Heiko Wenzel (Hg.): The Book of the Twelve
Heiko Wenzel (Hg.): The Book of the Twelve. An Anthology of Prophetic Books or the Result of Complex Redactional Processes?, Osnabrücker Studien zur Jüdischen und Christlichen Bibel 4, Göttingen: V&R unipress; Osnabrück: Universitätsverlag, 2018, Hb., 190 S., € 35,–, ISBN 978-3-8471-0730-9
Seit den Arbeiten von Paul House (eine eigene Variante kanonischer Exegese) einerseits und von O. H. Steck, E. Bosshard-Nepustil, J. Nogalski und A. Schart (redaktionsgeschichtliche Exegese) andererseits spielt in der Auslegung der „kleinen Propheten“ (Zwölfprophetenbuch; im Folgenden „XII“) die These von dem Zwölfprophetenbuch als literarischer Einheit eine wesentliche Rolle. Gewichtige Aufsatzsammlungen und Monographien sind inzwischen erschienen, die Parallelen und Unterschiede innerhalb der verschiedenen Prophetenschriften bestimmen und so auswerten, dass sie ab einem frühen Stadium der Entstehung mit umfangreichen redaktionellen Abstimmungen hinsichtlich ihres Zusammenhangs innerhalb des entstehenden XII rechnen bzw. diese nachzuweisen suchen. Die These hat auch Eingang in Einleitungswerke der alttestamentlichen Wissenschaft gefunden (siehe z. B. die Einleitung in das Alte Testament von Erich Zenger [hg. von Christian Frevel, 9. Auflage 2016] oder der Beitrag zum Zwölfprophetenbuch von Konrad Schmid in J. C. Gertz [Hg.], Grundwissen Altes Testament, 5. Auflage 2016) und gilt manchen sogar als gesichert. Freilich fehlt es auch nicht an Gegenstimmen, die die Einheit als Buch bestreiten und z. B. den Begriff der „Anthologie“ für die Beschreibung der ungewöhnlichen Zusammenstellung von zwölf Prophetenschriften innerhalb einer Rolle gebrauchen.
In diesem forschungsgeschichtlichen Umfeld ist es Heiko Wenzel, Professor für Altes Testament an der FTH Gießen, gelungen, eine Tagung an der ETF Leuven zu organisieren, die nach dem Verhältnis genau dieser konträren Positionen fragte: „The Book of the Twelve: An Anthology of Prophetic Books or the Result of Complex Redactional Processes?“ (dt.: Das Buch der Zwölf: eine Anthologie von Prophetenbüchern oder Resultat komplexer Redaktionsprozesse?). Die Beiträge zu dieser Tagung liegen in dem hier zu besprechenden Buch vor und umfassen im Einzelnen:
Georg Fischer: „Foreword“; Thomas Renz: „Habakkuk and Its Co-Texts“; Christopher R. Seitz: „The Unique Achievement of the Book of the Twelve. Neither Redactional Unity Nor Anthology“; Lena-Sofia Tiemeyer: „Reading Zechariah’s Vision Report in the Book of the Twelve“; Johannes Taschner / Heiko Wenzel: „Narrative, Debate, and the Book of the Twelve“; Heiko Wenzel: „One or Twelve? Hermeneutics, Expectations, and A Framework for Reading the Twelve“; Hendrik J. Koorevaar: „The Twelve and the Fifteen: About the Size, Order, and Relationship inside the Writing Prophets“; Andrew E. Hill: „A Theology of Prayer in the Book of the Twelve.“ Eine Bibliographie der erwähnten Sekundärliteratur und ein Bibelstellenregister beschließen den Band.
Die Stärke des Bandes besteht in der Verschiedenheit der Ansätze, die hier zur Sprache kommen. Rhetorische (Renz), kanonische (Seitz) bzw. kanon-strukturelle (Koorevaar), redaktionsgeschichtliche (Tiemeyer), narrative (Wenzel sowie Wenzel/Taschner) und thematische (Hill) Zugänge kommen zur Sprache, stellen freilich auch hohe Anforderungen an die Vermittlung zwischen diesen Beiträgen. Der Sammelband vermag so v. a., eine Differenzierung in der Debatte um XII als (redaktionell geschaffenes) einheitliches Buch oder lose Anthologie eigenständiger Prophetenschriften aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu verstärken. Demzufolge ist für jede der Prophetenschriften im XII jeweils eine von-Fall-zu-Fall-Untersuchung anzustellen (bes. Renz, Seitz; in gewisser Weise auch Tiemeyer): weder ist grundsätzlich in jedem Buch von umfangreichen redaktionellen Einschreibungen zur Herstellung eines Gesamtzusammenhanges auszugehen, noch kann eine Komposition für den Gesamtzusammenhang für alle Prophetenschriften ausgeschlossen werden. Im Blick auf die angezeigte Debatte (und darüber hinaus) sind die Beiträge von Thomas Renz, Christopher Seitz und Heiko Wenzel besonders hervorzuheben:
Thomas Renz geht der Frage des Tagungsbandes innerhalb des begrenzten Textbereiches von Nahum-Habakuk-Zefanja nach, bzw. konkreter hinsichtlich der Stellung der Habakuk-Schrift in ihren unterschiedlichen Ko-Texten und kommt hier neben beachtenswerten Detailergebnissen zu wichtigen Kriterien für die Bestimmung des Zusammenhangs innerhalb des Zwölfprophetenbuches. So entkräftet Renz die These einer redaktionell geschaffenen (chiastisch aufgebauten) „Zweiprophetenschrift Nahum-Habakuk“ mit Hinweis darauf, dass die Annahme eines Chiasmus den Textphänomenen sowohl von Nahum als auch Habakuk nicht gerecht wird, durch den Nachweis, dass die oft herangezogenen Parallelen bei genauerer Betrachtung erhebliche Unterschiede aufweisen und mit einer redaktionellen Vorschaltung von Nah 1 für die Komposition der Zweiprophetenschrift gerade das Argument von Hab 1 konterkariert wird. Im Blick auf die breit bezeugte Reihenfolge „Nahum-Habakuk-Zefanja“ zeigt er einerseits auf, dass diese für eine fortlaufende Lektüre sinnvoll ist, andererseits dafür aber keine substantiellen redaktionellen Eingriffe nötig und auch nicht nachweisbar sind. Im letzten Abschnitt greift Renz einige Interpretationen zur Reihenfolge des XII auf und stimmt mit ihnen darin überein, dass die Habakuk-Schrift und ihre Positionierung durchaus Einfluss darauf hat, wie das XII gelesen wird; andererseits hat jedoch der Ort von Hab im XII kaum Einfluss darauf, wie die Habakuk-Schrift selbst gelesen wird.
Für die weitere Diskussion votiert Renz für eine Differenzierung innerhalb der zwölf Propheten und eine case-by-case Untersuchung hinsichtlich der redaktionellen Eingriffe für eine übergreifende Lektüre der Zwölf als ein Buch und bringt zwei wichtige Kriterien ein: a) thematische Parallelen deuten nicht notwendig auf bewusste Zusammenstellung; vielmehr ist auf die genaue terminologische Korrespondenz und v. a. auch auf inhaltliche und rhetorische Unterschiede zu achten; b) die rhetorische Strategie der jeweiligen Schrift muss im Blick behalten werden. Hier bleibt das Beispiel Habakuk markant: wenn eine Zusammenstellung von verschiedenen Prophetenschriften im Blick auf einige Themen Sinn macht, jedoch bestimmten rhetorischen Zielen innerhalb der Prophetenschriften zuwiderläuft, kann nicht von ursprünglich durch redaktionelle Brücken intendierte Einheitlichkeit ausgegangen werden.
Auch Christopher Seitz votiert für eine case-by-case-Untersuchung aller enthaltenen Schriften und kann sich – ähnlich wie Renz – vorstellen, dass manche Bücher überhaupt für den Zusammenhang im XII geschaffen wurden, während andere zunächst unabhängig entstanden sind und auch weitgehend unberührt geblieben sind im Zuge der Zusammenstellung. Für ihn ist weder die These einer losen Anthologie noch die einer durchgehenden Redaktionsarbeit plausibel. Er weist an der Joelschrift nach, dass sie zwar mit ihrem späten Entstehen viele Bezüge zu anderen Prophetenbüchern aufweist, aber auch als Einzelschrift gut verständlich ist (gegen Nogalski), hebt mit Blick auf die Heuschreckenplage in Joel und auf die Funktion von Jes 34–39 im Jesajabuch die Bedeutung typologischer Interpretation hervor und stellt anhand der Bedeutung der Mitte des XII (Mi 3,12) bzw. des Jesajabuches (Jes 33,21) für deren Interpretation das sequentielle Lesen als alleinige Lektüre infrage, wodurch so manche Vorannahmen der redaktionsgeschichtlichen Wachstumserklärung von XII erschüttert wären.
Heiko Wenzel schließlich stellt in dem von ihm allein verfassten Artikel (One or Twelve?) einen wirklich verheißungsvollen Ansatz für die Interpretation der zwölf Prophetenschriften innerhalb des Buches vor, und zwar als „progressing debate within the Twelve“ (dt.: „fortschreitende Debatte innerhalb der Zwölf“). Dieser Rahmen kommt für Wenzel aus einer narrativen Perspektive zum Vorschein, ermöglicht verschiedene Themen im Zwölfprophetenbuch aus ihren unterschiedlichen Perspektiven wahrzunehmen und bezieht zudem den Leser mit ein. Damit wäre der Aspekt des Lesens einer Schrift hervorgehoben, eine Korrelation von Interpretation eigenständiger Schriften und ihrer Positionierung im XII beachtet, die dialogische Orientierung der prophetischen Worte ernstgenommen und die Einbindung der jeweiligen Schriften in das literarische Netz der XII sowie außertextlicher Verbindungen gewürdigt.
Den verheißungsvollen Ansatz einer „progressing debate“ vermag Wenzel in Auseinandersetzung mit wichtigen Positionen, anhand einzelner Beispiele und weiterführender hermeneutischer Überlegungen zu plausibilisieren. Hier lohnt sich wirklich eine Weiterarbeit und es ist zu wünschen, dass der Vorschlag in der weiteren Forschung zu XII ernsthaft geprüft wird. Anfragen könnte man lediglich, ob die narrative Perspektive hilfreich ist; oder wenn (nicht zufällig beruft sich Wenzel hierfür auf Michail Bachtin und Umberto Eco), wie dies zu anderen narrativen Theorien im Verhältnis steht.
Die weiteren Beiträge sind teilweise zu Einzelfragen von Interesse (so Wenzel/Taschner zum Verhältnis von XII und „Gnadenformel“ [Ex 34,6–7] sowie Tiemeyer zur Auslegung des Sacharjabuches), berühren aber die Frage des Tagungsbandes weniger intensiv oder vermögen argumentativ nicht zu überzeugen.
Der von Heiko Wenzel mit Johannes Taschner zusammen verfasste Beitrag (Narrative, Debate, and the Book of the Twelve) ist wohl am ehesten als Vertiefung bzw. Begründung der von Wenzel angesprochenen narrativen Perspektive zu lesen; jedenfalls zielt er in der nicht ganz durchsichtigen Argumentation auf die Züge der „narrative-like progressing debate“ (Hervorhebung von mir) in XII.
Tiemeyer votiert für das XII als vorrangigen Bezugsrahmen für die Interpretation der Nachtgesichte des Sacharja statt des Sacharjabuches, denn Parallelen sind zwischen Sach 1–8 und Sach 9–14 viel geringer als zwischen Hag, Sach 1–8 und Maleachi. Sach 9–14 hat hingegen enge Bezüge zu Ez 38–39. Beide Texte wurden nach Tiemeyer in späterer Zeit eingefügt, ohne dass dabei der literarische Zusammenhang eine bedeutende Rolle gespielt hätte, denn eine fortlaufende Lektüre ist für die frühe nachexilische Zeit für Tiemeyer nicht anzunehmen. Ihr zufolge ist das Zwölfprophetenbuch primärer Bezugsrahmen für redaktionsgeschichtliche Überlegungen. Im Blick auf das Thema des Tagungsbandes ist ihre These bedenkenswert, dass ein Textabschnitt mit anderen Texten im Zwölfprophetenbuch mehr Gemeinsamkeiten haben kann als innerhalb eines Buches – weshalb das Zwölfprophetenbuch das sequentielle Lesen infrage stellt. Insofern lässt sich ihr Aufsatz auch als Votum für „a case-by-case study“ lesen. Darüber hinaus ist ihr Aufsatz hilfreich, weil er mit einer Fülle an einbezogener Sekundärliteratur die Herausforderungen aufzeigt, vor die man im Blick auf die Lektüre von Sach 1–8 mit Sach 9–14 gestellt ist. Jedoch mag eine differenziertere Diskussion um intertextuelle Bezüge, die Einbeziehung der von ihr nicht berücksichtigten wegweisenden Arbeit von Judith Gärtner zu Jes 66 und Sach 14 (WMANT 114, 2006) und der damit angezeigten prägnanten Völkerperspektive von Joel 4 über Zeph 3 zu Sach 14 im XII sowie der Perspektive rhetorischer Analyse zu anderen Resultaten führen.
Noch weniger überzeugend fallen die Beiträge von Hendrik Koorevaar und Andrew Hill aus. Koorevaar argumentiert gegen eine ursprüngliche Einheit des Zwölfprophetenbuches und nimmt stattdessen an, dass die zwölf kleinen Propheten mit den drei großen Propheten (Jeremia, Ezechiel, Jesaja) zusammen eine in Reihenfolge und Umfang festgelegte einheitliche Anthologie von 15 unabhängigen Prophetenschriften bildeten, deren Mitte Jona darstellt. Dabei kommt eine angemessene Berücksichtigung oder gar Auseinandersetzung mit relevanter Sekundärliteratur zur Einheit des XII oder zu Verschriftlichungen von Prophetenworten ebenso zu kurz wie das je eigene Profil der 15 Prophetenschriften. Andrew Hill skizziert einige Konturen des Gebets im XII, mag in diesem thematischen Zugang zur Wahrnehmung der Anzahl und Arten von Gebeten in XII dienen; für eine Theologie des Gebets bleibt der Aufsatz aber recht oberflächlich. Die Frage des Sammelbandes berührt er nur insofern als die Feststellung einer „losen Vereinigung“ von Prophetenbüchlein in Form einer Anthologie als Ausgangspunkt bzw. abgegrenzter Rahmen für die Frage nach dem Gebet dient.
Damit enthält der Sammelband für die Fachdiskussion einige wichtige Beiträge, die in Zukunft mit zu berücksichtigen sind. Insgesamt würde man sich v. a. noch eine hinführende Einleitung wünschen, die kurz die Forschungslage umreißt, auf die der Band sich bezieht und die Anordnung der Aufsätze erläutert, deren Reihenfolge sich nicht unbedingt erschließt. So wäre besonders der Beitrag von Wenzel/Taschner eher hinter dem Beitrag von Wenzel zu erwarten.
Wer sich gerade in die Auslegung des XII einarbeitet, sollte vorher einige Einleitungswerke lesen, um die Konturen der aktuellen Debatte kennen zu lernen. Für alle am Fachdiskurs beteiligten lohnt sich dieser Band wegen einiger starker Einzelbeiträge.
Prof. Dr. Torsten Uhlig, Professor für Altes Testament an der Evangelischen Hochschule Tabor, Marburg