Altes Testament

Georg Fischer: Genesis 1–11

Georg Fischer: Genesis 1–11, Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament (HThKAT), Freiburg: Herder, 2018, Ln., 752 S., € 115,–, ISBN 978-3-451-26801-4


„Gottes Offenbarung ist ein Geschenk an die Menschheit. Ihre Tiefe ist unauslotbar. Ihre Botschaft und Ausstrahlung bezeugen eine überirdische Kraft. Ihre Texte sind in einem Maße ‚rein‘ und ‚wahr‘, das über übliche Literatur hinausgeht und zum Staunen bringt.“ Solche geistlichen Einsichten verblüffen zu Beginn eines kritischen Kommentars. Doch dies ist nur der Anfang einer ganzen Reihe von Überraschungen.

Der katholische Alttestamentler Georg Fischer (Innsbruck) hatte nach seinem doppelbändigen Kommentar zu Jeremia in derselben Reihe (2005) eigentlich geplant, wie er freimütig zugibt, „nie mehr eine solche Arbeit zu übernehmen“ (11). Es ist ihm zu danken, dass er sich nach einigen Vorarbeiten – v. a. Die Anfänge der Bibel. Studien zu Genesis und Exodus, SBA 49, Stuttgart: KBW, 22012 und zu Gen 25–50 Der Jakobsweg der Bibel. Gott suchen und finden,Stuttgart: KBW, 2010 – doch noch einmal auf eine solche Belastung eingelassen hat. „Genesis verstehen wollen ist wie unendliches Schwimmen im offenen Meer – es kann nur mit Gottes Hilfe gelingen“ (43). Aus der uferlosen Menge an Literatur orientiert sich Fischer an einigen Theologen, welche ihm „wie Leuchttürme… einen Weg weisen“ (45, Hervorhebungen durch den Autor). Im Kern nennt er vier (51): die jüdischen Forscher Benno Jacob, „der alles bis dahin zu Genesis Geschriebene in den Schatten stellte“ (46) und Umberto Cassuto, sowie Gordon Wenham und den irischen Priester Thomas Brodie. Dass er darüber hinaus selbst Amerikanern Victor Hamilton, Kenneth Mathews und Bruce Waltke nicht nur Aufmerksamkeit, sondern hohen Respekt zollt, erscheint im deutschen Kontext völlig ungewöhnlich. In dem etwa zeitgleich erschienenen Kommentar von Jan Christian Gertz (ATD) tauchen deren aktuelle akademische Kommentare noch nicht einmal im Literaturverzeichnis auf.

Die Einleitung (33–111) bietet im Gespräch mit der aktuellen Forschung knappe Einführungen zur Umwelt, Textgeschichte, Struktur und Theologie (Hauptthemen nach Fischer: Gott, fehlende Antwort des Menschen, Segen und Fluch, Menschenbild, Weltauffassung, ‚frommes‘ Leben als Ideal, 102–110).

Strukturell orientiert sich Fischer neben Setumot/Petuchot, Paraschen und Sedarim an der Toledot-Formel, ergänzt durch literarische Kriterien: Prolog (1,1–2,3); 1. Toledot von Himmel und Erde (2,4–25; 3; 4); 2. Toledot, des Menschen / Adam (5; 6,1–8); 3. Toledot, von Noach (6,9–7,24; 8,1–9,17; 9,18–29); 4. Toledot, von Noachs Söhnen (10; 11,1–9); 5. Toledot, von Sem (11,11–26); 6. Toledot, von Terach (11,27–32). Noah erscheint hier als menschliche Zentralgestalt, mit fast vier Kapiteln besonders betont (79).

Es entfällt der oft übliche Einstieg mit Hinweisen auf die Notwendigkeit einer Quellenscheidung aufgrund unübersehbarer Spannungen, Brüche und Dopplungen. (Fischer nimmt „Störungen“ durchaus wahr. Bei näherer Betrachtung zielen diese jedoch auf „spezielle Effekte und vermitteln eine tiefere Botschaft“, geben der Erzählung mehr Dynamik und Lebendigkeit, 80–82, 177f). Stattdessen möchte Fischer erst „im Abschluss, zurückschauend auf den Befund“ Entscheidungen über die Entstehung des Werkes rechtfertigen (15). Auf eine Diskussion um Schichten und Redaktionen wird im fortlaufenden Kommentar vollständig verzichtet, die Analyse erfolgt konsequent synchron. In dieser Konsequenz stellt das Vorgehen eine kleine Sensation dar, wenn man bedenkt, wie viele Alttestamentler sich bis heute an der diachronen Frage abarbeiten.

Die eigentliche Kommentierung erfolgt abschnittsweise nach gleichbleibendem Muster: Literaturhinweise, Übersetzung, Anmerkungen zur Übersetzung, einführende Analyse (Abgrenzung zum Kontext, Auffälligkeiten, Struktur, Gattung, zeitgeschichtlicher Hintergrund), Vers-für-Vers-Auslegung, Überlegungen zur Bedeutung. Dreizehn Exkurse vertiefen bestimmte Fragen, u. a. Syntax und Verständnis von Gen 1,1–3, der Mensch als Statue Gottes, der Park (in) Eden, der Baum der Erkenntnis, die Schlange, der „Bogen“ in Gen 9.

Fischer selbst nennt rückblickend folgende Fragen, bei denen ihm besondere Diskrepanzen zwischen den Auslegern aufgefallen sind (676–682): 1. Die Auffassung von Gott. Fischer lässt Sachkritik in Einzelfragen zu (Disqualifizierung Kanaans, Geschlechterfrage), kommt allerdings bei der Beurteilung von Jhwh als „idealer“ Gott voll Güte, Stärke und Weisheit zu einem rückhaltlos positiven Ergebnis. 2. Der Baum der Erkenntnis steht nach Fischer für autonomes menschliches Urteilen gegen eine ausdrückliche göttliche Anweisung. 3. Gottes Missachtung von Kains Opfer lässt sich seiner Ansicht nach in einer im Text selbst nachweisbaren besonderen Hingabe Abels begründen. 4. Die „Göttersöhne“ in 6,1–4 deutet Fischer als ironische Beschreibung des „starken Geschlechts“. Spätestens hier wird deutlich, dass Fischer nicht von der Historizität und Wirklichkeit der in der Urgeschichte geschilderten Ereignisse ausgeht, vielmehr seien die Beschreibungen „‚über-geschichtlich‘, mythisch und symbolisch“ (37, ohne Verweis auf Gunkel), „die grundlegende Zusammenhänge und die Bedeutung menschlichen Daseins erhellen wollen“ (38, Hervorhebungen durch den Autor, vgl. 409, 673). Es stellt sich die Frage, ob mit dieser Aufspaltung von Glaube und Geschichte das ursprüngliche Textverständnis tatsächlich getroffen wird.

Über weitere Einzelentscheidungen bei der Kommentierung ließe sich vieles berichten. Dass Fischer vorsichtig argumentiert und manche Frage offenlässt, lässt sein Urteil zuverlässig erscheinen, befriedigt andererseits nicht immer. So muss man sich etwa zur Frage nach einem Proto-Evangelium mit der wenig überraschenden Einsicht zufriedengeben, dass der ursprüngliche Textsinn „offener“ sei, also wenn dann nur undeutlich auf das Kreuz hinweise (250; er übersetzt das hebr. hûʼ „er“ in 3,15 kollektiv als „sie“).

Vom Umfang her löst der Kommentar das bisherige Standard-Kompendium von Claus Westermann (824 S.) zur Urgeschichte ab. Während dieser im Nachwort (ohne Konsequenzen für die eigene Untersuchung) feststellte, dass keines der traditionell vorgebrachten Kriterien zur Quellenscheidung für sich genommen trägt (Genesis. Bd. II: Genesis 1–11 (BK I/1). Teil 2: Gen 4–11,BKAT, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1974, 41999, S. 764–776), geht Fischer einen Schritt weiter. Nach den Einsichten der bislang umfangreichsten Forschungsgeschichte zur Tora durch Cornelis Houtman (niederländisch 1980, deutsch 1994), zahlreicher neuerer Untersuchungen zu den klassischen „Beweistexten“ Gen 1–2 und 6–9 sowie eines skeptischen Beitrags zur (Un)Möglichkeit der Rekonstruktion von Vorstufen eines Textes (Benjamin Ziemer in ZAW 125, 2013) verabschiedet sich Fischer (wie bereits in seinem Exodus-Kommentar, 2009) von dem klassischen Modell der Quellenscheidung. Mit einer Priesterschrift ist nicht zu rechnen, „weder als Quelle noch als spezielle redaktionelle Bearbeitung“ (695). Fischer weist auf die erheblichen inhaltlichen und stilistischen Unterschiede innerhalb der P zugeordneten Texte hin. Andererseits sind die Unterschiede zwischen P und J/E wesentlich geringer, als etwa zwischen Erzählstimme und Reden. Schwerer noch wiegt der Verlust innerer Kohärenz und Logik bei einer Aufteilung des Textes. „Die rekonstruierten Vorstufen ergeben dabei kaum je einen eigenständigen, durchlaufenden Text, der in der Logik der Abfolge mit Gen 1–11 in der vorliegenden Form mithalten könnte. Die postulierten ‚Vorformen‘ sind oft noch inkohärenter als der vorliegende Text, den sie wegen seiner ‚Inkohärenz‘ verbessern wollen“ (694).

Fischer vermutet hinter dem Text von daher einen einzelnen Autor, einen „hochstehenden Poeten“, der wie ein Komponist „auf vorliegende Traditionen oder Materialien zugegriffen“ hat (698, Hervorhebungen durch den Autor). Dass die Texte Bräuche und Verhältnisse aus der Zeit des Abraham und Mose widerspiegeln, kann ihn allerdings nicht von einer Abfassung im 2. Jahrtausend v. Chr. überzeugen (700, 48f). In Anlehnung u. a. an seinen Doktorvater Jean Louis Ska, der Abram als eine „Symbolfigur der Gola“ deutet, datiert Fischer die Genesis in die persische Zeit (6.–4. Jh. v. Chr.). Die Begnadigung Jojachims im Jahr 561 v. Chr. sei ein terminus ad quem für die Genesis als Teil eines „übergreifenden großen Gesamtwerkes“, welches sich „vermutlich“ bis 2Kön 25 erstrecke (700). In diesem Zusammenhang fühlt man sich an Martin Noths einsamen Deuteronomisten erinnert, den dieser ja auch nicht als Redaktion oder Schule, sondern als konkrete Person und Verfasser ansah, allerdings nur von Dtn–Kön und im Exil.

Bei diesen Überlegungen sollte Benjamin D. Sommers Warnung bedacht werden, die jüngst noch einmal von Ronald Hendel und Jan Joosten, How Old Is the Hebrew Bible? A Linguistic, Textual, and Historical Study, New Haven: Yale UP, 2018, S. 101, aufgegriffen wurde: es ist ein „simplistischer Reduktionismus“, das Selbstzeugnis des Textes hintenan zu stellen und eine Datierung auf die Frage zu stützen, in welche Zeit ein Text inhaltlich wohl am besten passen könnte. Auf diesem Weg ist vielfach „bewiesen“ worden, dass das Buch Genesis angeblich im 12., 10., 7. und 5. Jahrhundert verfasst worden sein muss. Denn die Botschaft passt irgendwie immer. Das ist „Pseudo-Historizismus“.

Auch ist die These eines großen (nach)exilischen Geschichtswerks Gen–Kön durch einen einzelnen Autor ist hier zu schwach begründet und scheitert nach Ansicht des Rezensenten an dem unterschiedlichen literarischen Charakter der Bücher und deutlichen Textsignalen der Buchabgrenzung. Der terminus post quem findet sich nicht in 2Kön 25,27, sondern in Gen 50,26.

Ein kurzer Exkurs gegen Ende informiert über Fischers Ansicht zu Schöpfung und Evolution. Er folgt einer gängigen katholischen Sichtweise, wohl in Tradition von Pius XII. und v. a. Johannes Paul II., bei Stephen J. Gould, Rocks of Ages. Science and Religion in the Fullness of Life,London: Vintage, 2002, S. 70–82, als NOMA (nonoverlapping magisteria) bezeichnet: „Dem Naturwissenschaftler geht es um das Erkennen von Vorgängen und Zusammenhängen, deren Einordnung und genaue Erfassung in Maßen, der Bibel eher um deren Deutung, eine Gesamt-Perspektive und vor allem um den Bezug zu Gott“ (721, vgl. 36f). Selbst die Argumentation des intelligent design sei nicht notwendig angesichts der unterschiedlichen Zugangsweisen von Glaube und Naturwissenschaft.

Qualität und enzyklopädischer Umfang machen vorliegenden Kommentar zu einem unverzichtbaren Standardwerk für Alttestamentler jeder Couleur. 21 Abbildungen illustrieren altorientalische Parallelen; 29 Diagramme erleichtern zudem das Verständnis. Auch bei der Predigtvorbereitung sollte man sich vom Gewicht des Werkes nicht abschrecken lassen (beispielsweise umfasst die reine Auslegung der 9 Verse des „Turmbau zu Babel“ überschaubare 17 Seiten). Die Stichworte am Rand garantieren einen schnellen Zugriff und das eingearbeitete Fachwissen erspart so manchen Griff ins Regal.


Dr. Siegbert Riecker ist Lehrer an der Bibelschule Kirchberg und External Instructor an der Evangelischen Theologischen Faculteit in Leuven.