Karl Lehmann / Ralf Rothenbusch (Hg.): Gottes Wort in Menschenwort
Karl Lehmann / Ralf Rothenbusch (Hg.): Gottes Wort in Menschenwort. Die eine Bibel als Fundament der Theologie, Quaestiones disputatae 266, Freiburg: Herder, 2014, kt., 395 S., € 35,–, ISBN 978-3-451-02266-1
Dieser Sammelband umfasst – außer Vorwort und Einführung – 16 Beiträge, größtenteils verfasst von katholischen Theologen (ausgenommen Hanna Liss, jüdisch, und Manfred Oeming, evangelisch). Den Beiträgen liegen die Vorträge einer 2013 in Mainz abgehaltenen Tagung zugrunde, veranlasst durch das 50-Jahr-Jubiläum der – verkürzt so bezeichneten – Offenbarungskonstitution des 2. Vatikanischen Konzils. Diese „dogmatische Konstitution“ wurde – nach jahrelangen Diskussionen über mehrere überarbeitete Entwürfe – im Nov. 1965 mit großer Mehrheit (99,7% Ja-Stimmen) beschlossen (26), kurz vor dem Ende des Konzils. Neben drei anderen „Konstitutionen“ (über Liturgie, Kirche sowie „Kirche in der Welt von heute“) gehört sie zu den „vier Säulen“, welche die anderen Konzilstexte („Dekrete“ und „Erklärungen“) stützen (25); d. h. eine solche Konstitution ist also eine besonders gewichtige Konzilsverlautbarung. Im Zusammenhang mit dem 2. Vatikanum (abgekürzt Vat II) wird oft das italienische Wort „aggiornamento“ (dt. „Verheutigung“) aufgegriffen; dieses Wort wurde vom einberufenden Papst Johannes XXIII. jedoch nicht im Hinblick auf das Konzil gebraucht, sondern im Hinblick auf den vom Konzil her zu erneuernden Kodex des Kanonischen Rechts (abgekürzt CIC, erst 1983 wurde unter Johannes Paul II. der ältere Kodex von 1917 abgelöst; 17).
Beide Herausgeber dieses Sammelbandes gehörten zum Bistum Mainz: Der 2018 verstorbene Kardinal Karl Lehmann war dort Bischof, Ralf Rothenbusch ist stellvertretender Direktor der Akademie Erbacher Hof. Der Sammelband hat leider kein Register, man kann weder nach einem bestimmten der insgesamt 26 Artikel dieser Offenbarungskonstitution noch nach bestimmten Begriffen suchen, um rasch zu finden, was dieser Sammelband dazu bietet. In den Überschriften der Beiträge werden die Artikel 12, 16 und 21 ausdrücklich genannt.
Die Offenbarungskonstitution wird oft nach den Anfangsworten „Dei verbum“ (auf Deutsch: „Gottes Wort“) genannt und daher mit DV abgekürzt. DV sollte sich vor allem mit zwei Fragen befassen: Mit dem Verhältnis von Heiliger Schrift, kirchlicher Überlieferung („Tradition“) und kirchlichem Lehramt, und mit der zwischen Konservativen und Progressiven umstrittenen „historisch-kritischen Methode“ (26f). Neben diesen beiden Fragen befassen sich die Beiträge des Sammelbandes mit der Bedeutung des Alten Testaments sowie mit der Bibel in der Liturgie. Für die Auseinandersetzung mit der historisch-kritischen Theologie sind insbesondere die Beiträge des Teils „Die Auslegung der Heiligen Schrift“ wichtig.
Der Mitherausgeber Lehmann nennt mehrere Publikationen, in denen DV kommentiert wird (32), und er meint, dass DV die historisch-kritische Methode bejahe (31), ohne jedoch anzugeben, wo er in DV eine solche Bejahung findet. Noch weniger genau formuliert Christian Frevel, „die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils gelten gemeinhin als der Durchbruch der historisch-kritischen Methode“ (131). Es wird oft behauptet, dass die historisch-kritische Bibelforschung in der katholischen Kirche durch Vat II ermöglicht wurde, ohne genauer zu belegen, wo sich in den Texten dieses Konzils entsprechende Äußerungen finden.
Konkreter wird Thomas Hieke in seinem Beitrag „Die doppelte Autorschaft der Bibel nach Dei Verbum 12. Gotteswort in Menschenwort“. Er bespricht speziell DV 12 als den für die historisch-kritische Forschung entscheidenden Artikel (205). DV 12 weist den Ausleger der Bibel darauf hin, dass er auf die jeweiligen „literarischen Gattungen“ achten solle, konkret auf die Denk-, Sprach- und Erzählformen zur Zeit des Verfassers. Diese Hinweise in DV 12 bedeuten m. E. jedoch keine grundsätzliche Wende, höchstens ein Betonen der menschlichen Komponente am Bibeltext (neben der göttlichen). Ludger Schwienhorst-Schönberger verweist darauf, dass bereits die Kirchenväter bei den Bibeltexten sorgfältig zwischen Geschichte und Fiktion unterschieden; und sie hinterfragten die Autoren-Angaben der Tradition. Origenes z. B. betrachtete die biblische Schöpfungserzählung nicht als historischen Bericht, und Irenäus von Lyon entwickelte Regeln der Schriftauslegung (188–191). „Es ist also nicht so, dass erst die historisch-kritische Exegese die historische Dimension biblischer Texte entdeckt hat“ (190). Die historisch-kritische Theologie lässt sich m. E. kaum durch bestimmte Texte des Vat II rechtfertigen. Indem aber dieses Konzil insgesamt eine offene Grundhaltung gegenüber der Welt und weltlichen Denkweisen einnahm, konnte in einem solchen Klima auch Toleranz für die historisch-kritische Richtung der Theologie entstehen.
Hier tritt jedoch eine grundsätzliche Unschärfe zutage: Was genau ist gemeint mit „historisch-kritischer Exegese“? (Die – auch in diesem Band – oft verwendete Bezeichnung „historisch-kritische Methode“ ist insofern unzutreffend, als es sich nicht um eine einzelne Methode handelt, sondern eher um eine Mehrzahl von Methoden.) Geht es bloß um mehrere quasi neutrale Methoden, die z. B. Theologen mit konservativen Positionen ebenso praktizieren? Oder geht es darüber hinaus um das Bejahen bestimmter Grundsätze und Tendenzen? Thomas Hieke nennt mehrere „Konsenslinien in der historisch-kritischen Forschung“, z. B. dass die Prophetenbücher einen jahrhundertelangen Entstehungsprozess durchliefen, oder dass die Petrus- und Johannesbriefe sowie ein Teil der Paulusbriefe erst einige Jahrzehnte nach dem Wirken der betreffenden Männer entstanden (206). Wer diese Ansichten ablehnt, verwendet mitunter dieselben Methoden, hat aber andere Einschätzungen. Bezeichnet also „historisch-kritisch“ nicht so sehr bestimmte Methoden, sondern eine Zustimmung zu bestimmten Ansichten?
Schwienhorst-Schönberger rekapituliert die Geschichte der historisch-kritischen Exegese, die sich gemäß Marius Reiser bereits bei den Humanisten des 16. Jahrhunderts finden lässt. Zum Bruch mit der kirchlichen Tradition kam es jedoch erst im 18. Jahrhundert. „Der Bibel wurde ihr übernatürlicher Charakter abgesprochen“ (192f). Bei einem solchen geschichtlichen Aufriss bleibt jedoch unklar, welche Eigenheiten auch in der Gegenwart als maßgeblich für die historisch-kritische Theologie anzusehen sind. Es könnte sich ja teilweise um Extreme handeln, die von gegenwärtigen historisch-kritischen Theologen abgelehnt werden. Ausgehend von den Begriffen „historisch“ und „kritisch“ sowie jenen Tendenzen, die charakteristisch sind für Theologen, die sich selbst als „historisch-kritisch“ bezeichnen, stellte ich insgesamt elf Merkmale heraus (in einem Beitrag im Jahrbuch für Evangelikale Theologie von 2016, S. 196–208), u. a. die Neigungen dazu, biblische Bücher in eine Vielzahl unterschiedlicher Quellen zu zerlegen und hypothetische Bearbeitungsstufen zu behaupten.
An einer Stelle legt sich DV fest und lehnt dabei die Ansichten historisch-kritischer Neutestamentler ab, nämlich in Bezug auf die Historizität der Evangelien. Gemäß DV 19 bejaht die katholische Kirche die Geschichtlichkeit der vier Evangelien ohne Bedenken und hält fest, dass diese Evangelien zuverlässig überliefern, was Jesus wirklich getan und gelehrt hat. Damit wird m. E. eindeutig ein bibeltheologisch konservativer Standpunkt vertreten. (Eine Nebenbemerkung: Anstelle von „DV 19“ sind auch die Abkürzungen „Art. 19“ oder „Nr. 19“ gebräuchlich.) Angelika Strotmann verweist in ihrem Beitrag auf DV 19, erwähnt die darin bejahte Geschichtlichkeit nur knapp und führt dann die anschließenden Hinweise auf redaktionelle Vorgänge bei den Autoren der Evangelien, z. B. dass diese auswählten, breit aus (224). Diese Hinweise auf redaktionelle Vorgänge heben aber m. E. die zuvor betonte Geschichtlichkeit der Evangelien nicht auf.
Mein Fazit: Dieser Sammelband zur Offenbarungskonstitution des 2. Vatikanums befasst sich nur punktuell mit dem konkreten Wortlaut dieser Konstitution. Die Konstitution dient den Beiträgen dieses Sammelbandes eher als Ausgangspunkt für diverse Themen im Umfeld von Bibel und Kirche. Der m. E. wichtige Art 19 zur Geschichtlichkeit der Evangelien wird kaum thematisiert, und seine deutlich von der historisch-kritischen Einschätzung der Evangelien abweichende Aussage wird verdrängt.
Dr. Franz Graf-Stuhlhofer, BSc., Lektor für freikirchliche Theologie an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems