Systematische Theologie

Ulrich H. J. Koertner: Dogmatik

Ulrich H. J. Koertner: Dogmatik, Lehrwerk Evangelische Theologie 5, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2018, geb., 736 S., € 58,–, ISBN 978-3-374-04985-1

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Der Wiener Systematiker Ulrich Koertner legt eine Dogmatik vor, die für die Lehrbuchreihe Lehrwerk Evangelische Theologie verfasst ist. Die Monografien der Reihe sollen der umfassenden und soliden Information von Theologiestudentinnen und -studenten in den einzelnen Disziplinen der Theologie dienen. Entsprechend handelt der Autor in Anlehnung an die Lokalmethode den gesamten Wissensbereich der Dogmatik ab. Dies geschieht in einer spezifischen Strukturierung, in der zunächst zu den diversen Topoi wichtige Beiträge aus der Theologiegeschichte bis zur Reformationszeit referiert werden. Daran schließt sich die Skizze neuerer systematisch-theologischer Werke an.

Ein Kernbegriff von Koertners Konzeption ist der Begriff „Wirklichkeit“. Aus diesem Ansatz entwickelt der Autor den christlichen Glauben als „soteriologische Interpretation der Wirklichkeit“. Die Hauptkapitel werden jeweils entlang der Trias von Mensch, Gott und Welt entfaltet. Die Reihenfolge der Perspektiven wechselt von Kapitel zu Kapitel je nach Schwerpunkt und dogmatischem Gefälle der Aussagen.

Der Zentralbegriff „Wirklichkeit“ könnte zu der Vermutung Anlass geben, dass die Ontologie bzw. Metaphysik eine tragende Rolle spielt. Dem ist aber nicht so. Der Verfasser widerspricht vielmehr in allen Bereichen der Dogmatik den traditionellen metaphysischen Ansätzen. Das wird nicht zuletzt an seiner Bearbeitung der Christologie deutlich.

Die einzelnen Kapitel werden jeweils durch Hinweise zu weiterführender Literatur abgeschlossen. Am Ende des Lehrbuchs findet sich dann noch einmal ein 27 Seiten umfassendes Literaturverzeichnis. Daran schließt sich ein Namensregister sowie ein Sach- und Bibelstellenregister an.

Man kann insgesamt sagen, dass es dem Autor gelingt, das editorische Konzept des Verlags umzusetzen, nämlich ein übersichtliches Lehrbuch zu gestalten. Wer sich rasch informieren will, kann die nötigen systematisch-theologischen Informationen finden. Allerdings fällt die Zusammenfassung der besprochenen Dogmatiken mitunter recht knapp aus. Sie setzt häufig umfassendere Grundkenntnisse voraus, um den Stoff richtig zuordnen zu können. Von daher ergibt sich Frage, ob das Buch als Art Repetitorium fürs Examen oder als Ersteinstieg in die Dogmatik gedacht ist. Hinzu kommt die Tatsache, dass der Autor auf der Grundlage seiner eigenen Position das vorgestellte Material bewertet, ohne dass immer hinreichend deutlich wird, wo er referiert und wo er seine eigene kritische Überzeugung äußert.

Zur Illustration des Konzepts von Koertner greife ich im Folgenden exemplarisch die Darstellung eines dogmatischen Locus heraus, nämlich die Eschatologie. Unter der Kennziffer 5.6 beschreibt der Autor „Die Erneuerung der Welt“. Er setzt mit kurzen Hinweisen auf den neutestamentlichen Befund ein, um dann summarisch die Zielsetzung für diesen Locus zu definieren: „Eschatologie als die christliche Lehre von der Erneuerung und Vollendung der Welt ist die theologische Lehre vom Neuen – und zwar im Sinne einer intellektuellen Rechenschaft über die christliche Hoffnung“. Nach Begriffserklärungen bezüglich des Unterschieds von individueller und universaler Eschatologie benennt der Autor zunächst einige Positionen der Alten Kirche, vor allem die Geschichtstheologie von Aurelius Augustinus. Im Blick auf Luther stellt er fest, dass die Vorstellung vom Jüngsten Gericht für ihn zentral ist, zumal nur auf dem Hintergrund der apokalyptischen Gerichtsankündigungen die Verknüpfung von Eschatologie und Rechtfertigungslehre einsichtig gemacht werden kann. Ausführlicher referiert Koertner den Entwurf von Johannes Calvin gemäß der Ausgabe der Institutio von 1559. Calvin schließt die Lehre von den letzten Dingen mit dem Verhältnis von weltlicher und kirchlicher Obrigkeit ab.

Hinsichtlich der neueren Theologiegeschichte steht am Anfang der Verweis auf Friedrich Schleiermacher unter den Stichworten „Die Kirche in ihrer Vollendung“ und „Der Zustand der Seelen im künftigen Leben“. Danach beschreibt Koertner den Ansatz von Albrecht Ritschl, als einem Repräsentanten des Kulturprotestantismus, der in seiner Eschatologie den Reich-Gottes-Gedanken ins Zentrum rückt und das Reich Gottes als eine „Versammlung seliger Geister“ beschreibt. Danach folgt die Auseinandersetzung mit der kritischen Sicht von Albert Schweitzer und Franz Overbeck. Sodann folgt ein Hinweis auf die Eschatologie Jürgen Moltmanns mit seiner „Theologie der Hoffnung“ sowie der Darstellung einiger neuerer katholischer Dogmatiker zu Themen der politischen Theologie, aber auch zu Fragen des Ablasswesens und der Vorstellung vom Fegefeuer.

Unter dem Stichwort „Der erkenntnistheoretische Status eschatologischer Aussagen“ erörtert der Autor zu Beginn des eigentlich systematischen Teils den grundlegenden Unterschied zwischen Futurologie und Eschatologie. Zurückgewiesen wird die Vorstellung Pannenbergs, dass der Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens durch das Eschaton verifiziert werde.

Anschließend wendet sich der Autor der Diskussion mit Theodor W. Adorno und seiner negativen Dialektik zu. Er vertritt die These, dass „die christliche Modifikation der Apokalyptik“ sich am besten als deren Aufhebung bestimmen lässt. Einen wichtigen Rang hinsichtlich der individuellen Eschatologie nimmt die Beschreibung der menschlichen Existenz als eines „fragmentarischen Lebens“ ein. Das Wissen um die Gebrochenheit der Existenz und die prinzipielle Endlichkeit des menschlichen Daseins wird von der Hoffnung von dem Gott, der als Schöpfer die Vollendung gewährleistet, promissorisch umfangen.

Geschichtstheologisch unterstreicht Koertner die These, dass im Zusammenhang von Zukunft und Verheißung an dem Primat der Möglichkeit vor der Wirklichkeit festzuhalten ist. Der Autor problematisiert Pannenbergs Überlegung, dass das Leben – und vor allem das Kreuz und die Auferstehung Jesu Christ – die vorweg ereignete Prolepse des Eschatons darstellt.

Schließlich vertritt Koertner die Lehre vom ewigen Leben des einzelnen Menschen im Sinne von Luthers Genesis-Auslegung; diese besagt, dass der, mit dem Gott begonnen hat zu reden, auch in Ewigkeit Gottes Gegenüber und Gesprächspartner ist.

Inhaltlich ist es die wesensmäßige Liebe Gottes, die die Einlösung eschatologischer Hoffnung gewährleistet. Unter dem Aspekt der umfassenden göttlichen Liebe vertritt Koertner konsequent die sogenannte Allversöhnung. Das Kapitel endet mit dem Hinweis, dass durch die Kraft des Auferstehungsglaubens Christen hier und jetzt in der Lage sind, sich für bessere Lebensverhältnisse und eine gerechtere Welt einzusetzen. Spirituell bezieht nach Koertner der Glaube seine Kraft aus dem Gebet und der Gewissheit, dass die Liebe stärker ist als der Tod.

Es bleibt am Ende schwierig, die dogmatische Position von Ulrich Koertner deutlich zu bestimmen. Er positioniert sich auf jeden Fall in der kritischen Tradition der Aufklärung mit der entsprechenden Bibel- und Dogmenkritik. Vielfältige Bezüge zu Friedrich D. E. Schleiermacher sind unübersehbar. Das gilt auch für die Verwurzelung der Dogmatik in der Subjektivität des Glaubenden.

Gerade wenn man nach der umfassenden Wahrheit des christlichen Glaubens und seiner Begründung fragt, bleibt die Wirklichkeit, die allenthalben beschworen wird, oftmals in der Schwebe. Wie lassen sich Aussagen des christlichen Glaubens in ihrem Wahrheitsanspruch argumentativ begründen, wenn ganz offensichtlich die historische Faktizität der Heilsgeschichte weitgehend infrage gestellt ist?

Dennoch stellt Koertners Buch einen informativen Überblick über den aktuellen Stand der Dogmatik dar. Allerdings lässt sich ein Grunddilemma des modernen Liberalismus an der Dogmatik des Autors deutlich demonstrieren. Wer die tiefen Gegensätze zwischen der klassischen christlichen Orthodoxie einerseits und der seit der Mitte des 17. Jahrhunderts virulenten neuprotestantischen Theologie andererseits aufweisen möchte, findet bei Koertner eine hierfür beispielhafte Darstellung des Problems.

Prof. Dr. Rolf Hille, Honorarprofessor für Systematische Theologie und Apologetik an der Freien Theologischen Hochschule Gießen, seit Februar 2019 emeritiert, zuvor Rektor des Albrecht-Bengel-Hauses in Tübingen und Vorsitzender der Theologischen Kommission der Weltweiten Evangelischen Allianz sowie Direktor für deren ökumenische Angelegenheiten