Historische Theologie

Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Materialien und Dokumente

Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Materialien und Dokumente, Reihe 2, Bd. 36.1: Die täglichen Losungen und Lehrtexte der Brüdergemeine 1761–1800 (Barby 1760–1764), Erster Band: 1761–1765, hg. von Peter Zimmerling, Reprint: Hildesheim: Olms, 2019. Mit e. Einf. v. Hg. P. Z., LXII+ 476 S., Ln., € 118,–, ISBN 978-3-487-15786-3


Wer kennt sie nicht, die Losungen, herausgegeben von der Brüdergemeine, das zeitlich und geographisch wohl am weitesten verbreitete Andachtsbuch mit Bibelversen zur täglichen Erbauung? Seit fast 300 Jahren gibt es nun die Losungen, in Millionen von Exemplaren und in fast sechzig Sprachen sind sie über die ganze Welt verbreitet und werden täglich gelesen. Dieser Superlativ frommer evangelischer Andachtsliteratur wirkt auch über Konfessionsgrenzen hinaus. So hat der Verfasser dieses Beitrags einen katholischen Geistlichen kennen gelernt, der als Schüler von der Losungslektüre geistlich erweckt und für den vollzeitlichen Dienst gewonnen wurde.

Im Gegensatz zur weiten Verbreitung der aktuellen Losungsbücher sind Geschichte und Reprints aus der Frühzeit nur wenig bekannt und werden fast ausschließlich von Spezialisten gelesen und erforscht. Eine Ausnahme bildet das erste gedruckte Losungsbuch „Ein guter Mut“ von 1731, das in mehreren Neuauflagen nachgedruckt wurde (zum Beispiel Stuttgart: Quell, 1979). Die ersten dreißig Jahrgänge bis zu den Losungstexten für 1761 hat Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf selbst ausgewählt. Ein Nachdruck dieser 1762 als Gesamtausgabe erschienenen Texte im Hildesheimer Wissenschaftsverlag Olms hat Erich Beyreuther veranlasst (N. L. v. Zinzendorf, Materialien und Dokumente, hg. v. E. Beyreuther u. Gerhard Meyer, Reihe 2: N. L. Graf von Zinzendorf. Leben und Werk in Quellen und Darstellungen, Bd. XXV: Sammlung der Losungs- und Textbüchlein der Brüder-Gemeine von 1731 bis 1761, Barby, 1762, Repr.: Hildesheim, Olms 1987, € 318,–). Diese drei Bände sind im geisteswissenschaftlichen Antiquariat Skulima unter dem Originaltitel „Samlung der Loosungs- und Text-Büchlein der Brüder-Gemeine …“ zu einem reduzierten Preis noch lieferbar.

Der Leipziger Professor für Praktische Theologie Peter Zimmerling ist nun bei der Herausgabe der vierzig Jahrgänge von 1761 bis 1800 in acht Bänden federführend. Vier Bände bis zum Jahrgang 1780 sind schon erschienen; weitere vier sollen in den kommenden Jahren nachgedruckt werden. In seiner Einführung zu den vierzig Jahrgängen schreibt der Herausgeber, dass die dynamische Entwicklung der Losungen nach Zinzendorfs Tod ein Grund für den Nachdruck der Erbauungsbücher war (6*). Auswahl und Vorworte der Jahrgänge zeigen auf, wie sich die Brüdergemeine gegen den Rationalismus ihrer Zeit theologisch positioniert. Es wird deutlich, in welcher Absicht die Brüdergemeine die weiteren Jahrgänge herausgab und welche Funktion sie in der weltweiten Brüder-Unität besaßen (ebd.).

Zimmerlings Einführung (5*–62*) ist in drei Abschnitte gegliedert. Im ersten Kapitel gibt er einen Überblick über Geschichte, Theologie und Spiritualität der Losungen (7*–30*), „des Grafen liebstes Kind“ (7*). Vom 3. Mai 1728 an gab es mündlich weiterverbreitete Losungen; von 1731 stammt das erste gedruckte Losungsbuch, das ab 1737 die Missionare und Diasporaarbeiter der Brüdergemeine in alle Welt begleitete (7*f). Ab 1741 an gibt es Übersetzungen, die – allerdings erst nach dem 2. Weltkrieg – dem Losungsbuch den Weg in alle Welt vorbereiten (9*). Im Unterschied zu heute wurden die Jahrgänge nicht immer ausgelost, manchmal auch wiederholt und zu einzelnen Themen bzw. nur aus einem biblischen Buch genommen (10*, zum Beispiel die Psalmen 1734). Bis 1779 gab es auch Kinderlosungen bzw. -lehrtexte (vgl. 33*f), ja sogar einen besonderen Jg. für „Knaben“ (1757, in: Materialien und Dokumente, Reihe 2, XXV.4, 375–400) Zu den Losungen kamen ab 1741 Text- und Lektionsbüchlein (ebd.).

Die Lospraxis der Brüdergemeine ist nicht von dem Wissen um die Gemeinschaft der Gläubigen mit Jesus zu trennen. „Vom Los erwartete man, dass Gott der Gemeine unmittelbar seinen Willen kundtat“ (12*) Die aus Gottes Wort entnommenen Losungen sind „extrahierte Bibel“ (16*), sie sind Parolen im geistlichen Kampf der Nachfolger Christi (19*). Die Losungen festigen den täglichen Umgang mit der Bibel und ermöglichen Erfahrungen mit ihr. Sie verbinden die Brüdergemeine, die weit über die damaligen Grenzen deutscher evangelischer Kirchtümer hinausgeht, an allen Orten auf den Kontinenten (21–25*, Orte: 22*, vgl. 1739, in: Materialien und Dokumente, Reihe 2, XXV.1, 417). Zimmerling ist überzeugt, dass die Losungen auch Zukunft haben; hierzu nennt er besonders die Bereiche Kirchenleitung, Losungsbuch als tägliches Brevier und als missionarisch eingesetzte Schrift (26*–30*).

Das 2. Kapitel der Einführung nimmt spezieller Gestalt und Inhalt sowie theologische und spirituelle Grundentscheidungen der Jahrgänge 1761 bis 1800 in den Blick (30*–40*). Im Jahrgang 1779 sind erstmals Losungen und Lehrtexte in einem Taschenbuch zusammen abgedruckt. Oft werden – wie schon zu Zinzendorfs Zeiten – Losungen aus den Vorjahren wieder nachgedruckt, um den Reichtum der Bibelstellen auszuschöpfen (31*–32*). Primäre Adressaten der Losungen sind die Mitglieder der Brüdergemeine, in besonderen Texten auch die Kinder, und darüber hinaus ein weiterer Kreis von Geistesverwandten der Herrnhuter Frömmigkeit (33*f). Es kann nur vermutet werden, wer die Redaktion der Losungsbücher übernahm (34*f). Zimmerling ist der Überzeugung, dass die Losungen die altkirchliche Christologie und Soteriologie gegen rationalistische Zeitströmungen verteidigen sollten: Im Festhalten am alten Glauben werden Erfahrungen mit dem hoch geschätzten lebendigen Wort Gottes gemacht (36*–38*). Eine Bibliografie der Titel mit Gründen der Textauswahl sowie Zusammenfassungen der Vorworte der vierzig Jahrgänge beschließt als dritter Teil die Einführung (40*–62*).

Wer den Nachdruck des ersten gedruckten Losungsbüchleins von 1731 besitzt und sich in die Sprache eingelesen hat, bemerkt bald, wie die intensive bibelgesättigte Frömmigkeit des Grafen in seinen Liederversen und Kurzgedichten auch heute noch den eigenen Glauben fördern kann. Acht- bis neunmal (!) hat Zinzendorf die Bibel allein von 1731 bis 1748 durchgelesen, um daraus etwa 15.000 Bibelworte zu entnehmen. So habe er auch „ihre Göttlichkeit immer mehr eingesehen und erfahren“; die Losungen sind „eine extrahirte Bibel“ (a. a. O., Bd. XXV.1, nach §5). „Wer die Büchlein alle hat, der hat die ganze Bibel, und findet alles das, was ihn beugen, demüthigen, zum Sünder machen, erquikken, erfreuen und belehren kan.“ (Zi. am 2.1.1759, Vorrede Beyreuther, a. a. O., Bd. XXV.1, 7*, unpag.)

In den folgenden Jahren hat sich die Innigkeit von Zinzendorfs Frömmigkeitssprache bei manchen seiner Dichtungen so gesteigert, dass man heute eher befremdet erst einmal über die Deutung der Worte nachdenken muss, wenn man beispielsweise liest: „Das Creutz-Luft-Täubelein, kränkelnd vor Liebes-Pein nach seinem Jesulein“ (zu Lk 1,41 am 24.12.1749, a. a. O., Bd. XXV.1, 586). Nach dem Tod des Grafen am 9. Mai 1760 erschienen die von ihm schon zusammengestellten Losungen noch bis einschließlich 1761. Die Texte der folgenden Jahre wirken sprachlich nüchterner, wenn auch noch immer in Zinzendorfs Nachfolge ganz christuszentriert.

Wer sich mit der Frömmigkeit der Herrnhuter Brüdergemeine und ihres Gründers in den Nachdrucken der alten Losungsbüchlein beschäftigt, wird sicher nicht Sprache und Spiritualität alter Zeiten nachahmen wollen. Aber der Leser kann sich von der Haltung damaliger Christen anregen und fördern lassen: Täglich das Bibelwort lesen, es betrachten und für den Tag, für sich selbst und in der Gemeinschaft der Gemeinde persönlich als Gottes Wort ergreifen. Dann kann auch heute geschehen, was Beyreuther für Zinzendorfs Zeit bezeugt: „Nicht müde wird Zinzendorf zu bekennen, dass ,mirabiliter, eine göttliche Ökonomie über unseren Losungen waltete‘. ,Oft waren die Losungen unmittelbares Gespräch des Heilandes mit der Gemeine auf Tage und Stunden, wo sie hingehören.‘ Es gab Tageslosungen, die haarscharf die Situation des Tages trafen“ (a. a. O., Bd. XXV.1, 40*).


Pfarrer Dr. Jochen Eber, Margarethenkirche Steinen-Höllstein