Irmtraud Fischer u. a. (Hg.): Der Streit um die Schrift
Irmtraud Fischer u. a. (Hg.): Der Streit um die Schrift, Jahrbuch für Biblische Theologie 31 (2016), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2018, Pb., XV+398 S., € 44,99, ISBN 978-3-7887-3051-9
Der vorliegende Sammelband zum 500. Reformationsjubiläum ist zwar viel zu spät (nämlich erst im Sommer 2018) erschienen, überzeugt aber durch seine gelungenen und auch nach Abschluss des Lutherjahres noch bereichernden Abhandlungen. Es ist jedoch nicht möglich, hier auf alle siebzehn Beiträge einzugehen.
Thematisch soll es in dem Buch laut Vorwort um den spannungsreichen Unterschied zwischen dem katholischen und dem protestantischen Bibelverständnis gehen, der in den Formeln „Schrift und Tradition“ bzw. sola scriptura zum Ausdruck kommt (V). Dabei sollen z. B. Fragen zum Stellenwert kanonischer Texte und zur Schriftauslegung behandelt werden (VI). Erklärtes Ziel ist, „[d]as ökumenische Gespräch … weiter mit Leben zu füllen“ (XI).
Nicht wenige Autor(inn)en schreiben jedoch gewissermaßen am (auch im Buchtitel) anvisierten Thema des Sammelbandes vorbei, da sie nicht auf den auf die Reformation zurückgehenden Streit zwischen katholischem und evangelischem Schriftverständnis bzw. das entsprechende ökumenische Gespräch eingehen, sondern vielmehr innerkatholische, christlich-jüdische und innerjüdische Diskussionen behandeln. Die Reformation dient dabei dann lediglich als Aufhänger. So wird Ines Webers Abhandlung zu katholischen Bibelübersetzungen der Aufklärung mit der Feststellung „Zu den besonderen Merkmalen der Reformation gehört auch die Bibelübersetzung“ begründet (IX; vgl. ähnlich 137).
Bei einigen Aufsätzen würde man bei einem separaten Durchlesen sogar überhaupt nicht vermuten, dass sie zu einem Sammelband zum Reformationsjubiläum gehören. Dies gilt z. B. für Mirjam Zimmermanns religionsdidaktischen Beitrag, der aber auch als solcher kritische Rückfragen hervorruft. Es geht um Schülerinnen und Schüler, die im Religionsunterricht bei der Lektüre von Wunderberichten kritisch nach der Wahrheit der Bibel im Sinne der sog. Korrespondenztheorie fragen: „Ein Bibeltext ist dann wahr, wenn der Aussagegehalt eines Textes (Begriff) unmittelbar mit historischen Tatsachen (Gegenstand) übereinstimmt“ (338). Zimmermann möchte ihnen mit dem Hinweis auf andere Wahrheitsmodelle (z. B. Kohärenz- und Konsenstheorie) helfen, wobei sie v. a. die pragmatische Wahrheitstheorie vor Augen hat, „bei der eine Aussage dann als wahr gilt, wenn sie sich als nützlich oder hilfreich, z. B. in der Lebensführung erweist“ (342). „Im Blick auf das Bibelverständnis ist damit die Aufgabe gestellt, das eng begrenzte Wahrheitsverständnis der Schüler zu entgrenzen, um so die Voraussetzungen zu schaffen, die ‚Wahrheit der Bibel‘ neu zu entdecken, sie in umfassender Weise verstehen zu lernen“ (343). Zimmermann übersieht dabei jedoch, dass die Schülerinnen und Schüler mit ihrer zugespitzten Fragestellung viel eher auf der richtigen Spur sind, da der christliche Glaube laut biblischem Selbstzeugnis gerade mit der historischen Wahrheit der berichteten Ereignisse (Lk 24,34) steht und fällt (1Kor 15,14.17; Lk 7,18–23).
Positiv ins Auge fallen v. a. die folgenden vier Beiträge, die sich dezidiert mit den Unterschieden zwischen katholischem und evangelischem Schriftverständnis auseinandersetzen.
Wie die evangelische systematische Theologin Christiane Tietz aufzeigt, wird das Prinzip sola scriptura durch die Erkenntnis relativiert, dass die Entstehung des biblischen Kanons ein Traditionsvorgang war (284). Auch Martin Luthers „Kanon im Kanon“ bzw. seine Vorbehalte gegenüber dem Jakobus- und Judasbrief stehen in einer gewissen Spannung zu diesem Prinzip (287). „Überdies argumentiert Luther durchaus auch mit der Tradition, z. B. bei der Frage der Kindertaufe, bei der die Schrift nach seinem Urteil keine klare Vorgabe macht“ (287; vgl. WA 30/III, 552,8–15 [1532])
Der evangelische Kirchenhistoriker Volker Leppin nimmt eine „Neubestimmung der Genese des reformatorischen Schriftprinzips“ (241) vor. Er zeigt überzeugend auf, dass das Verhältnis von Schrift und Tradition im Mittelalter nicht lediglich im Sinne des Harmoniemodells beantwortet wurde, sondern dass es v. a. im Kirchenrecht bereits vorreformatorisch Ansätze des später für den Protestantismus typischen Differenzmodells gab. Entsprechende Aussagen finden sich z. B. im Decretum Gratiani (D. 9 c. 5) aus dem 12. Jahrhundert, auf welches sich Luther 1518 in seiner Entgegnung an Silvester Prierias gestützt hat (241; vgl. WA 1,647,22–24). Leppins Fazit lautet: „Für das evangelische Selbstverständnis ist die Bedeutung der spätmittelalterlichen Kanonistik für die Entwicklung des Schriftprinzips in gewisser Hinsicht kontraintuitiv. Ausgerechnet aus der kirchlichen Rechtsbildung kam der Ansatzpunkt für jene Lehre, die sich später in besonderer Weise gegen die Vorrangstellung des Kirchenrechts gewandt hat … [E]s [dient] der redlichen Selbstvergewisserung auch im Zusammenhang des Reformationsjubiläums, wenn sich evangelische Theologie klar macht, dass an ihren Anfängen das mittelalterliche Kirchenrecht eine gewichtige Rolle gespielt hat“ (243f). Leppin geht nicht auf Erasmus von Rotterdam ein, der in seiner Schrift De libero arbitrio (1524) gegenüber Luther zwar mit der Tradition argumentiert, gleichzeitig aber weitgehende Zugeständnisse in Richtung sola scriptura macht.
Die katholische Alttestamentlerin Irmtraud Fischer und der Medienwissenschaftler Rainer Winter vertreten die These, dass die Bibel und ihre Auslegung zusammengehören: „Wo eine Rezeptionsgemeinschaft fehlt, die einen kanonischen Text weiterhin als für sie bedeutsam und bindend ansieht, erlischt dessen kanonische Würde. Die Bibel bleibt also nur Bibel, wenn sie weiterhin rezipiert, neu ausgelegt und aktualisiert wird“ (44f). Gleichzeitig stehen die beiden Autoren der katholischen Tradition kritisch gegenüber und sprechen von einem „komplexen Entscheidungsprozess, welche Auslegungen Eingang in ‚die Tradition‘ finden“ (27). „Zu ‚der Tradition‘ werden … Auslegungen von Mächtigen und Einflussreichen hochstilisiert“ (27). „Wer also von Schrift und Tradition als Glaubensgrundlage ausgeht, muss sich zumindest bewusst sein, dass sich ‚die Tradition‘ durch die Geschichte hindurch häufig geändert hat, viele Traditionen in sich vereint, sehr viele aber auch ausgeschlossen und vergessen bzw. gezielt zum Verschwinden gebracht hat“ (27).
Der katholische Alttestamentler Christoph Dohmen zeigt in Bezug auf die in der Konstitution Dei verbum (Vaticanum II) gemachte Aussage „Die heilige Theologie stützt sich auf das geschriebene Wort Gottes, zusammen mit der heiligen Überlieferung“ (Vat II DV 24) auf, „dass hier allerdings kein additives Verständnis mehr im Sinne von Hl. Schrift und Tradition vorliegt, denn es heißt hier ‚una cum‘, womit eine organische Einheit und keine Addition oder Reihung gemeint ist“ (76). Dohmen geht auch auf den „großen“ alttestamentlichen Kanon der katholischen Kirche ein, der eine große Herausforderung für das ökumenische Gespräch darstellt: „Die Beobachtungen der ökumenischen Differenz in Bezug auf den atl. Kanon werfen die Frage auf, ob eine christliche Einigung in dieser Frage möglich ist“ (68).
Im Großen und Ganzen stehen die Beiträge im Einklang miteinander und laufen auf ein Gesamtbild hinaus, welches im Vorwort auf den Punkt gebracht wird: „Die plakativen Formeln Sola scriptura oder Schrift und Tradition treffen … die heutige differenzierte Sicht der Dinge nicht mehr genau, weisen aber die Richtung, in welcher die Unterschiede zu suchen sind beziehungsweise immer wieder gesucht wurden“ (V).
Fazit: Der 31. Band des Jahrbuches für Biblische Theologie enthält einige sehr aufschlussreiche Abhandlungen, die man an einem 31. Oktober lesen könnte, um den Reformationstag zu reflektieren.
Dr. Boris Paschke ist Lehrer für evangelische Religion an öffentlichen weiterführenden Schulen in Brüssel und Gastprofessor für Neues Testament an der Evangelischen Theologischen Fakultät in Leuven