Neues Testament

Viktor Löwen: Die zwölf Jünger Jesu

Viktor Löwen: Die zwölf Jünger Jesu. Exegetische Untersuchungen zum Kreis der zwölf Jünger im Matthäusevangelium, TANZ 64, Tübingen: Narr Francke Attempto, 2021, geb., 653 S., € 128,–, ISBN 978-3-7720-8724-0


In dieser Studie (Doktoraldissertation, TU Dortmund, 2018; Betreuung R. Riesner) untersucht Viktor Löwen, Bibelwissenschaftler am Theologischen Seminar Rheinland, aus textlinguistischer Perspektive die Darstellung und Bedeutung der zwölf Jünger Jesu im MtEv in seiner kanonischen Endgestalt. Dabei geht es um die elf/zwölf Jünger als eine fest umrissene Personengruppe. Die Jünger als Einzelpersonen, andere Nachfolger Jesu oder allgemeinere Aspekte des Themas Jüngerschaft, die über den Zwölferkreis hinausgehen, sind nicht berücksichtigt.

Löwen behandelt also alle eindeutig vom Zwölferkreis handelnden Stellen des MtEv und zeigt, dass die Zwölf im MtEv in ein komplexes Beziehungsgeflecht eingebunden sind und in mehr oder weniger direkter Beziehungen zu anderen Personen oder Personengruppen stehen (13), d. h., zu Jesus, zum Volk Israel, zu seinen Anführern usw. Zudem werden sie mit einer Reihe theologischer Themen verbunden:

Erstens: Welche Rolle kommt dem Zwölferkreis zu im gegenwärtigen und zukünftigen „Himmel­reich“, dessen Anbruch Jesus proklamiert (Eschatologie)? Zweitens: In welchem Verhältnis stehen die Zwölf zu Jesu Person und seinem Handeln und wie wirkt sich das Zwölfer-Verständnis auf das Jesusbild aus (Christologie)? Drittens: Haben die Zwölf eine besondere Funktion für die Gemeinde Jesu? Gehören sie (nur) zu einer historisch vergangenen Zeitepoche oder sind sie (auch) für die nachösterliche Gemeinde von Bedeutung (Ekklesiologie)? Aufgrund dieses personellen und thematischen Beziehungsgeflechts hat eine bestimmte Interpretation des Zwölferkreises direkte Auswirkungen auf das Verständnis der anderen Personen und Themen (14).

Löwen beginnt mit einem Forschungsüberblick zu den zwölf Jüngern Jesu im MtEv seit 1921, verbunden mit einer kritischen Würdigung (19–84). Behandelt werden Studien auf der Grundlage der Formkritik, der Redaktionskritik und in narrativer Kritik (J. D. Kingsbury, Richard A. Edwards, Jeannine K. Brown, Uta Poplutz). Ferner widmet sich Löwen einleitend dem Verhältnis von Jüngern im allgemeineren Sinne und dem eng umrissenen Kreis der Zwölf im MtEv (84–107; Wortstudien, Erläuterung der Stellenauswahl, d. h. jene Stellen, in denen der Zwölferkreis vor allem numerisch hervortritt und sich so von anderen Jesusnachfolgern unterscheidet, die ebenfalls als Jünger bezeichnet werden; an insgesamt elf Stellen im MtEv wird durch die Zahlen zehn, elf und zwölf auf den Zwölferkreis als Gesamtgröße verwiesen). Angesichts des Gesamtumfangs der Studie überrascht es, dass die angewandte Methodik nicht eigens dargestellt und begründet wird (einige wenige Hinweise in der Einführung, etwa die Rede von einer „lexikalisch-grammatikalischen und semantisch-kommunikativen Analyse“ [15] oder abschließend allgemein als „syntaktische und semantische Analyse“, 613).

Der Hauptteil der Arbeit besteht aus detaillierten Untersuchungen zu den ausgewählten Vorkommen der Zwölf in Mt 9,36–10,42 (109–318, die sog. Missionsrede Jesu); in Mt 19,27–20,28 (319–417, Thronverheißung, Weinberggleichnis, Leidensankündigung, Streit um Thronplätze), in Mt 26,20–35.56 (419–515, letztes Abendmahl, Ereignisse am Ölberg, Flucht im Garten Gethsemane) sowie in Mt 28,16–20 (517–612; Löwen plädiert für eine Israel einschließende Bedeutung der nach dem Missionsbefehl zu erreichenden Völker, 573). In jedem dieser vier großen Kapitel wird der jeweilige Abschnitt eingeleitet (Vorkommen des Zwölferkreises, Personenkonstellation, Abgrenzung der Passage, literarischer Kontext sowie Aufbau). Dem folgt die eigentliche Auslegung (Übersetzung, literarischer Kontext, Aufbau, Kommentar und Analyse, Zusammenfassung). Die abschließende Zusammenfassung (613–616) besteht aus knappen Resümees der Ergebnisse der einzelnen Kapitel. Auf eine Synthese aller Ergebnisse, eine Beschreibung der narrativen Funktion dieses Porträts, eine Würdigung im Gesamtkontext mt. Theologie (und der neueren Mt-Forschung; vgl. R. Reeves: „Matthew’s view of discipleship“, in: The Gospel of Matthew, in: S. McKnight / N. K. Gupta (Hg.): The State of New Testament Studies. A Survey of Recent Research, Grand Rapids, 2019, (275–296) 285–290) oder gar der ntl. Theologie sowie auf eine Aktualisierung für das Verständnis christlicher Existenz heute oder Überlegungen zur Rezeptionsgeschichte des Matthäus Apostelbildes wurde verzichtet.

Nach Löwen ist das Bild des Zwölferkreises komplex. Die Sendung der Zwölf zum „Missions“-Dienst im Volk Israel ist als messianische Zeichenhandlung zu begreifen. Die Zwölf repräsentieren das eschatologische wiederhergestellte Zwölf-Stämme-Volk Israel unter der Herrschaft des davidischen Messias. Als seine Mitarbeiter sollen die Zwölf Jesu endzeitliches Heilswerk in Israel fortführen. Ferner haben die Zwölf die Zusage, bei der eschatologischen Wiederherstellung der Welt neben Jesus auf zwölf Thronen zu sitzen und das versammelte Zwölf-Stämme-Volk zu richten und es evtl. anschließend zu regieren. Freilich müssen die Zwölf zum Leiden bereit sein, um diese Thronplätze einnehmen zu können. Wer später groß sein möchte, muss in der Gegenwart dienen (lernen). Auch in ihrer Flucht aus dem Garten Gethsemane stellen die Zwölf das Volk Israel dar; mit ihnen ist die Schafherde Israel zerstreut. Jedoch kündigt Jesus ihnen auch die Wiedervereinigung der zerstreuten Herde an. Später werden die Elf in Galiläa wieder vereint, miteinander und mit dem auferstandenen Jesus. Sie stellen dabei einerseits das versammelte Israel dar, andererseits sollen sie von Galiläa aus nun auch die Völker zu dem Messias Israels sammeln. Aufgrund der unbegrenzten Vollmacht Jesu erscheint die Mission der elf Jünger als Ausführung seiner Herrschaft auf der Erde. Freilich wird ihre Herrschaft eng begrenzt (Jünger machen, taufen, lehren). „Speziell für ihren Missionsauftrag sagt Jesus ihnen sein bleibendes und segensreiches Mit-Sein zu, so dass letztlich er selbst es ist, der mit und durch die elf Jünger handelt“ (616). Zur Arbeit gehören 16 Exkurse mit insgesamt 69 Seiten (www.meta.narr.de/9783772087240/Anhang.pdf).

Löwen zeichnet ein schlüssiges und überzeugendes Bild der zwölf Jünger im MtEv und ihrer Funktion als Teil der vorösterlichen Sendung Jesu und als ihre nachösterliche Verlängerung zu Israel und den Völkern. Durchweg wird der Israelbezug dieser besonderen Gruppe unter den Nachfolgern Jesu deutlich. Wie sich dieses Bild zu den anderen Jüngern im MtEv verhält, bleibt offen. Die Arbeit hätte durch Aufnahme neuerer narratologischer Fragestellungen und Methoden an Tiefenschärfe gewonnen; vgl. etwa F. Dicken / J. Snyder (Hg.): Characters and Characterization in Luke- Acts, LNTS/JSNTS 548, London, 2016, oder D. Nolan Fewell (Hg.): The Oxford Handbook of Biblical Narrative, Oxford, 2016. Aufgrund des sparsamen Gebrauchs von Absätzen und Gliederungsindikatoren im Text ist die Arbeit teilweise unübersichtlich.

Zum Thema vgl. auch die von Löwen nicht herangezogene Arbeit von T. Frauenlob, Die Gestalt der Zwölf-Apostel im Lukasevangelium. Israel, Jesus und die Zwölf-Apostel im ersten Teil des lukanischen Doppelwerks, fzb 131, Würzburg, 2015.


Prof. Dr. Christoph Stenschke, Dozent der Biblisch-Theologischen Akademie, University of South Africa, Pretoria