Frank Lüdke / Norbert Schmidt (Hg.): Alter Wein in neuen Schläuchen?
Frank Lüdke / Norbert Schmidt (Hg.): Alter Wein in neuen Schläuchen? Gemeinschaftsbewegung und Gemeindeaufbau seit den 1970er Jahren, Schriften der Evangelischen Hochschule TABOR (SEHT) 10, Berlin: Lit-Verlag Dr. W. Hopf, 2020, Pb., VI+203 S., € 24,43, E-Book € 19,53, ISBN 978-3-643-14579-6
Die Forschungsstelle Neupietismus an der Evangelischen Hochschule Tabor unter Leitung von Frank Lüdke erforscht Geschichte und Gegenwart des Neupietismus. Auf fünf Theologischen Symposien wurden bisher schon wichtige Themen des Neupietismus behandelt, so zum Beispiel die Praxis der Evangelisation, angloamerikanischen Einflüsse auf den Neupietismus, Diakonie, Formen der Glaubenserfahrung sowie die begriffliche und zeitliche Abgrenzung des Arbeitsfeldes.
Die vorliegende Aufsatzsammlung präsentiert die Referate, die im Januar 2019 auf dem 6. Theologischen Symposium in Marburg gehalten wurden. Die Entwicklung von Gemeinschaftsstunden zu Gemeinschaftsgemeinden deutet der Herausgeber Lüdke als „Immense Umbrüche“, da man sich bis in die 1960er Jahre fast ausschließlich als Ergänzungsangebot zu einer Kirchengemeinde verstanden habe. Seit den 1970er Jahren gab es an vielen Orten durch die Rezeption der amerikanischen Gemeindewachstumsbewegung einen Paradigmenwechsel. Die Gemeinschaftsstunde wird sonntags vormittags als Gottesdienst gefeiert, und Amtshandlungen der Gemeinschaftsgemeinden werden von den Landeskirchen anerkannt bzw. in den entsprechenden örtlichen Kirchenbüchern aufgeführt (vgl. 4).
Auf die Einleitung des Herausgeber Frank Lüdke (1–5) folgen die Beiträge der Autoren:
An erster Stelle steht prominent Gisa Bauer „Der Gnadauer Gemeinschaftsverband im Spannungsfeld zwischen evangelischen Landeskirchen und evangelikaler Bewegung in den 1970er und 1980er Jahren“ (7–20). Die Verfasserin stellt die Zusammenarbeit der Gnadauer mit der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ unter Präses Hermann Haarbeck ab 1967 heraus. Deshalb sei Gnadau in den 1970er Jahren die größte Trägergruppe der evangelikalen Bewegung gewesen. Unter Kurt Heimbucher sei es dann Anfang der 1980er Jahre zu einer Hinwendung zum pietistischen Erbe und zu Fragen der Weltverantwortung gekommen, Gnadau habe sich der Landeskirche angenähert und sei aus der Konferenz Bekennender Gemeinschaften ausgetreten. – Ob sich Gnadau in den 1990er Jahren vom freikirchlichen „Modell 4“ verabschiedet hat, ist nach Meinung des Rezensenten fraglich. Heute kann man an vielen Orten genau diese Form der Arbeit beobachten, ohne dass sich die Gemeinschaftsgemeinden auch „Freikirchen“ oder „freie Gemeinden“ nennen würden.
Eduard Ferderer referiert im zweiten Beitrag der Sammlung über den „Einfluss der Pfarrer-Gebetsbruderschaft auf das Verhältnis der Gnadauer Gemeinschaftsbewegung zur Evangelischen Kirche“ (21–31). Die PGB nimmt für Ferderer in der Geschichte des Verständnisses von Gnadaus Haltung zu den Kirchen eine Schlüsselrolle ein.
Danach behandelt Frank Hinkelmann „Die ekklesiologischen Entwicklungen der österreichischen Gemeinschaftskreise zwischen 1975 und 2000“ (33–54); Norbert Schmidt schreibt über die „Pragmatische Ekklesiologie: Eine Spurensuche in der Geschichte des Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverbandes“ (55–64). Oft hatte im DGD die Praxis den Vorrang (etwa in der Frage der Predigt von Diakonissen, also Frauen, vor Frauen und Männern), und später wurde versucht, die Praxis biblisch-theologisch zu legitimieren.
Kathinka Hertlein untersucht in ihrem Beitrag „Prediger oder Pastor? Das sich verändernde Rollenverständnis der Hauptamtlichen in der Gemeinschaftsbewegung seit den 1970er Jahren“ am Beispiel der Studien- und Lebensgemeinschaft Tabor (65–75). Der Wechsel im Berufsbild des Gemeinschaftspredigers vom Evangelisten und Bezirksprediger hin zum Gemeinschaftspastor stellt nicht mehr den ergänzenden evangelistischen Dienst, sondern die pastorale Aufgabe und die geistliche Leitung der Gemeinde in den Mittelpunkt.
Johannes Zimmermann nimmt in seinem Aufsatz „Von der Gemeinschaft zur (Gemeinschafts-)Gemeinde – Ekklesiologische Entwicklungen seit den 1970er Jahren in praktisch-theologischer Perspektive“ besonders den Einfluss „missionarischer“ und „biblischer“ Gemeindegründungskonzepte in den Blick (77–92). Leider dominiert in der Gnadauer Ekklesiologie das Thema Ortsgemeinde. Die eine Kirche Christi kommt dagegen zu kurz (86). Eine Hilfe bietet das Modell, das der Deutsche Jugendverband EC als „Beziehungskompass“ entwickelt hat (87–90).
Den Prozess vom Desinteresse an ekklesiologischen Fragen in Theodor Haarbecks „Biblischer Glaubenslehre“ (1. Aufl. 1902, 15. Aufl. 1991) zum zentralen Thema der Gnadauer Neuorientierung schildert Thorsten Dietz kritisch-reflektiert in „Gemeinschaftsbewegung und Kirchenverständnis – Entwicklungen der Ekklesiologie im Gnadauer Raum in den 1970er-1990er Jahren“ (93–105).
Reflektierte Zusammenarbeit in bewusst ausgearbeiteten Formen des Miteinanders wünscht sich Johannes Zimmermann in seinem zweiten Beitrag zum Sammelband unter dem Titel „Gemeindegründungen und Gemeinschaftsgemeinden – Beobachtungen und Anmerkungen zu Entwicklungen im Gnadauer Verband“ (107–121). Dabei dürfen bei der Betrachtung von Trennung und Zusammenarbeit von Gemeinschaft und landeskirchlicher Ortsgemeinde die „weichen“ Faktoren nicht vergessen werden (111f).
Drei weitere Aufsätze über volkskirchliche Gemeindeaufbaubestrebungen bilden das letzte Drittel des Bandes.
Von Klaus Teschner wurde ein Essay über „Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche am Ende des 20. Jahrhunderts“ (123–135) abgedruckt. Er fasst die neueren demographischen Entwicklungen und missionarischen Konzepte in der Landeskirche zusammen. Auch wenn die Kirche um ein Drittel schrumpfen sollte, ist ihre Reichweite und die Bedeutung missionarischer Diakonie im 21. Jahrhundert nicht zu verachten (132).
Wolfgang Reinhardt referiert über „Fritz Schwarz’ Theologie des missionarischen Gemeindeaufbaus, die Praxis von ,Überschaubare Gemeinde‘ im Kirchenkreis Herne und ihre Rezeption in Kirche und Theologie (137–164). Ihm schließt sich der Herausgeber Frank Lüdke an: „Emil Brunners Kirchenverständnis in seiner Bedeutung für die Konzeption des Gemeindeaufbaus bei Fritz und Christian A. Schwarz“ (165–202).
Der Rezensent hat in dem Sammelband die Rückwirkung der Mission auf die Gemeinschaftsverbände vermisst: Die meisten Missionare bleiben nicht mehr wie im 18. und 19. Jahrhundert bis an ihr Lebensende im Missionsland. Sie kommen oft schon vor ihrer Pensionierung in die Heimat zurück und versehen Dienste in der Gemeinschaftsbewegung. Da es die Konstellation „Landeskirche und innerkirchliche Gemeinschaft“ nur in europäischen evangelischen Ländern deutscher Sprache gibt, ist für Missionare aufgrund ihrer Auslandserfahrungen „Gemeinde“-Arbeit die Regel und ergänzende Gemeinschaftsarbeit im herkömmlichen Sinn die Ausnahme. Dieser Faktor hat zur Veränderung der Arbeitsweise Gnadaus nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen.
Ein weiteres Problem des Bandes wird nur von Johannes Zimmermann angesprochen, müsste aber vertieft werden: Die „Innerkirchlichkeit“ der Gemeinschaftsgemeinden wird inhaltlich nur noch durch formale Mitgliedschaft und eventuell auch die Beanspruchung kirchlicher Kasualien eingelöst. Wenn die Zusammenarbeit von Landeskirchen und Gemeinschaftsgemeinden nicht zumindest durch die Bildung innerkirchlicher Personal- oder Institutionsgemeinden sowie Einbindung in die synodalen Selbstverwaltungsstrukturen der Landeskirchen Gestalt gewinnt, ist ihre Ekklesiologie sachlich doch eher als freikirchlich denn als inner-landeskirchlich einzuordnen, ganz gleich, was einzelne Vertreter behaupten. Warum steht man nicht – wie zum Beispiel die Chrischona-Gemeinden in der Schweiz – dazu: Wir sind eine Freikirche mit einer landeskirchlichen Vergangenheit, die zeitlich noch nicht lange zurückliegt? Provozierend könnte man formulieren: Es könnte als unehrlich gedeutet werden, wenn „Innerkirchlichkeit“ nur noch auf dem Niveau einer schlichten liberalen Ekklesiologie eingelöst wird.
Der Sammelband wirft viele Fragen um Weg und Zukunft der Gemeinschaftsbewegung auf, und das ist gut so!
Pfarrer Dr. Jochen Eber, Margarethenkirche Steinen-Höllstein