Systematische Theologie

Ziya Meral: How Violence Shapes Religion

Ziya Meral: How Violence Shapes Religion. Belief and Conflict in the Middle East and Africa,Cambridge: Cambridge University Press, 2018, Pb., X+217 S., US $ 21,99, ISBN 978-1-108-45285-4


Ziya Meral stellt mit dem Titel seines Buches „How Violence Shapes Religion“ eine Selbstverständlichkeit unserer Gegenwart auf den Kopf. Die dominierende Erzählung in der Moderne geht davon aus, dass Religionen eine wesentliche Ursache für Krieg und Gewalt sind. Wenn es sich nicht im Allgemeinen so verhält, so zumindest im Besonderen für die monotheistischen Religionen. Sicherlich, so platt vertreten das nur wenige; und nur wenige würden von einer monokausalen Erklärung von Krieg und Gewalt sprechen wollen. Aber ein oft unausgesprochener Konsens sieht in Religion ein großes, wenn nicht das größte Hindernis für ein demokratisches, friedvolles Miteinander von Menschen, Völkern und Nationen. Die Wirkmächtigkeit dieses Konsenses zeigt sich nicht zuletzt darin, dass man die Friedfertigkeit oder Demokratiefähigkeit von Religion(en) unter Beweis stellen oder verteidigen muss. Ziya Meral stellt das Verhältnis von Gewalt und Religion auf den Kopf. Der Titel weckt Neugierde und provoziert vielleicht sogar, es erfordert auf jeden Fall eine aufmerksame Lektüre dieses Buches, das sich durch detaillierte Recherche, differenzierte Darstellungen und Argumentationen sowie durch ausgewogene und angemessene Schlussfolgerungen auszeichnet.

Meral hätte einfach die Haltlosigkeit der gängigen Deutungsmuster und Erzählungen durch solide belegte Gegenbeispiele aufzeigen können. Angesichts der Wirkmächtigkeit der dominierenden Sicht wäre das wohl kaum ausreichend gewesen, um die Ereignisse, die sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten vor unseren Augen abspielen, angemessen zu beschreiben und zu deuten. Deswegen lädt das Buch dazu ein, sich Zeit zu nehmen, und gönnt dem Leser im einleitenden Kapitel (1–26) gewissermaßen einen genaueren Blick auf die dominierende Sicht in ihrer monokausalen Vereinfachung einer komplexen Wirklichkeit (1). Ihre Dominanz kommt nicht von ungefähr. So haben einflussreiche Bücher wie Samuel Huntingtons Clash of Civilizations und die allgegenwärtige Berichterstattung von Terror und Terrorgefahr – und die damit beständig verbundene Frage, was die Akteure dazu und dabei bewegt – allzu schnell in dieses Horn gestoßen. Zweifelsfrei haben Terror und Terrorgefahr in der westlichen Welt zugenommen (ob das global in diesem Maße der Fall ist, wäre noch einmal eine weitere Untersuchung wert) und nährten ein Gefühl der Unsicherheit, nicht zuletzt auch deswegen, weil Terror vielfach mit Religion in Verbindung gebracht wird und Religionen seit einigen Jahrzehnten ein anderer, friedvoller Platz im Privaten zugewiesen war. Unsere mediensaturierte Öffentlichkeit fordert an vielen Stellen einfache Antworten und ist nicht immer bereit, die Komplexität und Unübersichtlichkeit einer Wirklichkeit auszuhalten. Zumindest für den Islam und viele gewaltbereite Muslime muss das festgehalten werden. Schließlich berufen sie sich bei ihren Gräueltaten auf ihren Glauben und die lauten Vertreter eines neuen Atheismus vom Schlage Richard Dawkins bestärken diese Einschätzung (6). Es ist nicht leicht dagegen Stellung zu beziehen. Wenn jemand sich mit einer überzeugenden Argumentation gegen den Mainstream stellt, dann muss man damit rechnen, dass die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt schon für längere Zeit ein persönlicher Begleiter des Gesprächspartners gewesen ist (3).

Meral setzt sich nach der einführenden Darstellung dieser Gemengelage mit den zugrundeliegenden Annahmen auseinander. Er dekonstruiert die vereinfachende „Selbstverständlichkeit“, dass Religion als eine Anomalie der Menschheit gelten kann und auf jeden Fall ein Hindernis darstellt, wenn Gesellschaften liberaler oder rationaler werden oder zivilisatorisch voranschreiten wollen. Die sogenannte Säkularisierungsthese erweist sich hier auch als wirkmächtiger als manchem bewusst ist. Meral kritisiert zweitens die Annahme, dass sich unsere westliche Zivilisation zu einer Höhe emporgeschwungen hat, in der wir Krieg und Gewalt hinter uns gelassen haben. Diese Höhe haben wir nie erreicht; deswegen kann auch nicht wie selbstverständlich von einem Fall durch das Auftreten von Terror gesprochen werden (13). Die Unberechenbarkeit des Auftretens von Gewalt mag neu sein (14), aber vor allem ist die westliche Überraschung nicht zuletzt damit verbunden, dass der Terror die eigene Heimat erreicht hat, die Heimat, die vermeintlich sicher und gewaltfrei war. Die dritte Annahme betrifft die Art und Weise wie Huntington das Wort „Zivilisationen“ gebraucht. Seine sieben oder acht Zivilisationen leiten sich weichenstellend von Religionen her, führen zu einer Vielzahl an Ungereimtheiten und werfen viele Fragen auf (16–19). Es kann keineswegs als gesichert gelten, dass an der Grenze von Zivilisationen die Konflikte zunehmen.

Im Gefolge dieser Auseinandersetzung leugnet Meral nicht einfach die religiöse Komponente von Konflikten, sondern wirft einen genaueren Blick auf das Verhältnis von Gewalt und Religion. Religiöse Überzeugungen, Akteure und Institutionen spielen eine wichtige Rolle (145). Dazu legt er eine ausführliche Beschreibung der Entwicklungen in Nigeria (27–82) und Ägypten (83–132) vor, wie sie sich in den vergangenen Jahrzehnten vollzogen haben. Die Entscheidung für diese beiden Länder als Fallstudien begründet Meral damit, dass sie bei der Frage nach religiöser Gewalt, nicht zuletzt bei Huntington, immer wieder genannt werden. Diese Entwicklungen werden auf die Rolle von Religion hin befragt, miteinander verglichen (133–146) und im Lichte unseres globalen Zeitalters reflektiert (147–176), bevor er einige Schlussfolgerungen aus seinen Untersuchungen zieht (177–182). Die Endnoten (183–187), die Bibliographie (188–209) und ein Register (210–217) beschließen das Buch.

Die Schlussfolgerungen laden zum Nachdenken über eigene Denkvoraussetzungen und über mehr oder minder stark reduzierende Vorprägungen bei dem Thema Gewalt und Religion ein. Vielfach wird eine Kausalkette nur von der Religion her hin zur Gewalt diskutiert. Eine Umkehrung, also der Gedanke, dass Gewalt und Gewaltanwendung Einfluss auf Religion und Religionsausübung nimmt, wird selten bis gar nicht bedacht. Man muss mit diesem Buch festhalten, dass im Fall von Ägypten und Nigeria eine komplexe Verhältnisbestimmung einer Vielzahl an Faktoren zu beobachten ist, u. a. die gesellschaftliche Erfahrung und Dimension seit der Unabhängigkeit oder auch das Misstrauen gegenüber Politikern, Sicherheitskräften und Vertretern gesellschaftlicher und religiöser Gruppen. Letztlich muss man sich wohl der einfachen Realität stellen: Menschen werden immer wieder gewalttätig, auch in unseren Gesellschaften: „It is only the effectiveness of modern policing and the rule of law that hides various levels of violence from the eyesight, whether it be domestic abuse or gang crime, creating the illusion that somehow people of the ‚developed‘ world are less violent that those of the ‚developing‘ world“ (178). Vielleicht ist es an der Zeit, die Fragestellung zu verändern und sich wieder stärker auf den Beitrag von Religion zur Eindämmung von Gewalt und Veränderung des Menschen zu konzentrieren (vgl. 145).


Heiko Wenzel, Ph.D. (Wheaton College), Professor für Altes Testament an der Freien Theologischen Hochschule Gießen