Eberhard Hahn: Schrift und Geist
Eberhard Hahn: Schrift und Geist. Beiträge zur Wirkung des Wortes Gottes im Leben der Gemeinde, hrsg. von Wolfgang Becker, Holzgerlingen: SCM Brockhaus, 2019, Pb., 317 S., € 16,99, ISBN 978-3-417-26868-3
Aus Anlass des 65. Geburtstages Eberhard Hahns wurden elf seiner wichtigsten, bisher anderswo erschienenen Aufsätze in diesem Sammelband zusammengestellt. Wolfgang Becker, Hahns Nachfolger im Amt als theologischer Mitarbeiter und Rektor des Diakonissenmutterhauses Hensoltshöhe in Gunzenhausen, ordnet die Aufsätze dabei thematisch. Der Buchtitel orientiert sich am Gewicht, das der Grundlagenteil (11–117) von seinem Umfang und Inhalt her aufweist. Die Wirkmacht der Bibel als Wort Gottes bzw. das reale Handeln Gottes ist aber auch Ausgangspunkt, Erkenntnisgrundlage und Kriterium für die weiteren Oberthemen: Pneumatologie (119–155), Anthropologie (157–209), Ethik (211–283), Ekklesiologie (285–304). Ein Anhang mit biographischen und bibliographischen Informationen zum Jubilar schließt sich an (305–317).
Eberhard Hahns Verdienst liegt darin, theologische Weichenstellungen präzise zu benennen und in ihrer Relevanz wie in ihren Konsequenzen aufzuzeigen. Dabei führt er den Leser immer wieder in die Schule Luthers und unterstützt dadurch Liebe wie Respekt gegenüber der Bibel als Wort Gottes. So wird an der Auseinandersetzung zwischen Luther und Erasmus deutlich, dass es in den theologischen Kontroversen nicht wie oft behauptet um die Spannung zwischen Glauben und Moderne, auch nicht nur um einen Richtungsstreit geht. Vielmehr steht im Umgang mit der Bibel alles, was Christsein und Kirche ausmacht, auf dem Spiel. Während Erasmus die Bibel in Teilen für dunkel und gefährlich hielt und ethische Grundsätze als den mit der Vernunft kompatiblen Strang der Bibel herauszustellen versuchte, betonte Luther die Klarheit der Heiligen Schrift (15, 17). Hahn fasst in Anlehnung an seinen akademischen Lehrer Reinhard Slenczka Luthers Erkenntnis so zusammen, dass die Bibel ein „primum principium“ (18f) ist, hinter das nicht weiter zurückgefragt werden kann. Nicht die Bibel ist das Problem, sondern die Finsternis des menschlichen Herzens, die mangelnde Erleuchtung bzw. die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen (17). Interpretations- und Verstehensbemühungen der Menschen anstelle der Wirkkraft des Wortes Gottes treten in den Vordergrund, wenn historische Skepsis und Bibelkritik zum Ausgangspunkt gemacht werden. Menschen versuchen dann, durch eine Neuinterpretation, die je nach Kontext sehr unterschiedlich verlaufen kann, der historisch für unzuverlässig gehaltenen Bibel nachträglich eine Relevanz für die Gegenwart zu verleihen (24). Das subjektive Vorverständnis des Auslegers wird zum Schlüssel, was Hahn zufolge dazu führt, dass die Bibelkritik in einer Echo-Wirkung nurmehr die jeweils eigene Stimme des Auslegers statt der Stimme Gottes hörbar macht (17, 22f, 26).
Hahn zeigt mit Luther auf, dass Geist und Buchstabe der Schrift zusammengehören und dadurch mit der Bibel – nicht innerhalb der Bibel – zwischen Gottes- und Menschenwort unterschieden wird (21). Ausgerechnet aus dem für eine „stroherne Epistel“ gehaltenen Jakobusbrief (Jak 1,18) gewann Luther den zentralen Beleg für das Wesen der Kirche (20). Auch dies spreche gegen den Gebrauch der Formel „Was Christum treibet“ als Kriterium für Selektion und Sachkritik. Die Geschichtlichkeit der Offenbarung meine die Gegenwart Gottes in der Geschichte, nicht die Geschichtsbedingtheit als Relativierung der Aussage- und Wirkkraft der Bibel, so Hahn (29).
Die Unterscheidung zwischen dem, was Gott redet und wirkt, und dem, was der Mensch sich überlegt, wünscht oder tut, betrifft auch den Begriff des Dogmas. Das Dogma meint mit dem, woran das Herz hängt, worauf es sich verlässt, was es fürchtet, letztlich das erste Gebot. Wird Gott und sein Wille nicht akzeptiert, dann treten andere Inhalte an diese Stelle und werden zum konkurrierenden, neuen Dogma. In der theologischen Argumentation wird z. B. häufig behauptet, „heute“ könne man bestimmte biblische Inhalte so nicht mehr vertreten. Der Fortgang der Zeit wird dadurch gegenüber Gott als Schöpfer der Zeit verselbständigt. Hahn betont, dass die Anstößigkeit des Dogmas nicht zeit-, sondern sachbedingt sei, weil es um die Bereitschaft zum bekennenden Lobpreis Gottes geht (49, 51).
In ähnliche Richtung zielen die Beobachtungen, die Hahn während seiner Zeit als Dozent in Brasilien machte. Die brasilianische Befreiungstheologie enthält demnach dort Berührungspunkte mit der Reformation, wo den Laien der Zugang zur eigenständigen Bibellektüre ermöglicht wird (109f). Allerdings geschehe die Bibellektüre dort so, dass der soziale Kontext, die Weltwirklichkeit und nicht die Wirklichkeit des in seinem Wort gegenwärtigen Gottes zum Ausgangspunkt gemacht werde (111f). Auch hier werde die Bewegungsrichtung zwischen Wort Gottes und Mensch umgedreht und der Bibel ihr bleibender Skandal- und Korrektiv-Charakter, der zur eigenen Umkehr ruft, genommen (112).
Hahn zeichnet im Sinne lutherischer Theologie den trinitarischen Zugriff auf Erkenntnis und Erfahrung des Wirkens Gottes nach. Zur Abgrenzung sowohl gegen die liberale Theologie als auch problematische Phänomene der charismatischen Bewegung stellt er die Erleuchtung (2Kor 4,6) in der Weise heraus, dass sich der Heilige Geist an den Buchstaben der Schrift bindet (vgl. Joh 6,63.68; 14,26) und auf das Bekenntnis zu Christus als Herrn abzielt (121–127; vgl. 1Kor 12,3). Der christologische Bezug schützt Geistesgaben nach Hahn vor einer Verselbständigung (153f).
Um die notwendige Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf und damit letztlich um das erste Gebot geht es Hahn zufolge auch in ethischen Kontroversen. So werde von den Befürwortern einer Segnung bzw. kirchlichen Trauung gleichgeschlechtlicher Lebenspartner nach dem Grundsatz „Am Anfang war die Betroffenheit“ verfahren (276). Am äußeren Schriftwort vorbei beanspruche hier der Mensch einen direkten Zugang zu Gottes Offenbarung. Die Bewegungsrichtung zwischen Gott und Mensch wird Hahn zufolge jedoch umgedreht, wenn das Wort Gottes nicht mehr gemäß Gott, der redet, sondern gemäß dem jeweiligen Menschen, der empfängt, gedeutet wird (278). Letztlich geht es um die Frage nach der letzten Instanz, also auch um das Erstnehmen des kritischen Potentials der Bibel (278f). Praktizierte Homosexualität eignet sich dementsprechend durch den Vorgang des Vertauschens der von Gott eingesetzten Ordnung als Beispiel für das Wesen der Sünde (274f; vgl. Röm 1,23–27).
Sehr lesenswert sind Hahns Analysen zur Sünde (157ff) sowie zur Ekklesiologie (285ff). Hahn öffnet die Augen für die Einzigartigkeit des Heilswerkes Gottes und das Alleinstellungsmerkmal einer daran gebundenen Kirche. So durchbreche der Zuspruch der Sündenvergebung das unheilvolle Netz menschlicher Schuldverstrickung, Ent- und Beschuldigung (189, 191). Das Wissen darum, dass Kirche nicht Geschöpf des Menschen, sondern Widerfahrnis des Wirkens Gottes ist, entlastet Hahn zufolge kirchliches Handeln und verleiht ihm zugleich eine wesensgemäße Dynamik (301–303).
Insgesamt eignet sich der Sammelband inhaltlich, sprachlich und didaktisch sehr gut als Einführung in biblisch-reformatorische Theologie. Dass ein Personen- und Bibelstellenregister fehlt, wird durch die Hinweise auf besonders einschlägige Primärquellen sowie Sekundärliteratur kompensiert.
Dr. Christian Herrmann, Bibliotheksdirektor und Leiter der Historischen Sammlungen, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart