Altes Testament

Eckart Otto: Deuteronomium 23,16–34,12

Eckart Otto: Deuteronomium 23,16–34,12, HThKAT, Freiburg i. Br.: Herder, 2017, geb., 584 S., € 100,–, ISBN 978-3-451-25078-1


Der vierte Teilband des Deuteronomium-Kommentars von Eckart Otto knüpft nahtlos an den dritten Teilband an, den ich für die AfeT-Rezensionen bereits rezensiert habe, und führt zunächst die Auslegung des Deuteronomischen Gesetzes (Dtn 12–26) zu einem Abschluss. Die Qualitäten des Kommentars bleiben dieselben, wobei beeindruckend ist, dass sich bis zum Schluss des Kommentars keine Ermüdungserscheinungen des Verfassers wahrnehmen lassen, sondern das Deuteronomium in voller Frische und Gründlichkeit bis zum Tod des Mose kommentiert wird. Da die Anlage des Kommentars schon in der Rezension des vorausgehenden Teilbandes besprochen wurde, sollen hier exemplarisch einige Fragestellungen herausgegriffen werden. Besonders hilfreich sind immer wieder die forschungsgeschichtlichen Überblicke zur Auslegung einzelner Perikopen.

Der Tod des Mose (Dtn 34) dient nach Otto in synchroner Lektüre des Pentateuchs als hermeneutischer Schlüssel zur Tora. Er bringt es auf der letzten Seite des Kommentars auf die Kurzformel „Mose muss sterben, damit die Tora leben kann“ (2286). In der diachronen Analyse folgt Otto der These von L. Perlitt, in Dtn 34 keine Priesterschrift zu sehen. Stattdessen hält er das ganze Kapitel für nachpriesterschriftlich, wobei er Dtn 34,1–6.8 einer Hexateuchredaktion zuschreibt, an die das Josuabuch nahtlos anknüpfen kann, während 7.10–12 dann von einer Pentateuchredaktion stamme, die mit dem Tod des Mose den Pentateuch aus der Taufe hebt. Das Amt der Vermittlung des Gotteswillens wird also nicht von Josua weitergeführt, der gerade kein Prophet wie Mose ist, sondern von der verschrifteten Tora. Josua dagegen führt die Toraauslegung weiter, was das Amt der Schriftgelehrten in der nachexilischen Zeit begründet.

Den forschungsgeschichtlichen Überblick zum Moselied (Dtn 32) leitet Otto mit der Bemerkung ein, dass in keinem anderen Kapitel des Deuteronomiums die Wege der Forschung so weit auseinandergehen, von mosaischer bis zu hellenistischer Datierung. Ein ironischer Unterton in der darauf folgenden Darstellung der Forschungsgeschichte ist wohl nicht von der Hand zu weisen. Otto selbst möchte die Datierung des Moseliedes in Dtn 32,8–9 verankern: Die Verteilung der Völker auf Mitglieder des himmlischen Hofstaates entspreche der Organisationsform des achämenidischen Großreiches; da das Moselied ohne diese Verse nicht funktioniere, sei eine Abfassung vor dem 4. Jh. unwahrscheinlich. Im Rahmen dieser späten Datierung des Moseliedes sieht Otto das Moselied in seinen vielfältigen literarischen Verbindungen zu anderen alttestamentlichen Texten durchgehend als den nehmenden Text: „Das Moselied in Dtn 32,1–43 ist als ein komplexes Netz von Rezeptionen und Anspielungen des Corpus propheticum, des Psalters und der Weisheitsschriften verfasst worden“ (2170). Während der Text des Moseliedes nur Unheil ankündigt, werde diesem ein Subtext aus Zitaten und Anspielungen (vor allem Asaphpsalmen, Deuterojesaja und Jeremia) unterlegt, „der schon dort, wo Mose und JHWH noch Unheil für Israel verkünden, bereits auf das Heil für Israel hinweist“ (2201). In der Zeit des sich konstituierenden Kanons aus Tora, Prophetie und Schriften (Psalmen und Weisheit), weist das Moselied diesen Schriften, indem es sie zitiert, ihre Funktionen in Beziehung zur Tora zu: Mose wird zum Modell der nachmosaischen Propheten, deren Prophetenamt als Amt der Toraauslegung gedeutet wird; die Psalmen haben weissagende Funktion und dienen der Überwindung von Israels Leidenszeit durch Heilsankündigung. Natürlich gibt es zu dieser Deutung auch kritische Anfragen: Im Rahmen eines Kommentars kann die postulierte Abhängigkeitsrichtung verständlicherweise nicht in allen Fällen detailliert begründet werden. Doch fragt sich, wenn das Moselied wirklich ein Bewusstsein eines entstehenden Kanons verrät, ob dann die zitierten Texte nicht gezielter ausgewählt würden mit kanonisch signifikanten Schlüsseltexten. Ein Konzept der Textauswahl lässt sich aus meiner Sicht jedenfalls kaum erkennen. Aufgrund der Streuung der Bezüge des Moseliedes zu anderen alttestamentlichen Texten scheint mir auf den ersten Blick nach wie vor die Auffassung näher zu liegen, dass es sich beim Moselied um einen Text mit hohem Ansehen handelt, dessen Echo an verschiedenen Stellen des Alten Testaments hallt.

Als dritter Text sei noch Dtn 27 herausgegriffen. Lange Zeit war es ein recht weitgehender Konsens, dass der Pentateuch in seiner Endgestalt das Produkt der nachexilischen Priesterschaft Jerusalems sei und gerade das Deuteronomium mit der Kultzentralisation der Legitimation des Jerusalemer Tempels diene. Diese Sicht der Dinge lässt sich so nicht mehr halten, seit 2008 ein Ergänzungsband zu den Grabungen von Yitzhak Magen auf dem Garizim erschienen ist, der deutlich macht, dass nicht wie bisher angenommen um 200 v. Chr., sondern schon im 5. Jh. v. Chr. ein JHWH-Tempel auf dem Garizim existiert hat, sodass das Zentralheiligtum im Deuteronomium nicht einfach auf Jerusalem bezogen werden kann. Gary Knoppers hat darauf mit der These reagiert (2013), es handle sich beim Pentateuch um ein Kompromissdokument zwischen Samaritanern und Juden, wobei die Identifizierung des Zentralheiligtums bewusst offen gelassen werde, um beiden Gruppen zu erlauben, die Ansprüche des Pentateuch auf sich zu beziehen. Nach Otto krankt die These Knoppers bisher daran, dass auf eine differenzierte Literaturgeschichte von Dtn 27 in nachexilischer Zeit verzichtet wird. Otto selber unterscheidet eine großisraelitische Perspektive der Hexateuchredaktion von einer kleinjudäischen Perspektive der Pentateuchredaktion. Während eine deuteronomistische Bundesdeklaration im 6. Jh. (Dtn 26,16f; 27,9b–10) noch gar keine Frage nach der Legitimierung eines Ortes im Blick hatte, vertritt eine nachexilische Fortschreibung im Zuge der Hexateuchredaktion eine großisraelitische Perspektive (Dtn 27,1–3.9a), worauf in einer spätnachexilischen Perspektive (4. –3. Jh.) erst eine prosamaritanische Position eingefügt wird (Dtn 27,4–8.11–13b), wobei dann eine weitere spätnachexilische Fortschreibung im 3.–2. Jh. (Dtn 27,14–26; auch Jos 8,30–35) die prosamaritanische Position in eine antisamaritanische Position umgebogen habe. Wenn also eine antisamaritanische Pentateuchredaktion das letzte Wort hatte, bleiben damit freilich zwei Fragen unbeantwortet: Erstens, warum diese Redaktion dann nicht eindeutig klärt, dass das Zentralheiligtum auf den Jerusalemer Tempel abzielt und zweitens, warum in einer synchronen Lektüre des ganzen Pentateuch nach wie vor Sichem und Efraim einen deutlichen Vorzug vor Jerusalem und Juda haben (siehe dazu jüngst J. Bergsma in BZAR 22, 2019).

Das Fazit zum Kommentar fällt aus wie beim vorhergehenden Teilband: In der diachronen Thesenbildung bleiben viele Fragezeichen. Insbesondere driften die Datierungen literar- und redaktionskritischer Pentateuchmodelle und die Datierungen der diachronen Linguistik, die immer mehr Gründe dafür vorbringt, dass der Pentateuch im Großen und Ganzen in einem vorexilischen Hebräisch abgefasst ist (zuletzt J. Joosten und R. Hendel 2018), immer weiter auseinander. Eine wahre Fundgrube ist der Kommentar in Forschungsgeschichte, in Materialien aus der Umwelt Israels, in ausführlicher textkritischer Kommentierung und nicht zuletzt in den sehr gehaltvollen Einsichten der synchronen Auslegungen, die in großen Teilen nicht von den diachronen Thesen abhängig sind. Man wird noch lange Zeit sagen können, dass hinfort kein Deuteronomiumskommentator wie Eckart Otto aufstand, der in dieser Tiefe und Fülle und mit dieser Liebe zur Tora das Deuteronomium auslegte.


Ass.-Prof. Dr. Benjamin Kilchör, Staatsunabhängige Theologische Hochschule Basel