Neues Testament

Armin D. Baum: Einleitung in das Neue Testament

Armin D. Baum: Einleitung in das Neue Testament. Evangelien und Apostelgeschichte, Gießen: TVG Brunnen, 2017, geb., VIII+945 S., € 70,–, ISBN 978-3-7655-9569-1

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Mit diesem umfangreichen (gut 900 S., ohne Register) Werk, legt Baum den Ertrag seiner bisherigen Forschungs- und Lehrzeit zu den historischen und literarischen Einleitungsfragen der Evangelien und der Apostelgeschichte vor. Er behandelt darin die klassischen, speziellen Einleitungsfragen (Verfasser, Adressaten, Ort und Zeit der Entstehung), sowie Fragen der Textkritik und Kanongeschichte. Das Vorwort nennt in sechs Punkten die Besonderheiten dieser Einleitung, gibt Auskunft über die Entstehungsgeschichte des Buches und nennt in vier Punkten die Gründe für gewisse Darstellungsauffälligkeiten. Offen bleibt, ob diesem Band ein (oder mehrere?) weiterer zu den Einleitungsfragen der restlichen 22 Schriften des Neuen Testaments folgen wird. Die Beschränkung auf die Evangelien, inklusive das lukanische Doppelwerk, als „Geschichtsbücher“ innerhalb des Neuen Testaments macht jedenfalls auch inhaltlich – nicht nur vom erreichten Seitenumfang her – Sinn. Das Buch ist in 10 „Teile“ (A–K, wobei kein „Teil I“, nur ein „Teil J“ vorkommt) unterteilt. Die Teile A–D haben die Sprache, den Erzählstil, die Verfasserangaben der Geschichtsbücher und die Gattung der Evangelien zum Inhalt. Die Teile E–G behandeln das Markus- und Matthäusevangelium und das lukanische Doppelwerk, Teil H die synoptische Frage und Teil J das Johannesevangelium. Den Schluss bildet Teil K zur Entstehungszeit der Geschichtsbücher, an den sich Register der Abbildungen und (in Auswahl) der Stellen und Autoren anschließen. Neben dem übersichtlichen Inhaltverzeichnis auf den ersten Seiten des Buches, findet man bei jedem Teil gleich zu Beginn ein detaillierteres Inhaltsverzeichnis des Hauptkapitels. Das ermöglicht nach meiner mehrmonatigen Erfahrung mit dem Buch recht schnell auch das Auffinden einer speziellen Thematik zu einer der Einleitungsfragen.

Der für eine (Teil)Einleitung in das Neue Testament ungewöhnlich große Seitenumfang erklärt sich durch Gegebenheiten der drucktechnischen und sachlichen Darstellung. Der Leser ist dankbar, dass trotz der Fülle des Stoffes die Schriftgröße, Zeilen- und Randabstände, Darstellung von Tabellen und Abbildungen etc. angemessen großzügig gewählt wurden. Auch die Entscheidung, die wichtigste Sekundärliteratur bei den Kapiteln/Abschnitten in kleingedruckten Blöcken voranzustellen, im Text dann in einer Klammer nur den Nachnamen und die Seitenzahl(en) des Werkes zu nennen und die wenigen (ca. 650, davon 95% einzeilig) Fußnoten in jedem Abschnitt mit neuer Zählung zu beginnen, trägt zu guter Lesbarkeit bei. An dieser Stelle muss auch positiv erwähnt werden, dass der Rezensent trotz reger Benutzung des Werkes seit einem Jahr bisher lediglich in Fußnote 2 auf Seite 791 einen Druckfehler finden konnte! Einziger Schönheitsfehler: Die verständlicherweise gewählte Papierdicke lässt durchgehend den Text der Rückseite leicht durchscheinen.

In der Sache ist der Umfang der Tatsache geschuldet, dass Baum „den Leser in die Lage versetzen [möchte], sich anhand des antiken Textmaterials ein möglichst selbständiges Urteil zu bilden“ (VII). Daher werden alle relevanten antiken Quellentexte in deutscher Übersetzung angeführt, eine Vielzahl statistischer Tabellen (insbesondere zu sprachlich-literarischen Phänomenen) und hilfreiche grafische Darstellungen komplexer Zusammenhänge (insbesondere von Modellen) abgedruckt. Sogar von auf den S. 892–901 besprochenen Papyri 7Q5, p64 (und den zum Vergleich hinzugezogenen 8HevXIIgr und P.Oxy. 2498) und p52 gibt es qualitativ gute (schwarz-weiß) Abbildungen! Oder bei der textkritischen Evidenz für den langen Markusschluss werden die entsprechenden Seiten des Codex Alexandrinus oder Sinaiticus abgedruckt. – Der oben genannte Anspruch bedeutet aber auch, dass nach dem jeweiligen sachlichen Befund verschiedene Erklärungsmodelle mit ihren jeweiligen Argumenten so nachvollziehbar wie möglich dargestellt werden. Das alles braucht natürlich Platz und das Versprochene ist Baum in überzeugender Weise gelungen. Die Ausführlichkeit der Quellendarstellung, der Einblick in den sachlichen Befund sowohl historischer als auch sprachlich-literarischer Art und die faire und breite Diskussion aller wichtigen Erklärungsmodelle erlaubt es zudem, die von Baum selbst erzielten Ergebnisse und vertretenen Ansichten nachzuvollziehen. Diese „Ansicht des Autors“ findet man denn auch rasch in den kursiv gesetzten Sätzen, oft am Schluss eines Abschnittes. Zu den von Baum vertretenen wichtigsten Ergebnissen gehören die (wie oben erwähnt) von ihm selbst im Vorwort angeführten sechs Punkte: 1. Die alttestamentlich-jüdische Erzählliteratur hat die ntl. Erzählbücher entscheidend geprägt; die griechisch-römische Historiographie hat sie nur in geringem Maß beeinflusst. Die Evangelien sind daher antike Biographien im Stil alttestamentlich-jüdischer Geschichtsschreibung und die Apostelgeschichte „mimetische“ Geschichtsschreibung im alttestamentlichen Stil. 2. Die Evangelien entstanden im Kontext der antiken Gedächtniskultur und daher haben das menschliche Erinnerungsvermögen und die mündliche Überlieferung insbesondere für das synoptische Problem sogar einen Vorrang vor den schriftlichen Quellen. Baum hält in diesem Sinne die Hypothese einer relativen Markuspriorität für zutreffend und findet auch im Johannesevangelium Spuren menschlicher Gedächtnistätigkeit. 3. Mit großer Wahrscheinlichkeit stammt das zweite Evangelium vom Petrusschüler Johannes Markus und das lukanische Doppelwerk vom Paulusbegleiter Lukas. Beim Johannesevangelium geht der Grundbestand am wahrscheinlichsten auf den Zebedaiden Johannes zurück, wurde aber wohl von Schülern des Evangelisten erweitert und herausgegeben. Wegen der unzureichenden Quellenlage lässt sich die Frage nach der Herkunft des griechischen Matthäusevangeliums und ob ihm ein semitisches Original zugrunde lag, nicht beantworten. 4. Für die Beurteilung des historischen Wertes der ntl. Geschichtsbücher ist die Einsicht wichtig, dass sowohl in der alttestamentlich-jüdischen, als auch in der griechisch-römischen Geschichtsschreibung eine Äußerung in direkter Rede (synoptische Jesuslogien, johanneische Jesusreden, Redestoff der Apostelgeschichte) dann als authentisch galt, „wenn man der Meinung war, sie habe deren Inhalt zutreffend paraphrasiert“. 5. Insbesondere bei der Datierungsfrage der Evangelien spielt die weltanschauliche Einschätzung der Möglichkeit einer Voraussage zukünftiger Ereignisse eine wichtige Rolle. Baum beantwortet diese Frage positiv, stellt aber auch die weiteren Antwortoptionen und die daraus sich ergebenden Schlussfolgerungen dar. 6. Was die textkritisch umstrittenen Abschnitte betrifft, hält Baum Joh 7,53–8,11 zwar für literarisch sekundär, gesteht ihm aber kanonische Qualität zu. Beim langen Markusschluss würden die externen und internen Argumente der Textkritik eher dafür sprechen, dass Mk 16,9–20 von einem unbekannten Interpolator des 2. Jhdts. angefügt wurde. Der Grund für den also kurzen Markusschluss lasse sich nicht mehr feststellen. Für den sogenannten „westlichen Text“ der Apostelgeschichte muss die Antwort offen bleiben, welcher der beiden Textformen (alexandrinisch – westlich) ursprünglich ist und also von Fall zu Fall entschieden werden.

Die Hauptergebnisse der speziellen Einleitungsfragen für die fünf Bücher sind: Der aus Jerusalem stammende Petrusbegleiter Johannes Markus verfasste Mk in den 60er-Jahren des 1. Jhdts. und veröffentlichte es kurz vor oder bald nach dem Tode des Apostels Petrus. Das Matthäusevangelium hatte möglicherweise eine semitische Vorlage, die griechische Fassung ist jedenfalls wohl in den 60er-Jahren entstanden und veröffentlicht worden. Der Paulusbegleiter Lukas ist Autor des lukanischen Doppelwerkes und es wurde am ehesten vor dem Ende des Prozesses des Paulus in Rom (wohl 60–62 n. Chr.) veröffentlicht. Für das Johannesevangelium kommt Baum wie bereits erwähnt zum Schluss, dass 1,1–7,52 und 8,12–20,31 durch den Augenzeugen und Apostel Johannes verfasst wurden, gegen Ende des 1. Jhdts. eine Schülergruppe nach seinem Tod Joh 21,1–25 ergänzt hat, die Überschrift in der ersten Hälfte des 2. Jhdts. (im Zusammenhang mit der Entstehung des Vierevangelienkanons) hinzugefügt wurde und zwischen dem 2. und 4. Jhdt. ein Interpolar die auf johanneisches Traditionsgut zurückgehende Erzählung Joh 7,53–8,11 einfügte.

Zwar kommt Baum also am Ende in den zentralen Punkten – wie viele von einem „Evangelikalen“ es erwarten – zu „konservativen“ Ergebnissen. Aber anders als bei allen neueren Einleitungen jeder Couleur ermöglicht Baum dem Studenten und Spezialisten durch die Darbietung und ausführliche Darstellung des relevanten Quellenmaterials, der Forschungsgeschichte und der heutigen Vertreter unterschiedlicher Modelle/Ansätze und durch das methodisch durchdachte Auseinanderhalten sprachlich-literarischer, geschichtlicher, theologischer und weltanschaulicher Argumente eine fundierte eigene Meinungsbildung. Dazu trägt auch bei, dass Baum jegliche Position fair darstellt und bei seinen eigenen Urteilen differenziert, abwägend, ja zurückhaltend argumentiert. Man muss überhaupt nicht gleicher Meinung sein wie der Autor, um von diesem Buch profitieren zu können. Er selbst lässt in vielen Punkten – m. E. zu Recht – Fragen offen, die in anderen, nicht nur „evangelikalen“ Einleitungen als scheinbar eindeutige Ergebnisse präsentiert werden (z. B. die Abfassungsorte). Sein Umgang mit den Quellen (den betroffenen Texten, zeitgenössischen Texten und frühkirchlichen Zeugnissen) ist die eines Historikers und nicht wie so oft unverkennbar von den Interessen eines Theologen geleitet. So ist dieses Buch eine Fundgrube und Nachschlagewerk nicht nur der divergierenden Ergebnisse der Forschung der letzten 300 Jahre, sondern gibt auch den aktuellen Forschungsstand wieder (zu dem Baum selbst wesentliche Beiträge geliefert hat, insbesondere zu Fragen der Sprachstatistiken, Oralität und Gedächtnisleistung, antiker Geschichtsschreibung und Historizität, Johannesevangelium). So etwas hat man in der ntl. Einleitungswissenschaft seit den Tagen von Harnack und Zahn nicht mehr gesehen.

Für wen ist das Buch geeignet? Der Autor äußert sich nicht direkt dazu, aber Preis und Umfang des Buches machen es eher unwahrscheinlich, dass es zur Pflichtlektüre einer einführenden Vorlesung zu den ntl. Einleitungsfragen würde. Allerdings wird in Zukunft jeder Student, der sich mit einer der Einleitungsfragen zu Mt–Apg auseinandersetzt selbst einen Bärendienst tun, wenn er nicht sofort zu diesem Buch greift und den entsprechenden Abschnitt studiert. Und der spezialisierten universitären Forschung zu den behandelten Büchern wünscht man, dass sie mit großem Interesse und Lust die hier vorgebrachten Ergebnisse kritisch aufgreift. Denn diese gründliche Arbeit hat das Potential, die über weite Strecken nun seit mehreren Generationen nur noch tradierte, vermeintliche Forschungskonsense in der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft an gewichtigen Stellen mit frischen Überlegungen zu hinterfragen und dadurch einen für viele totgeglaubten Zweig der theologischen Wissenschaft neu zu beleben.

Pfr. Dr. theol. Jürg Buchegger-Müller