Systematische Theologie

Hans Joas / Robert Spaemann: Beten bei Nebel

Hans Joas / Robert Spaemann: Beten bei Nebel. Hat der Glaube eine Zukunft?, Hg. von Volker Resing, Freiburg: Herder, 2018, geb., 80 S., € 14,–, ISBN 978-3-451-27149-6

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„Von da an wandten sich viele seiner Jünger ab und gingen hinfort nicht mehr mit ihm.Da fragte Jesus die Zwölf: Wollt ihr auch weggehen?“ (Joh 6,66f). Dies ist eine der wenigen biblischen Aussagen (s. u. Bibelstellenregister), die im Dialog zweier führender Intellektueller der katholischen Kirche über Glaubensverlust und religiösen Wandel zur Sprache kommen. Am 10. Januar 2015 lud der Chefredakteur der „Herder Korre­spondenz“ Volker Resing den Soziologen und Sozialphilosophen Hans Joas (Berlin) und den Philosophen und Theologen Robert Spaemann (1927–2018) zum Gespräch ein. Nach dem Abdruck eines Teiles in der „Herder Korrespondenz“ vom 19. April 2015 gab Spaemann nur zögerlich seine Approbation für den gesamten Text, da es ihm aus Altersgründen nicht mehr möglich war, seine teilweise ungeschützt kritischen Aussagen zu Papst Franziskus („Manchmal kann ich nur den Kopf schütteln“, 51) zu überarbeiten (80). Der Text des Gesprächs füllt nur 14 Schreibmaschinenseiten – für 14 Euro erhält man ihn als Büchlein mit 80 Seiten und edler Fadenbindung.

Den Titel Beten im Nebel, welchen der Leser zunächst unweigerlich auf die kirchliche Verunsicherung angesichts gegenwärtiger Säkularisierungsprozesse deuten wird, spielt doppeldeutig auf ein Erlebnis Spaemanns zur See an. Als er einer mitreisenden Nonne im dichten Nebel erklärte, dass man heute Radar habe und keine Zusammenstöße mehr zu befürchten seien, erwiderte sie erleichtert: „Jetzt brauchen wir wegen des Nebels nicht mehr zu beten“ (35, vgl. 23).

Dieses Beispiel illustriert die Ausgangsfrage von Kapitel I und II nach Grund und Herausforderung gegenwärtiger Säkularisierungstendenzen, oder in den Worten von Joas: „Wie sollen Christen auf den massenhaften Abfall vom christlichen Glauben reagieren?“ (40). Für Joas ist die Säkularisierung „auch eine christliche Schuldgeschichte“ (40): der Glaube wurde verbürgerlicht und an Institutionen gebunden, Andersdenkende und -lebende vor den Kopf gestoßen. Dabei heiße katholisch doch „Here comes everybody“ (41). Wenn Joas von „Glaube“ und „Sakralität“ (39) redet, deutet sich ein sehr weiter Begriff an, der sich auch auf Ideologien wie Marxismus und Nationalismus erstrecken kann (27), „die Erfahrung ist das Eigentliche“ (28): „Sie sind auch tief von Sinn erfüllt und verschmolzen mit ihren Werten“ (38). Die Abkehr von der Kirche erscheint hier weniger als Verlust, eher als Verlagerung des Glaubens.

Für Joas ist der christliche Glaube eine Option – für Spaemann mit Joh 15,16a eine Berufung: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt“ (46). Auch Spaemann teilt nicht die von Joas vehement bestrittene Entzauberungsthese Max Webers (37): Die Technisierung der Welt hat Gott als Lückenbüßer für Wunder nicht überflüssig gemacht – das Wunderbare der Kontingenz des eigenen Daseins bleibt, so bereits Herder und Hamann (34). Sie hat jedoch eine bequeme säkularisierte Variante menschlicher Existenz geschaffen, welche unseren Zeitgenossen attraktiver erscheint, als der intellektuell anspruchsvollere Glaube: „In diesem Wettlauf um die Bequemlichkeit kann der Glaube nicht gewinnen“ (35), daher die leeren Kirchen. Die richtige Reaktion der Kirche liegt für Spaemann nicht in einer Anpassung, sondern in einer Aktualisierung der christlichen Botschaft, die „aus Widerspruch zum Zeitgeist geschieht, nicht aus dem Widerspruch zum Vergangenen“ (43f). Joas hingegen kann sich mit einer Zeitgeist-Rhetorik nicht anfreunden, sondern möchte „epochale historische Veränderung“ (44) seiner Tage eher positiv wahrnehmen, um „die christliche Botschaft in die jeweilige Zeit und Kultur hinein zu transportieren“ (45).

Das III. Kapitel zum „Phänomen Franziskus“ gibt Einblick in die Spannungen und Bandbreite theologischer Strömungen innerhalb der katholischen Kirche, mancher protestantische Leser wird hier überrascht sein. Neben Fragen der religiösen Pluralität, Liturgie, Papalismus, Klerikalismus, Pomp und Amtscharisma werden auch ethische Probleme wie die Wiederheirat Geschiedener und außerehelicher Geschlechtsverkehr, sowie die Frage nach Priesterinnen zumindest kurz angesprochen (66–69). Im Zuge der Frage nach dem Kern des Evangeliums setzt sich Spaemann ein für ein Festhalten am Dogma der leiblichen Auferstehung des Gekreuzigten von den Toten, sowie des doppelten Ausgangs (60f). Die letzten Worte des Kapitels sind bezeichnend für die innerkirchliche Pluriformität: „Spaemann: Ich kenne nur Frauen, die sagen, wenn eine Frau hinterm Altar stünde, würden sie nicht mehr zur Messe gehen. Joas: Ich kenne nur andere Frauen“ (69).

Das abschließende IV. Kapitel setzt sich unter dem Titel „Über das Verhältnis von Norm und Wirklichkeit“ mit Grundlagen der Ethik auseinander. Spaemann verteidigt seine naturrechtliche Position mit unveränderlichen Normen, Joas argumentiert auf werteethischer Grundlage für eine Begründung von Werten in subjektiver Evidenz, verwehrt sich gleichzeitig jedoch gegen ein relativistisches Verständnis: Es gibt Wahrheit, aber wir können uns seiner Ansicht nach nie sicher sein, ob und wie viel wir davon erkannt haben.

Die Gedanken dieser beiden großen kirchlichen Intellektuellen haben Bedeutung weit über den Tellerrand der katholischen Kirche hinaus. Selbst die diskutierten kirchlichen Interna können den Gläubigen anderer Denominationen helfen, ähnlich gelagerte Konflikte im eigenen Haus klarer zu deuten. Beide Denker wehren sich gegen die einfache Gleichung, dass der Fortschritt den Glauben überflüssig mache. Joas ist darin recht zu geben, dass nicht ein Vakuum an Glaubenslosigkeit, sondern eine Fülle (pseudo‑)religiöser Alternativ-Angebote zum Abfall führt, wenn die Kirche nicht oder falsch reagiert. Spaemann ergänzt, dass die „Konservativen“ hier oft nicht schnell genug „schalten“ (49). Treffend beschreibt Spaemanns These von der Bequemlichkeit den Geist unserer Zeit und hinterfragt damit indirekt auch ein bequemes Evangelium, welches auf schnelle Erfolge, nicht aber auf bleibende Frucht zielt. Viel zu kurz kommt in diesem Band jedoch die kraftvolle Botschaft der Bibel selbst zu dieser Frage, was nicht zuletzt auch einem Geist unserer Zeit geschuldet sein mag. Spaemann unternimmt zwar immer wieder den Versuch, die Bibel zur Sprache zu bringen, doch Orientierung im Nebel leuchtet in diesem Gespräch aus anderer Richtung. Das im Zuge der Rezension erstellte und hier beigefügte Namensregister lässt erahnen, welche Deutungshoheit der (Religions)Soziologie in diesen grundsätzlichen Fragen gegenwärtig zugemessen wird. Ein kleiner Lichtblick sind einige der letzten Worte des Apostels Paulus an seinen Schüler (2Tim 4,3–5), wiedergegeben in den Worten Spaemanns, ebenso kurz vor seinem Tod: „Du aber, so sagt Paulus zu Timotheus, lass dich nicht beirren. Gib den Schatz, den du bekommen hast, unverfälscht und unverkürzt weiter“ (57).

Dr. Siegbert Riecker ist Lehrer an der Bibelschule Kirchberg und External Instructor an der Evangelischen Theologischen Faculteit in Leuven.