Neues Testament

Daniel A. Gleich: Die lukanischen Paulusreden

Daniel A. Gleich: Die lukanischen Paulusreden. Ein sprachlicher und inhaltlicher Vergleich zwischen dem paulinischen Redestoff in Apg 9–29 und dem Corpus Paulinum, Arbeiten zur Geschichte der Bibel 70, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2021, geb., 349 S., € 88,–, ISBN 978-3-374-06868-5


Schon aufgrund der bedeutenden Rolle des Paulus in der zweiten Hälfte der Apg fasziniert ihr Paulusbild seit Jahrzehnten die Acta-Forschung. Aus ganz unterschiedlicher Perspektive und mit unterschiedlichen Prämissen wurde dieses Bild untersucht. Dazu gehören etwa die vielen Vergleiche der biografischen und chronologischen Angaben der Apg mit den Daten mancher oder aller Paulusbriefe. Der Schwerpunkt in unzähligen Aufsätzen und mehreren Monografien lag und liegt auf dem Vergleich der pln. Theologie (wieder einiger oder aller Paulusbriefe) und der Apg als ganzer (bzw. der Theologie des lk. Doppelwerks), bzw. der Paulusteile oder, noch spezieller, der Paulus-Reden (oft unter der Prämisse, dass gerade in den Reden die spezifische lk. Theologie besonders zu Tage tritt).

In der vorliegenden Untersuchung bietet Daniel Gleich (seit 2018 Dozent am Theologischen Seminar St. Chrischona, Schweiz) einen detaillierten Vergleich des gesamten pln. Redestoffs der Apg mit den Paulusbriefen (Doktoraldiss., Evangelische Theologische Faculteit, Leuven, Belgien; Betreuung Armin D. Baum).

Nach der knappen Einleitung (23–26) beginnt Gleich mit einem auslegungs- und forschungsgeschichtlichen Überblick von der alten Kirche bis hin zu den neueren rein literarischen Untersuchungen zur Apg (27–59). Dabei zeigt sich, dass bereits seit dem 19. Jh. die Paulusreden größtenteils nicht als wörtliche Wiedergaben, sondern als lk. Zusammenfassungen und Paraphrasen tatsächlich gehaltener Reden verstanden wurden (317). Begründet wird die Studie mit der Beobachtung: „Eine umfassende Untersuchung, in welcher das gesamte pln. Redematerial der Apg mit allen Paulusbriefen verglichen wird, gibt es bisher nicht. Eine solche Untersuchung ist allerdings notwendig, um das breite Spektrum an Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Worten des lk. Paulus und denen der Paulusbriefe überblicken und ein Gesamturteil über deren Kompatibilität fällen zu können“ (59).

Dem folgen einführend knappe Überlegungen zur Wiedergabe von Reden bei repräsentativen antiken Historiografen (61–76; der Redensatz des Thukydides, Methodenreflexionen bei Polybios, die Methoden der Redewiedergabe bei Josephus Flavius und bei Tacitus; dabei lässt sich ein hohes Interesse an der zuverlässigen Wiedergabe des Redeinhalts erkennen; der exakte Wortlaut spielt aber nur eine untergeordnete Rolle) und zum vorliegenden Quellenmaterial (77–84; der Gesamtumfang der lk. Paulusreden, Zahl und Länge der lk. Paulusreden, ihre Gattungen; die in oratio recta verfassten Redetexte des lk. Paulus machen 15 % des Gesamtumfangs der Apg aus, entsprechende Texte in oratio obliqua kommen dagegen nur äußerst selten vor).

Im Zusammenhang der anzuwendenden Methodik skizziert Gleich die Ermittlung, Darstellung und Klassifizierung der Parallelen und diskutiert die Brauchbarkeit der in der Forschung gebräuchlichen Rede vom sog. Paulinismus der Apg (85–97). Paulinismus wird etwa gebraucht als Bezeichnung einer spezifisch paulinischen Lehre, einer bestimmten Haltung gegenüber Paulus, für von Paulus inspirierte Aussagen oder spezifische paulinische Terminologie und als Bezeichnung paulinischer Inhalte; in letzter Variante wird der Begriff hier aufgegriffen.

Der Hauptteil der Arbeit besteht aus detaillierten Vergleichen der Abschiedsrede des Paulus in Milet (20,18–35, 99–143; forschungsgeschichtlicher Überblick, Gliederung, Gattung, Parallelen innerhalb und außerhalb des Corpus Paulinum, thematische Parallelen zum LkEv und den Past), der Missionsreden des Paulus in Apg 13; 14 und 17 (145–226), der Verteidigungsreden in Apg 22; 23; 24; 26 (227–295) sowie von kürzerem pln. Redestoff (13,10–11, 45–47; 14,22; 17,3; 18,21; 19,21; 21,13; und 28,25–28; 297–315; „Neben den längeren Redetexten finden sich in der Apg auch kürzere Redestücke des lk. Paulus, die gelegentlich ebenfalls inhaltlich ausreichend gehaltvoll sind, um sie mit möglichen Parallelen im Corpus Paulinum zu vergleichen“, 25). Bei knapp 60% aller Parallelen zeigt sich eine lediglich geringe inhaltliche Übereinstimmung der Paulusbriefe mit den lk. Paulusreden; bei 40% der Parallelen findet sich jedoch eine inhaltlich hohe Übereinstimmung. Daher gilt: „Trotz ihrer besonderen thematischen Nähe zu manchen Briefen des Corpus Paulinum stellt die Abschiedsrede somit mit ihren Gemeinsamkeiten zu den Paulusbriefen unter den lk. Paulusreden keineswegs einen Einzelfall dar“ (319). Als „Gegenprobe“ werden jeweils auch Parallelen außerhalb des Corpus Paulinum im NT und bei den Apostolischen Vätern mit den Aussagen der lk. Paulusreden verglichen. Gleich schließt, dass dort,

wo es Gemeinsamkeiten mit den Texten des Corpus Paulinum gibt, das pln. Redematerial in der Apg zahlreiche Berührungspunkte mit den Paulusbriefen aufweist. Dass manche Aussagen des lk. Paulus im Widerspruch zu Parallelen im Corpus Paulinum stünden, wie es beispielsweise für Apg 13,38–39; 17,22–23 und 20,24–30 gelegentlich behauptet wurde …, hat sich nicht bestätigt. Vielmehr sind die Parallelen auch an diesen Stellen inhaltlich kompatibel … Es lässt sich in den lk. Paulusreden keine besondere Nähe zu einem bestimmten Brief des Corpus Paulinum (z. B. 1Thess) oder einer Gruppe von Briefen (z. B. den Pastoralbriefen oder den umstrittenen Briefen insgesamt) nachweisen, die auf eine literarische Abhängigkeit deuten würde. … Ob der Verfasser der Apg einen oder mehrere Paulusbriefe überhaupt kannte, lässt sich mit den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit weder bestätigen noch bestreiten. Der lk. Paulus hält seine Reden nicht nur in vielen unterschiedlichen Situationen, sondern deckt dabei auch inhaltlich eine große Bandbreite an biographischen und theologischen Themen ab. Für viele Aussagen konnten Parallelen aus dem Corpus Paulinum gefunden werden. Viele andere Aussagen in den Paulusreden der Apg gehen allerdings über das, was sich in den Paulusbriefen findet, hinaus (322).

Die meisten Parallelen in den unumstrittenen Paulusbriefen finden sich in den Missionsreden.

Vor allem die Rede in Apg 13,16b–41 enthält mehrere inhaltliche Paulinismen, die sich nicht nur auf die Aussagen zur Rechtfertigung durch Glauben (Apg 13,38–39) beschränken. Dass diese vom lk. Paulus vorgetragene Rechtfertigungslehre mit der des Römer- und Galaterbriefs unvereinbar wäre … hat sich nicht bestätigt. Auch in den anderen beiden Missionsreden (Apg 14,15b—17 und Apg 17,22–31) ließen sich inhaltliche Paulinismen zu den Aussagen der Paulusbriefe über die Schöpfung und über die Umkehr zu Gott finden, die ebenfalls nicht im Widerspruch zu den Briefen des Corpus Paulinum stehen (318).

Bei Aussagen in den lk. Paulusreden, zu denen es keine Parallelen im Corpus Paulinum gibt, handelt es sich zumeist um autobiographische Aussagen. Andere Aussagen ohne Parallelen beziehen sich auf die Geschichte Israels oder auch auf die Adressaten der jeweils erzählten Situation. Aber auch für einige theologische Aussagen des lk. Paulus gibt es keine Parallelen. Dabei ist dieser thematische Unterschied zumindest teilweise auf die jeweils unterschiedliche rhetorische Absicht der Texte zurückführen (322). So enthalten die an nichtchristliche Juden und Heiden adressierten Missionsreden Aussagen, die in den an christliche Gemeinden gerichteten Paulusbriefen vorausgesetzt sein dürften und daher nicht explizit genannt zu werden brauchen. Insgesamt handelt es sich bei der Apg „um eine eigenständige Überlieferung der Paulustradition, deren historische Authentizität nicht in jedem Fall an den (unumstrittenen) Paulusbriefen gemessen werden kann. Da die lk. Paulusreden sich aber an so vielen überprüfbaren Stellen als inhaltlich pln. erwiesen haben, ist es historisch plausibel, dass auch die nicht überprüfbaren Abschnitte authentische Aussagen des Paulus enthalten” (323).

Mit dieser Untersuchung leistet Gleich einen wichtigen Beitrag zur Diskussion des Verhältnisses zwischen dem lk. Paulusbild und den Briefen des Paulus. Es gelingt ihm, eine Reihe von Prämissen (eher als solide Ergebnisse) der Acta-Forschung überzeugend in Frage zu stellen. Seine gründlich recherchierten und methodisch reflektierten Ergebnisse bieten wichtige Impulse für die ntl. Einleitungswissenschaft. Dass etwa „eine literarische Abhängigkeit der Abschiedsrede des lk. Paulus von einem oder mehreren Paulusbriefen … weniger plausibel ist als die Verarbeitung eines Augenzeugenberichts … oder einer oder mehrerer pln. Quellen“ (318) wirft ein interessantes Licht auf die Einschätzung der sog. Wir-Berichte der Apg (u. a. 20,5–21,17) und auf den Verfasser als Reisegefährten des Apostels.

Während der pln. Redestoff der Apg sehr differenziert wahrgenommen wird, bleibt die Vergleichsgröße „Paulusbriefe“ dagegen vage. Es wäre in dieser Art von Untersuchung zu berücksichtigen, dass die Paulusbriefe auch geprägt sind von den unterschiedlichen Mitverfassern, den herangezogenen Sekretären (vgl. Röm 16,22), den über die Mitverfasser hinaus jeweils gegenwärtigen Mitarbeitenden (vgl. die Grußlisten), der Aufnahme von unterschiedlichen Traditionen (etwa aus Jerusalem oder Antiochia), dem Einfluss der Situation am Abfassungsort und der bewussten Aufnahme von Lokalkolorit, wie etwa Michael Immendörfer kürzlich für den Epheserbrief gezeigt hat. Jedenfalls sind diese Faktoren zu berücksichtigen. Würden sie die Ergebnisse von Gleichs Studie modifizieren?

Zu fragen wäre ferner, wie sich das in der Apg dargestellte Wirken des Paulus zu den entsprechenden expliziten Aussagen und den impliziten Voraussetzungen in seinen Briefen verhält (etwa die Darstellung des frühen Wirkens in Gal 1–2 oder im Rechenschaftsbericht in Röm 15).


Prof. Dr. Christoph Stenschke, Dozent der Biblisch-Theologischen Akademie, University of South Africa, Pretoria