Martin Niemöller: Gedanken über den Weg der christlichen Kirche
Martin Niemöller: Gedanken über den Weg der christlichen Kirche, hrsg. von Alf Christophersen, Benjamin Ziemann, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2019, geb., 272 S., € 25,–, ISBN 978-3-579-08544-9
Der Wuppertaler Systematiker Alf Christophersen und der in Sheffield lehrende Historiker Benjamin Ziemann haben im Mai 2019 mit dem bisher unveröffentlichten Niemöller-Manuskript „Gedanken über den Weg der christlichen Kirche“ auf ein wichtiges Dokument aus der Zeit des Kirchenkampfes aufmerksam gemacht.
In der Einleitung (7–60) schildern die beiden Herausgeber Niemöllers Konversionspläne, die Entstehungssituation, Relevanz und theologische Bezüge des Manuskripts sowie die Prinzipien der Edition. Den Hauptteil des Buchs bildet das edierte handschriftlich verfasste Dokument (61–209). Danksagungen (211f ), gut informierte Anmerkungen zur Einleitung und zum Dokument (213–251) und Register der von Niemöller erwähnten Personen und Bibelstellen sowie der im Buch verwendeten Abkürzungen (253–268) beschließen das Buch.
Martin Niemöller (1892–1984) hat das Manuskript innerhalb von knapp drei Monaten in der zweiten Jahreshälfte 1939 niedergeschrieben, als er sich im KZ Sachsenhausen in Einzelhaft befand (7). Von 1938 an hatte der seit 1937 Inhaftierte zwei Jahre lang ernsthaft erwogen, in die römisch-katholische Kirche überzutreten (8f, 25). In seine Überlegungen waren auf dem Korrespondenzweg Hans Asmussen und seine Frau Else einbezogen, die ihn letztlich von dem Entschluss abbrachte (10–13, 20–25). Niemöllers Status als der „persönliche Gefangene des Führers“ gab ihm die Möglichkeit, seine umfangreichen theologischen Überlegungen zu Papier zu bringen (38).
Die Grundspannung zwischen wahrer, geistlicher, innerlicher Kirche und der äußerlich-leiblichen ist schon bei Luther angelegt (40). Sie „steht permanent im Raum, wenn Martin Niemöller über die christliche Kirche und ihren Weg reflektiert“ (40). Dies führt bei Niemöller zu harscher Kritik an den Landeskirchen seiner Zeit, die nur auf die eigene Bestandserhaltung bedacht seien (42f, vgl schon 11 zur ApU). Zum Teil fußt die Kritik allerdings darauf, dass der Gefangene besonders im Verständnis von Amt und Tradition von katholischen Konzeptionen her denkt (47).
Immer wieder macht Niemöller der Landeskirche den Vorwurf, sie sei „ein Stück weltlicher Obrigkeit im geistlichen Gewande“ (Vorwort, 61 u. ö.). Er kritisier die theologische Wissenschaft an den Universitäten: Sie sei keine Hilfe für den, der in seiner Zeit predigen und lehren soll (62f). Die Unterschiede innerhalb der evangelischen Konfessionen seien stärker als zwischen ihnen – und doch profiliere man sich damit, Kirchengemeinschaft mit den anderen abzulehnen (63f). Betrübt stellt Niemöller fest, dass im Volk angekommen ist, was auch an den Universitäten und in den Kirchenleitungen nicht mehr geglaubt wird. Die vertretenen Ansichten haben sich über den Protestantismus hinaus erweitert (64). Schon damals ahnt der prominente Inhaftierte, „dass die Auflösung in vollem Gange ist“ (65). Immerhin sei der biblische Kanon (Einleitung, 66–71) als „Einheitszeichen der ganzen Christenheit geblieben“ (71).
Die beiden Hauptteile des Manuskripts über die Kirche in der Bibel und in den lutherischen Landeskirchen in Niemöllers Zeit sind parallel zueinander aufgebaut. Im ersten Teil vergewissert sich Niemöller des biblischen Zeugnisses über die Kirche, indem er die ekklesiologischen Aussagen des Neuen Testaments und besonders auch deren Zusammenhang mit der Christologie zusammenfasst. Er fragt zuerst nach „Grundlage und Gründung der Kirche“ (72–84), dann nach Auftrag und Wirksamkeit der Kirche (84–112) und schließlich nach Leiblichkeit und Einheit der Kirche (112–144). Der erste Hauptteil ist die Voraussetzung für die im zweiten Hauptteil folgende Kritik an den „traditionellen protestantischen Vorstellungen von der Kirche“ und an den „praktischen Folgerungen, die daraus zumal heute gezogen werden“ (144). Allerdings fällt schon im ersten Teil zur Grundlage der Kirche auf, dass Niemöller die Sonderstellung des Petrus hervorhebt, die seines Erachtens im bisherigen Protestantismus nicht richtig verstanden wird (81–84). Ansonsten werden in diesem Teil die biblischen Aussagen nur selten kritisch mit der vorfindlichen Gestalt von Kirche verglichen. Doch gibt es auch eine vorausweisende Bemerkung wie: „Die Vorstellung von einem ,Christentum ohne Kirche‘ ist ein Erzeugnis modernen individualistischen Denkens und entbehrt jeder biblischen Grundlage“ (134). Erst durch den Dienst der Kirche werden Menschen Christen, entstehen Gemeinden; deshalb ist die Einheit der Kirche ihrer Vielheit vorgeordnet (136).
Im zweiten Hauptteil „Bemerkungen zur lutherischen (und katholischen) Auffassung von der Kirche“ übt Niemöller erfahrungsgesättigte und weitsichtige Kritik an den Grundlagen der Kirche (145–159), an der mangelnden Erfüllung ihres Auftrags und an ihrer fehlenden Wirksamkeit (159–183) sowie am herrschenden Verständnis von Leiblichkeit und Einheit der Kirche (184–209). Die Reformation habe zwar das biblische Zeugnis von der Kirche entdeckt, aber das Apostelamt zu begrenzt verstanden (146). Evangelische Inkonsequenzen sieht er bei der kritisch beurteilten Tradition und andererseits anerkannter Abgrenzung des Kanons durch die Kirche. Besonders im Blick auf das Zustandekommen der Barmer Theologischen Erklärung bedauert Niemöller den Mangel an heute noch lebendiger kirchlicher Tradition und Bekenntnisbildung in der lutherischen Kirche (152). Trotzdem gab es eine Lehrentwicklung in der lutherischen Kirche. Der Wille „zu den Quellen“ war nur bei wenigen vorrangig; „die große Menge der Amtsträger in der lutherischen Kirche ist von jeher mit der Zeit gegangen“, wobei die Bekenntnisgrundlage verlassen bzw. fragwürdig wurde (154f). Niemöller meint, nicht nur das Petrusbekenntnis, sondern auch das Petrusamt und die Petrustradition wie auch die lebendige Tradition hätten Fehlentwicklungen verhindern können (157, 159, vgl. 204f).
Die Wirksamkeit der lutherischen Kirche wird nach Niemöller durch ihr fehlgeleitetes konfessionelles Bewusstsein verhindert, das sich aus der Negation, der „Abwehr gegenüber Rom“ ergibt (160). Fehlendes Verständnis von Universalität und Geschichte der Kirche führten zum Verlust der Zukunft. Schon 1939 sieht der Verfasser Anzeichen für eine „sterbende Kirche“ (163). Ja sogar: „die lutherischen Landeskirchen sind schon lange nicht mehr Kirche!“ (165, Orig. kursiv). Die Landeskirche sei schließlich „die Summe der getauften Kirchensteuerzahler und ihrer nicht steuerpflichtigen Angehörigen“ (166). Positiv würdigt Niemöller den Pietismus, in dessen Kreisen „durch das Wort Gottes gezeugte“ Kinder geboren werden, wodurch es sichtbare, wirkliche Kirche gibt (166–170). Zuweilen sei bei Katholiken mehr theologische Substanz und geistliches Wachstum zu finden als bei Evangelischen (170–175).
In der lutherischen Landeskirche vermisst Niemöller die „Tempelreinigung“, die Verwirklichung des Bildes von Weinstock und Reben (188). Die Kasualpraxis ist höchst fragwürdig (192f). Weil die Kirche „Landeskirche“ ist, meint sie, die „sinnlos gewordenen“ Amtshandlungen für tote Glieder am Leib Christi bereithalten zu müssen (193). – Niemöller zweifelt nicht daran, dass es wahre Christen und Gemeinden auch in der Landeskirche gibt, aber es fehlt das Verständnis für die Einheit der Kirche (205) und die notwendige Arbeit für ihre Vereinigung (208f).
Man spürt es Martin Niemöllers Text ab, dass in seiner Zeit erst die ersten ökumenischen Konferenzen tagten. Im Alltag standen sich die Kirchen so distanziert gegenüber, wie das heute nicht mehr der Fall ist. Andererseits registriert der inhaftierte Bekenner die Probleme, die sich – mit Ausnahme der damaligen völkischen Religiosität (vgl. 157) – im Niedergang der Volkskirchlichkeit heute voll auswirken. Die katholisierenden Bezüge seiner Generalabrechnung mit der Kirche seiner Zeit wird man nach dem Stand der ökumenischen Gespräche heute nicht weiterführen müssen. Das Manuskript ist aber nicht nur für Niemöllers Konversionsabsicht (55), sondern auch für die Geschichte der Bekennenden Kirche und des Landeskirchentums relevant. Auch in der Nachkriegszeit war Niemöller skeptisch gegen die großen Landeskirchen: Er sah in ihnen konfessionelle Enge und bürokratische Erstarrung dominieren (56). Besondere Bedeutung gewinnt die Edition von Niemöllers Manuskript als eindringliche Momentaufnahme der Situation evangelischer Theologie im Kirchenkampf – manch anderer wird im Stillen wie er gedacht haben –, wie durch den Kirchenkampf die trügerischen Fundamente selbstverständlich gewordener landeskirchlicher Strukturen aufgedeckt wurden. Nach 1945 (und nach 1989 in den neuen Bundesländern?) wurden die Probleme offensichtlich wieder tatkräftig zugedeckt und man machte weiter wie vorher, ohne das sich an der Lage etwas geändert, geschweige denn gebessert hatte. Die ekklesiologische Schwäche wird seitdem offenbar, weil es „die“ „Landes-“Kirchen mit fast 100prozentiger Abdeckung der Bevölkerung nicht mehr gibt, dafür aber noch immer genug „Christen“, die keine Ahnung von Glaubensinhalten, kein Interesse am Glauben haben und ohne an den Gottesdiensten teilzunehmen gelegentlich Amtshandlungen abrufen. – Den beiden Herausgebern ist ausdrücklich zu danken, dass sie mit enormem Zeitaufwand diese ausführlich eingeleitete und kommentierte Textedition möglich gemacht haben. Wer die Fragen gegenwärtigen kirchlichen Lebens anpacken will, kann sich auf Martin Niemöller berufen.
Pfarrer Dr. Jochen Eber, Margarethenkirche Steinen-Höllstein