sein Vorgehen lässt sich in vier Schritte unterteilen: 1. Kessler stimmt der Sachkritik an einem Gott, der das Töten befiehlt, rückhaltlos zu (303). 2. Er leugnet die Historizität der Landnahme („Nun ist längst bekannt…“, 299). Das alles sei nie wirklich passiert, und wenn es passiert wäre, hätten die Israeliten darin eher versagt als geglänzt (Ri 1). 3. Er gewinnt der Erzählung neuen Sinn ab durch eine Art Psychologisierung: Die „dahinterstehende Vorstellung, Identität durch Abgrenzung zu wahren“ bringe ein hochaktuelles Thema auf den Tisch (310). Statt verworfen zu werden, bekommt der Text so einen neuen Wert. 4. Endgültig bezwingt Kessler ethisch bedenkliche Gedanken durch „Einfriedungsmaßnahmen“ (310): hermeneutische Regeln und Gegentexte.

In den hinteren Propheten legt Kessler für Jesaja drei Schwerpunkte (5,20; 42,1; 56,1). Jeremia stellt er als Sozialkritiker und Tora-Lehrer vor. Problematisiert wird das Gottesbild des Hesekiel: dieser stelle Gott als gewalttätigen Patriarchen dar, der seine Frau in der Öffentlichkeit vergewaltige, steinige und verstümmele (404). Ausgehend von einem in Hes 18 gefundenen „Prinzip der individuellen Verantwortung“ kommt Kessler auf die Frage nach historischer Schuld zu sprechen (406–414). Von den zwölf Propheten behandelt er nur Hosea, Amos, Micha und Maleachi und muss sich auch hier ein weiteres Mal (wie er beklagt, 416) intensiv mit der Gewalttätigkeit Gottes auseinandersetzten. Zusammenfassend stellt er fest, dass sich „das Binom ‚Recht und Gerechtigkeit‘ wie ein Leitmotiv“ (432) durch die hinteren Propheten zieht und unterschiedlichste Felder materialer Ethik umfasst. Die hinteren Propheten durchbrechen den israelzentrierten Partikularismus und eröffnen den Blick auf die Völker auch in ethischer Hinsicht (437–441).

C. Die Schriften. Noch stärker als im zweiten Kanonteil begrenzt Kessler sich im dritten. Die Bücher Rut (vgl. jedoch 559–561), Hld, Klgl, Est, Dan werden nicht behandelt (445), für die Chronik bleiben nur 1½ Seiten (534f). Im Psalter erkennt Kessler eine „Brückenfunktion“ zwischen Kult und Geistigem, zwischen Tora und Prophetie (461). Kessler setzt sich mit der Frage der Rache auseinander (Ps 82), dem Bild des gerechten Menschen (Ps 1f; 72; 15; 111f) und dem Thema Schuld/Vergebung (Ps 32; 38; 51). Der „Weisheit“ ordnet er die Bücher Hiob, Sprüche und Prediger zu. Kessler formuliert das Verhältnis zur Tora so: „die Tora formuliere Pflichten, die Weisheit dagegen Tugenden“ (506), wobei er eine Gemeinsamkeit darin sieht, dass die Weisheit Israels überraschenderweise ähnlich wie die Tora das direkte Eingreifen Gottes betont (503f).

Die letzten fünfzig Seiten des Buchs widmen sich in vier Teilen der Frage der Anwendung. Erstens geht es um die Frage, wie die Tora für Israel als Bibel der Christen verstanden werden kann. Kessler betont die in der Bergpredigt formulierte vollumfängliche Gültigkeit der Tora, für Christen jedoch immer nur als „ausgelegte Tora“ (551).

Die zweite Frage beschäftigt sich unter dem Stichwort „Vielfalt“ mit Widersprüchen, welche Kessler im Alten Testament entdeckt und die nach seinem Urteil „nur um den Preis einer ungebührlichen Vereinfachung“ (61) ausgeglichen werden könnten. Konkret nennt er interkulturelle Ehen (Esr 9f ↔ Rut, 61, 559–561), Gemeindegesetz (Dtn 23 ↔ Jes 56, 130, 558f), Zubereitung des Passa (Ex 12,8f ↔ Dtn 16,7, 557), Sklavenfreilassung (Dtn 15 ↔ Lev 25, 557f), Staatsform (Ri, Sam; 562) und Gottes Haltung zu Krieg (Ex 15,3 ↔ Ps 46,10, 562), wobei man sich bei manchen der Beispiele des Eindrucks nicht erwehren kann, dass eher die Konstruktion des Widerspruchs eine „ungebührliche Vereinfachung“ darstellt, nicht zuletzt angesichts der zahllosen exegetischen Erklärungsansätze. Kessler würde sich jedoch missverstanden fühlen durch eine Unterstellung, dass er „der Beliebigkeit ethischer Entscheidungen Tür und Tor“ öffnet (131), wenn er der biblischen Überlieferung bescheinigt, „dass sie, statt Eindeutigkeiten zu behaupten, … mögliche Entscheidungen vorstellt, ohne sie absolut zu setzen“ (130). Denn nicht der Leser pickt sich die ihm passende Antwort heraus, sondern die Sozialgeschichte ist der entscheidende Schlüssel für den rechten Umgang mit den einzelnen „Grundspannungen“, der sehr differenziert ausfallen kann (561f): Abwägen nach Maß, situationsethisches Vorgehen, Verlagerung der Frage, eschatologische Auflösung usw.

Die dritte Frage ist, wie man heute zu ethischen Entscheidungen kommen kann, wenn das reformatorische Schriftprinzip nicht aufrechterhalten werden könne (da die Schrift weder irrtumslos noch selbstgenügsam sei, 572) und sich eine „bibeltreue“ Ethik von vornherein als Lösung verbiete – jeder vernünftige Mensch wird hier sofort zustimmen, Kesslers Karikatur von „Bibeltreue“ ist einfach nur grässlich (571f). Ausgehend von Hans Joas bindet Kessler die ethische Entscheidung eines Christen über seine religiöse Tradition (die ihm „unhintergehbar“ vorgegeben sei, 573) zurück an die Schrift, die lediglich als „Impuls“ dient: „das ist kein Akt der Unterwerfung unter diese Texte, sondern ein Akt der produktiven Aneignung“ (577). Es gebe in den Texten keine überzeitlichen Normen, sondern in Auseinandersetzung mit den Texten lernen wir, wie wir zu Normen gelangen können. Auch hier bewahre der sozialgeschichtliche Zugang als entscheidender Schlüssel für Verständnis und Übertragung vor Beliebigkeit. Letztlich führt die ganze Argumentation Kesslers zurück zu der alten Frage, ob ein solcher „lebendiger Diskurs…, der sich ständig weiterentwickelt“ (280) wirklich durch die Tora vorgegeben oder seit den 1970er Jahren durch Rainer Albertz u. a. phantasievoll in diese hineingelesen worden ist.

Abschließend fragt Kessler, wie eine Ethik des Alten Testaments in den Diskurs der Moderne eingebracht werden kann. Die zu vermittelnde „Grundstruktur“ fasst er zusammen mit den Worten: „der Segen Gottes für die Menschen und ihre Befreiung aus jeglicher Unterdrückung mit dem Ziel eines guten Lebens in Gerechtigkeit und Frieden“ (590), noch knapper „Befreiung aller zu einem guten Leben“ (591).

Somit ist der Titel des Buchs Programm: Es geht für Kessler bei alttestamentlicher Ethik nicht um Gehorsam gegenüber dem Willen eines lebendigen Gottes (Dtn 30,15–20), sondern um Impulse aus vorgegebener religiöser Tradition für eigenverantwortliche Entscheidungen, den „Weg zum Leben“ im irdischen Sinn. Trotz aller Hinweise auf innerbiblische Rezeptionsgeschichte steht hier die Frage im Raum, ob dies dem funktional kanonischen Anspruch der hebräischen Bibel gerecht werden kann, oder ob sich Kesslers kanonischer Zugang faktisch – in Betonung von Vollumfang und Leserichtung – auf seine formale Dimension begrenzt.

Positiv hervorzuheben sind die zahlreichen Bezüge zu ethischen Herausforderungen der Gegenwart von Massentierhaltung bis Euro-Krise. Kessler ist mit der aktuellen Kritik am Alten Testament durch Notger Slenczka, Winfried Schröder, Richard Dawkins (29–34), sowie Jan Assmann (150, 343f; 418f) vollumfänglich bekannt und reagiert grundsätzlich unaufgeregt und verständnisvoll.

Eine große Stärke Kesslers ist eine verständliche, klare Sprache im exegetischen und forschungsgeschichtlichen Bereich. In wenigen Worten bringt er die Bedeutung theologischer Klassiker auf den Punkt. Darüber hinaus bemüht sich Kessler sichtlich darum, aktuellste Beiträge zu berücksichtigen.

Sehr lästig ist bei einem wissenschaftlichen Werk dieses Umfangs das Endnotensystem mit reinen Kurzbelegen. Das Stichwort- und Bibelstellenregister hingegen, sowie die kursiv gedruckten Inhaltsangaben zu Beginn eines jeden Kapitels bieten großartige Leseerleichterung.

Dr. Siegbert Riecker ist Lehrer an der Bibelschule Kirchberg und External Instructor an der Evangelischen Theologischen Faculteit in Leuven.