Altes Testament

Leonie Ratschow: Eine törichte Frau und drei schöne Töchter

Leonie Ratschow: Eine törichte Frau und drei schöne Töchter. Eine wirkungskritische Studie zu den Frauenfiguren im Hiobbuch im frühen Judentum,Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 61, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2019, geb., 357 S., € 98,–, ISBN 978-3-374-05452-7


Ratschow beschäftigt sich intensiv und kenntnisreich mit der frühjüdischen-hellenistischen Wirkungsgeschichte der Frauenfiguren des biblischen Hiobbuches (14), bei der das Testament Hiobs viel Raum erhält und auch die Septuaginta-Tradition des Hiobbuches behandelt wird. Der erste Teil der Arbeit reflektiert unter der Überschrift „Theoretischen Grundlagen und methodisches Vorgehen“ (19–85) zunächst „Theoretische Grundlagen zur hermeneutischen Relevanz von Wirkung“ (19–40). Dieser Teil nimmt seinen Ausgangspunkt bei Überlegungen von Gadamer und konzentriert sich dann auf das Verhältnis von Affekt und Vernunft, bei dem der Tugendbegriff von Aristoteles und sein Tragödienkonzept eine wichtige Rolle spielen. Auf diese Weise wird eine weichenstellende Überzeugung erläutert und von verschiedenen Perspektiven her nachvollziehbar beschrieben: „Verstehen ist ein sowohl rationaler als auch emotionaler Prozess, der bei der Lektüre eines Textes zwischen der Rezeption und der Wirkung zu verorten ist“ (20). Die Ausführungen sind wertvoll und an vielen Stellen regen sie zu weiterem Nachdenken an, da es grundsätzlich nicht nur angemessen ist, über Emotionen und ihre Bedeutung für Prozesse des Verstehens zu reflektieren. Es ist bedauerlich bis fatal, dass dies lange in der Forschung verdrängt oder verworfen wurde. Für manche sind Emotionen und Verstehen im Kontext von Forschung immer noch unvereinbar. Ratschows Ausführungen stellen einen wohltuenden Gegenpol dar.

Die Verfasserin leistet mit ihren Reflexionen einen wichtigen Beitrag zur Beschreibung von Rezeption und Wirkung sowie der Unterscheidung (56–74) dieser beiden: „Die Rezeption ist der ‚Prozess des Lesens‘, während die Wirkung ‚das Ergebnis dieser Rezeption‘ darstellt“ (67). Diese Unterscheidung erläutert sie auf dem Hintergrund einer begrifflichen und phänomenologischen Beschreibung von Emotionen (41–52) und anhand von Martin Heideggers Furchtanalyse als Beispiel (53–56). „Während die Rezeption eines Textes als der Ort des Freisetzens von Auslösereizen bestimmter Emotionen verstanden wird, besteht die Wirkung in der überdauernden Manifestation der im Rezeptionsakt ausgelösten Emotionen“ (74). Daran schließen sich die Darlegung der Methodik einer Wirkungskritik (75–78) und einem damit einhergehenden Analyseraster an (79–85). Sie definiert Wirkungskritik dabei als „den methodisch kontrollierten Umgang mit Texten, die im Rahmen eines Ausschnitts aus ihrer eigenen Wirkungsgeschichte betrachtet und analysiert werden“ (15). Insbesondere sollten auf diese Weise „emotionale Textwirkungen“ beschreibbar werden (75). Der Fokus bleibt auf den Texten und bringt anhand von Textmodifikationen einzelne Aspekte zur Darstellung. Hier scheint ein bemerkenswerter Methodenoptimismus in der Luft zu liegen, der angesichts der differenzierten Beschreibungen und guten Reflexionen im ersten Teil des Buches überrascht – und vielleicht von der Verfasserin selbst nicht geteilt wird. Ihre Ausführungen legen das aber bisweilen nahe. Der Textfokus ist mehr als berechtigt und ich schätze auch die Zurückhaltung bei der Rekonstruktion von (potenziellen) Rezipienten (vgl. 75). Das Ausblenden von Rezipienten lässt aber ein Bild entstehen, als ob durch den Textfokus Spekulationen scheinbar keine Rolle spielen, was sich bei der Anwendung der Methode im zweiten Teil des Buches als Trugschluss erweist. Das sollte nicht überraschen, denn die Rezeption ist m. E. ein komplexes Zusammenspiel von Rezeption und Wirkung sowie dem Erfahrungs- und Erwartungshorizont potenzieller und tatsächlicher Leserinnen und Leser.

Eindrücklich sind die Darstellung der Frauenfiguren im Testament Hiobs und in der Septuaginta-Tradition des Hiobbuches (87–223) sowie deren wirkungskritische Analyse (225–315) und Interpretation (317–342). Man kann vieles auf der inhaltlichen und auf der methodischen Ebene von diesen Ausführungen lernen, auch wenn manche (Detail-) Fragen offenbleiben. So scheint mir die (exegetische und theologische) Bedeutung der Vergleichspartikel כְּ bei der Interpretation von Hiob 2,10 nicht ausreichend berücksichtigt (116), wie hier m. E. eine Charakterisierung von Personen per se nicht zentral (wenn überhaupt vorhanden) ist, sondern die Rede der Frau zur Diskussion steht. An dieser und an anderen Stellen werden Alternativen in der Deutung nicht immer ausreichend dargestellt und diskutiert. Das gilt auch für manche Vorschläge, wie sich Unterschiede zwischen dem Testament Hiobs und dem biblischen Hiobbuch miteinander ins Gespräch lassen bzw. diese erklären können. Das ändert aber nichts daran, dass sich in diesem Teil der Arbeit recht schnell die weitreichende hermeneutische Bedeutung von „Leerstellen“ für literarische Werken sowie für ihre Rezeption und Wirkung manifestiert. Diese Ausführungen lesen sich wie eine Erläuterung oder Veranschaulichung einer fundamentalen Erkenntnis von Zeigarnik, dass es nämlich „ein menschliches Grundbedürfnis“ ist, „Unvollständiges und Falsches, je nach den individuellen und soziokulturellen Bewertungsmaßstäben, in Vollständigkeiten, Richtiges und insoweit Gutes zu überführen“ (85). Das ist gut und wertvoll. Es ist bedauerlich, dass eine inhaltliche, methodische und hermeneutische Rückkoppelung nur angedeutet wird. Sicherlich würde das den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen und ein Dissertationsprojekt muss irgendwann zum Abschluss kommen. Dennoch hätten weitere Fußnoten oder ein Exkurs – was angesichts der Kenntnisse und der Kompetenz der Verfasserin wohl wenig Mühe bereitet hätte – noch einmal andeuten können, was dies auch für die Lektüre des biblischen Hiobbuches bedeuten mag. Diese Frage hängt m. E. bereits mit den methodischen Ausführungen zu Beginn der Arbeit „in der Luft“, nicht zuletzt, weil die Verfasserin selbst zurecht betont, dass „eine wirkungsgeschichtliche Untersuchung die Eigenart mit sich [bringt], nicht außerhalb des eigenen Untersuchungsgegenstandes der Wirkungsgeschichte zu stehen, sondern gerade in diesen einzurücken“ (14). Auf jeden Fall hätte man über die Bedeutung von Buchanfängen anhand der markanten Unterschiede im biblischen Hiobbuch und im Testament Hiobs weiterführend nachdenken können.

Wer sich für Fragen der Rezeption und der Wirkung von literarischen Werken interessiert, der findet mit dieser Arbeit in Ratschow eine sehr gute Gesprächspartnerin, die beständig zu eigenem Nachdenken und differenzierten Überlegungen einlädt und herausfordert. Wer sich außerdem noch mit dem biblischen Hiobbuch und seiner Nachgeschichte beschäftigt, sollte diese Arbeit in die Hand nehmen. Auch wenn manche Fragen offenbleiben, so leisten die methodischen Reflexionen, die vielfältigen Informationen und die anregenden Interpretationen neben diesen Leerstellen einen wertvollen Beitrag auf methodischer und inhaltlicher Ebene. Zurecht sagt die Verfasserin selbst, dass gerade auch Leerstellen in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen sind. „Leerstellen wirken wie unerledigte Aufgaben auf den Rezipienten“ (85). Dies fördert außerdem eine besondere Leistung des biblischen Hiobbuches eindrücklich zutage: „das Hiobbuch [mutet] in einer leisen, aber prägnanten Weise seinem Leser zu, immer etwas mehr zu sehen als tatsächlich sichtbar ist“ (342).


Heiko Wenzel, Ph. D. (Wheaton College), Professor für Altes Testament an der Freien Theologischen Hochschule Gießen