Systematische Theologie

Christoph Raedel: Gender

Christoph Raedel: Gender. Von Gender-Mainstreaming zur Akzeptanz sexueller Vielfalt, Gießen: Brunnen Verlag, 2017, Pb., 228 S., € 20,–, ISBN 978-3-7655-2080-8

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Über Gender-Mainstreaming (GM) zu schreiben, ist aufgrund des komplexen Themas und gesellschaftlich erhitzter Meinungsäußerungen ein Wagnis. Christoph Raedel geht es ein, will differenziert sachlich analysieren und bewerten. Er legt gleich offen, dass er aus der „Perspektive eines christlichen Ethikers“ schreibt, „für den sich vieles am Menschenbild entscheidet, das hinter einem Geschlechterkonzept steht“ (VII). Damit nimmt er eine glaubwürdigere Position ein als manche, die „Neutralität“ für sich beanspruchen (wollen). Die Einordnung ins christliche Menschenbild nimmt er erst im zweiten Buchteil vor. Zunächst geht er dem historischen, gesellschaftlichen und politischen Werdegang des GM von seinen Anfängen bis heute nach. Er zeigt auf, wie die Frauenrechtsbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts die gesellschaftspolitischen Konsequenzen der Gleichheit von Mann und Frau unterschiedlich interpretierte (Differenz- oder Gleichheitsfeminismus). Dann geht er auf Entwicklungen der späten 1960er und 1970er Jahre ein, welche die Infragestellung der Geschlechterrollen unterstützten. Dies bereitete den Boden für die heutige These, Geschlechtlichkeit sei keine objektive Realität, sondern subjektive Wahrnehmung und nicht auf männlich und weiblich zu reduzieren. So beschreibt der Autor den politischen Einzug des GM von der UN-Weltfrauenkonferenz in Peking 1995, über die aus demokratischer Sicht fragwürdige Gender-Selbstverpflichtung der EU bis zur heutigen Gesetzgebung. Während „GM 1.0“ gesellschaftliche Geschlechterrollen aufbrechen will, aber die Zweigeschlechtlichkeit bejaht, will „GM 2.0“, das radikalisierte GM-Konzept: Die Geschlechter sollen zugunsten einer sexuellen Vielfalt dekonstruiert werden. Strategisch werden Leitbegriffe wie Menschenrechte, (Anti)Diskriminierung, Toleranz & Akzeptanz ins Feld geführt. Allerdings werden sie starken Bedeutungsverschiebungen unterzogen, die Raedel beispielhaft darlegt. Der Verfasser erläutert, wo GM berechtigt (Wahlrecht u. a.) und wo es problematisch ist (Forderung nach Abtreibung als Menschenrecht). Er deckt auch Einseitigkeiten (nur Benachteiligung von Frauen im Fokus, nicht von Männern) und Widersprüchlichkeiten auf (warum ausgerechnet eine Frauenquote, wenn es doch mehrere Geschlechter gibt). Heute, analysiert Raedel, zähle politisch in vielem de facto nicht mehr Chancen-, sondern Ergebnisgleichheit. Dies nimmt Freiheit und fördert Ungerechtigkeit, was er unter anderem anhand der politischen Veränderungen in der Kinderbetreuung belegt. Da das radikalisierte GM-Konzept der Lebenswirklichkeit der gesellschaftlichen Mehrheit schwer einleuchtet, werden weitere Maßnahmen ergriffen – von einer Veränderung der Sprache über Genderforschung im akademischen Raum bis hin zu einer Sexualpädagogik der Vielfalt in den Lehrplänen der Bundesländer. Diese war schon im Ansatz Helmut Kentlers (1928–2008) aus den Zeiten der sexuellen Revolution enthalten. Er sah die gesamte Kindesentwicklung durch eine „sexuelle Brille“. So wird klar, wie diese Gedanken Einzug in den Bildungsraum finden konnten. Gleichzeitig untersucht Raedel die aktuelle Vorgehensweise kritisch und stellt begründet fest, dass es nur vordergründig um die Wertschätzung aller Lebensformen gehe. Dahinter lauert ein totalitärer Ansatz. Einen kleinen Einblick in die „sexuelle Vielfalt“ gibt Raedel, in dem er Homo-, Inter- und Transsexualität/Transgender erläutert. In sich, so das Ergebnis des Forschers, ist das Konzept der sexuellen Vielfalt unstimmig, „Argumente werden gewendet, wie man sie braucht“ (85). Dennoch wird GM durch Lobbyarbeit und Politik vorangetrieben. Um Christen zu mehr Sprachfähigkeit auf diesem Gebiet zu verhelfen, kommt der Systematiker nun auf die theologische Einordnung von GM zu sprechen. Im ersten Abschnitt des zweiten Buchteils zeigt sich, wie der Dogmatik bereits eine missionarische und seelsorgerliche Dimension inne liegt. Wer den Menschen verstehen will, muss sein Geschaffensein als Ebenbild Gottes (Gen 1) genauso sehen wie sein Gefallensein (Gen 3). Unterscheidung und Zuordnung von Schöpfer und Geschöpf, Mann und Frau („dialogische Polarität“, 121), sowie die untrennbare Verbindung von Geist und Leib gehen in der biblischen Anthropologie Hand in Hand. Der menschliche Körper ist eine „Vor-Gabe“ (120) Gottes an den Menschen, die Geschenk und Verantwortung in sich trägt. Der Sündenfall hat die gesamte Schöpfung in Mitleidenschaft gezogen, darunter auch die genannten Unterscheidungen und Zuordnungen, was Raedel beispielhaft darlegt. Er arbeitet die allgemeine (von Gott als Repräsentant eingesetzt), spezifische (Leben als Mann / als Frau) und individuelle (Begabungen sind nicht geschlechtsspezifisch) Bestimmung des Menschen heraus. Genauso bezieht er biologische und psychologische Fakten und biblische Aussagen ein. Überraschend wird mancher Leser die Einordnung der Lebensweitergabe in die individuelle anstelle der allgemeinen Bestimmung des Menschen auffassen. Sie sei kein „Gebot, sondern eine Erlaubnis … Gottes Einladung“ (137). Deutlich wird dadurch, dass die Lebensweitergabe keine Bürde, sondern quasi die schöpferische Mitgestaltung des Menschen mit dem Schöpfer ist. Doch kommt hier die Frage auf, ob nicht dieses Mitschöpfersein über die individuelle Bestimmung hinaus im Rahmen des Schöpfungsauftrages auch die allgemeine Bestimmung des Menschen berührt. Die hier vorgenommene Einordnung könnte von manchen missverstanden werden. Dem vorbeugend macht Raedel deutlich, dass das Neue Testament Ehe und Kinder zusammendenkt und kritisiert deutlich, dass dies im Genderkonzept und einer Ideologie sexueller Vielfalt ja gerade nicht geschieht oder gar explizit abgelehnt wird. GM versuche, menschliche Lebenspräferenzen zu ändern, was bisher nicht wirklich gelingt. Nach wie vor strebt nur ein sehr geringer Teil der Frauen das GM-Ideal der Vollerwerbstätigkeit bei gleichzeitigem Muttersein an. Würde der Staat dies ernstnehmen, wäre es seine dringende Aufgabe, die finanzielle Benachteiligung der Erziehungsarbeit gegenüber der Erwerbstätigkeit zu überwinden. Doch GM denkt nicht in Beziehungsgefügen, sondern nur in Individuen. Bedürfnisse von Kindern sind der „Blinde Fleck“ (159) im Konzept. Verordnete Geschlechtergleichheit und ökonomische Interessen sprechen mit dem positiven Begriff „Bildung“ letztlich gegen die viel nötigere Bindung des Kindes an feste Bezugspersonen wie Eltern oder Großeltern. Wissenschaftliche Ergebnisse zur Entwicklungspsychologie werden uminterpretiert oder ignoriert. Eine verantwortliche und lebensfestigende Bindung lässt auch das Konzept der sexuellen Vielfalt vermissen. Es löst die Bindung von Geist und Leib auf, zerteilt den Menschen und degradiert den Körper zur „unbeschränkt formbaren Verfügungsmasse“ (170). Ebenfalls propagiert es das bindungslose Ausleben der Sexualität als Menschenrecht. Dabei setzt die Bibel Sexualität bewusst in den verantwortungsvollen und schutzgebenden Rahmen gegenüber ihrem Schöpfer, dem Ehepartner und dem Potenzial der Lebensweitergabe. Der Verfasser arbeitet heraus, dass dem GM-Konzept ein relativistisches und verkürztes Welt- und Menschenbild zugrunde liegt. Bei aller Kritik schlägt Raedel nicht in die Kerbe diffamierender oder polemischer Äußerungen, will keinen „Frust loswerden“, sondern Hilfe bieten. So widmet er sein letztes Kapitel Gedanken und Tipps für Bereiche wie „Familie und persönliches Umfeld“, „Arbeitswelt“ oder „Kirche und Gemeinde“. Hier sei es beispielsweise auch wichtig, dass sich christliche Gemeinden kritisch hinterfragen (lassen). Wo gründet der gelebte Umgang mit Männern und Frauen im christlichen Menschenbild und einer gottgegebenen geschöpflichen Ordnung. Und wo ist er eher geprägt von gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen, die übernommen wurden. Fazit: Christoph Raedel legt ein Buch vor, dass sich auf höchstem Niveau, verständlich, scharfsinnig, praxisnah und vor allem orientierungsweisend mit einem hochrelevanten Thema befasst. Sein „Wagnis“ ist definitiv gelungen.

Michael Schwantge, Gemeinschaftspastor in Oppenheim