Jan van de Kamp: Übersetzungen von Erbauungsliteratur und die Rolle von Netzwerken am Ende des 17. Jahrhunderts
Jan van de Kamp: Übersetzungen von Erbauungsliteratur und die Rolle von Netzwerken am Ende des 17. Jahrhunderts, Beiträge zur historischen Theologie 195, Tübingen: Mohr Siebeck, 2020, Ln., XVIII+534 S., € 129,–, ISBN 978-3-16-156779-7
Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die für den Druck überarbeitete kirchenhistorische Dissertationsschrift, mit der Jan van de Kamp 2011 an der Freien Universität Amsterdam promoviert wurde, die aber leider erst 2020 im Druck erschien. Der Autor, inzwischen Professor für Kirchengeschichte in Amsterdam und Autor weiterer einschlägiger Studien zu Themen des Pietismus, legt hier eine umfangreiche und verdienstvolle Untersuchung der Übersetzungsliteratur aus dem Englischen und dem Niederländischen ins Deutsche in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vor und ergänzt damit die Erforschung von Netzwerken im frühen (reformierten) Pietismus. In seiner Fallstudie konzentriert Kamp sich auf fünf Autoren, die alle aus Bremen stammten bzw. dort wirkten, fast alle der evangelisch-reformierten Konfession zugehörig waren und die als Theologen oder theologisch interessierte Juristen und Beamte zeitgenössische englische und niederländisch-reformierte Erbauungsliteratur ins Deutsche übersetzten. Die Stadt Bremen ist damit der Ausgangspunkt, von dem der Autor ein frühes pietistisches, die reformierte Konfession überschreitendes Netzwerk erschließt.
In der Einleitung (Kap. 1; 1–26) setzt sich Kamp zunächst gründlich mit dem in der Forschung verwendeten Pietismus-Begriff sowie den historischen Bewegungen des englischen Puritanismus und der niederländischen Nadere Reformatie-Bewegung auseinander, um vor diesem Hintergrund seine eigene Fragestellung, Methodik und das Ziel zu erläutern, nämlich „die Produktion, Distribution und Rezeption von deutschen Übersetzungen englischer und niederländischer Erbauungsliteratur von 1660 bis 1700 zusammenhängend darzustellen“ (18) und damit einen ergänzenden Beitrag zur Erforschung des Einflusses von übersetzter Erbauungsliteratur auf den deutschen Pietismus zu leisten. Dazu wählt Kamp einen interdisziplinären Zugang, der u. a. Aspekte der Biografie-, Übersetzungs- und Netzwerkforschung sowie der Buch- und Frömmigkeitsgeschichte zusammenführt.
Auf die grundlegende Einführung in Quantität, Verbreitung und Einfluss von Übersetzungen englischer und niederländischer Erbauungsliteratur im 17. und frühen 18. Jahrhundert in Deutschland (Kap. 2; 27–49) folgen fünf Kapitel zu den Übersetzern und ihren Texten. Dabei führt Kamp stets in die Biografie der Übersetzer in ihrem zeitgenössischen historischen wie theologischen Kontext ein, stellt dann die übersetzten Werke inhaltlich vor und beurteilt im exemplarischen Textvergleich knapp Stil und Qualität der deutschen Übersetzung. So verdeutschte der Bremer Prediger Johannes Duysing (1644–1673) im Jahr 1673 eine erbauliche Schrift des niederländischen Pfarrers Dionysius Spranckhuysen und versah sie mit einer ausführlichen Vorrede, die „klar reformiert-pietistische Ansichten“ (108) zeigt (Kap. 3; 50–108). Sein Beinahe-Namensvetter Johann Deusing (1639–ca. 1697) (Kamp vertritt in Auseinandersetzung mit Johannes Wallmann, dass es zwei voneinander zu unterscheidende Übersetzer Johann(es) Duysing und Deusing gab) übersetzte ab 1671 insgesamt 19 erbauliche Titel aus dem Niederländischen und Englischen, mehrheitlich von Richard Baxter, aber auch von Willem Teellinck, William Guthrie, Richard Sibbes sowie Robert Bolton (Kap. 4; 109–252). Angeregt wurde Deusings Übersetzungstätigkeit wohl von Theodor von Undereyck und seine Übersetzungen sind möglicherweise Teil eines kurpfälzischen Netzwerkes, das englische Erbauungsliteratur zu erschließen suchte (239). Dementsprechend konzentrierten sich Deusings Übersetzungen auf Schriften, die vor allem das innerliche geistliche Leben des Christen thematisieren.
Dieses Interesse am innerlichen geistlichen Leben oder an der, wohl über den Puritanismus vermittelten, äußerlich sichtbaren Frömmigkeitspraxis zeigen auch die Schriften, die die weiteren untersuchten Autoren zur Übersetzung ins Deutsche auswählten. So übertrug der in Bremen aufgewachsene Jurist Philipp Erberfeld (1639–1709) mehrere Schriften des reformierten Theologen Guiljelmus Saldenus ins Deutsche (Kap. 5; 253–345). Der reformierte Pastor Johann Christoph Noltenius (1644–1719) übersetzte 1672 eine weitere Schrift von Saldenus (Kap. 6; 346–363), während Henning Koch (1633–1691), Konrektor und Diakon in Helmstedt, zwischen 1674 und 1685 acht Schriften des anglikanischen Theologen Joseph Hall verdeutschte (Kap. 7; 364–411).
Jan van de Kamp bleibt nicht bei der akribischen Darstellung von Person und Übersetzungswerk stehen, bei der viele Aspekte neu sind und sich, wie der Anmerkungsapparat zeigt, intensiver Archivrecherche verdanken, sondern er führt die Einzelstudien in zwei abschließenden Teilen zusammen, wobei er zuerst die Rezeption der einzelnen Übersetzungen anhand von nachweisbaren Privatbesitzern und ausgewählten zeitgenössischen Besprechungen untersucht (Kap. 8; 412–432). Im letzten Kapitel (Kap. 9; 433–468) vergleicht der Autor die sozialen, theologischen und religiösen Hintergründe der Übersetzer, ihre Übersetzungen (Methode, Bearbeitungsgrad) und deren Bedeutung für den deutschen Pietismus. Er erschließt aus den Beziehungen der Akteure ein „multiplexes Netzwerk“ (445), aus dem an dieser Stelle nur zwei, in der Pietismus-Forschung gut bekannte, Akteure genannt werden: Theodor Undereyck regte zahlreiche der hier vorgestellten Übersetzungen von Erbauungsliteratur an und der Frankfurter Pietist Johann Jakob Schütz trat als Vermittler zwischen verschiedenen Netzwerken auf und trug in dieser Rolle auch zur Verbreitung der übersetzten Erbauungsschriften bei. Damit bestätigt die Untersuchung eine enge Verbindung von reformiertem und lutherischem Pietismus: „Die thematischen Übereinstimmungen und die persönlichen Verbindungen der Übersetzer veranlassen dazu, den deutschen reformierten und lutherischen Pietismus als Teile einer zusammenhängenden Frömmigkeitsrichtung zu betrachten. Inhaltliche Beeinflussung und persönliche Verbindungen implizieren jedoch nicht, dass der Puritanismus, die niederländische reformierte Frömmigkeitsrichtung und der deutsche reformierte Pietismus einen konstitutiven Einfluss auf die Entstehung des lutherischen Pietismus ausgeübt haben“ (460). Von diesem Zusammenhang ausgehend, plädiert Kamp dafür, in der Definition von Pietismus eine Mikroebene, z. B. des deutschen reformierten Pietismus, von einer Makroebene (Pietismus als typologischer Oberbegriff) zu unterscheiden.
Die Studie ist insgesamt klar strukturiert und gut zu lesen; sie geht gerade bei der erstmaligen biographischen und genealogischen Erschließung der Übersetzer sowie in der Auseinandersetzung mit Forschungspositionen detailliert und akribisch vor – eine wissenschaftliche Stärke, die vom Leser aber gelegentlich eine gewisse Ausdauer erfordert und natürlich ein Interesse an den Anfängen des reformierten Pietismus in Nordwestdeutschland, an der Netzwerkforschung und der europäischen Frömmigkeitsliteratur voraussetzt. Mit Hilfe der Register (Bibelstellen, Personen, Sachen; 513–534) lassen sich auch gezielt Personen und Themen nachschlagen, und das Literaturverzeichnis (477–511 mit Titeln der Forschungsliteratur bis 2014) ist einschlägig und umfassend. So ist es schade, dass die Arbeit erst mit einigen Jahren Verspätung im Druck erschienen ist, und zugleich erfreulich, dass sie doch noch veröffentlicht wurde!
Dr. Ulrike Treusch, Professorin für Historische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule Gießen