Matthias Freudenberg / Aleida Siller (Hg.): Emder Synode 1571
Matthias Freudenberg / Aleida Siller (Hg.): Emder Synode 1571. Wesen und Wirkungen eines Grundtextes der Moderne, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2020, Hb., 93 S., € 15,–, ISBN 978-3-525-56726-5
Aleida Siller (Hg.): Emder Synode 1571. Erinnerungsort – Kulturtransfer, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2022, Hb., 96 S., € 15,–, ISBN 978-3-525-51708-6
Die Synode im ostfriesischen Emden ist vermutlich nur Spezialisten der reformierten Reformationsgeschichte bekannt. Im Unterschied zu ihrem geringen Bekanntheitsgrad hatte die Versammlung jedoch eine enorme Reichweite: Die Emder Synode führte im Jahr 1571 erstmals eine synodale Struktur der Kirchenordnung ein. Ortsgemeinden werden von einem Presbyterium geleitet. Diese versammeln sich wiederum in einer Classis (ein Bezirkskonvent benachbarter Gemeinden), über der es für gemeinsame Belange die Provinzsynoden und schließlich eine Generalsynode gibt. Diese Leitungsstruktur ist heute in Gemeinden in ganz Deutschland gebräuchlich. An der Emder Versammlung nahmen 29 Vertreter niederländischer Flüchtlingsgemeinden aus den südlichen und im Westen gelegenen deutschen Ländern, besonders aus der Kurpfalz, aus Flandern und Nordholland teil (2020, 9).
Der Text der Synodalakten und des Einladungsschreibens zur Synode (2020, 67–92) wird in der Jubiläumsausgabe in einer neuen deutschen Übersetzung wiedergegeben.
In den Niederlanden wurde der Protestantismus verfolgt. Deshalb emigrierten Flüchtlinge nach England und in deutschsprachige evangelisch regierte Länder. In Emden gab es eine Kolonie mit etwa 5.000 französischsprachigen Flüchtlingen (2020, 16f; vgl. 2022, 26). Das synodale Ordnungsprinzip wurde zu dieser Zeit schon angewandt; es sollte sich auch für die niederländischen Gemeinden als zweckmäßig erweisen.
Über den Verlauf des zehntägigen Treffens in Emden ist relativ wenig bekannt (2020, 22f). Schon der Weseler Konvent reformierter Flüchtlingsgemeinden 1568 wollte der Vereinzelung der Gemeinden entgegenwirken und empfahl eine synodale Ordnung im Miteinander von Ortsgemeinden und überörtlichen Kirchenstrukturen. Auf die Beschlüsse des Konvents baut die Emder Synode auf (2020, 32f). Prominent drückt sich das Kirchenverständnis im 1. Emder Artikel aus: „Keine Gemeinde soll über andere Gemeinden, kein Pastor über andere Pastoren, kein Ältester über andere Älteste, kein Diakon über andere Diakone Vorrang haben oder Herrschaft beanspruchen“ (2020, 71). Diese Struktur wurde später von weiteren deutschsprachigen reformierten Gemeinden aufgegriffen (2020, 33).
Die Emder Synodalakten behandeln in den ersten 53 kirchenordnenden Artikeln den Bekenntnisstand und den Aufbau der Gemeindestrukturen sowie die Zusammengehörigkeit von Flüchtlings- und verfolgten evangelischen Heimatgemeinden „unter dem Kreuz“. Es folgen praktische Fragen der Wahl für die kirchlichen Ämter, sakramentaler Praxis sowie der Ehe und Kirchenzucht. Weitere Themen der 104 Artikel widmen sich überwiegend Einzelfragen und organisatorischen Angelegenheiten.
Die Emder Synode wurde nicht nur von weiteren reformierten Gemeinden übernommen und hat Landeskirchenordnungen bis ins 20. Jahrhundert beeinflusst. Sie hatte mit ihrem Subsidiaritätsprinzip möglicherweise auch Einfluss auf Staat und Gesellschaft (2020, 42–48, vgl. 43). So erweisen sich die Emder Synodalakten als ein „Grundtext der Moderne“ (2020, Untertitel 3 unpag.)
Ungeachtet dieser breiten Wirkungsgeschichte sind die Akten der Emder Synode aufgrund von Aufbau und Inhalt nicht in die gebräuchlichen Sammlungen reformierter Bekenntnisschriften aufgenommen worden. Heiner Faulenbach begründet dies als Mitherausgeber der Reformierten Bekenntnisschriften (BSRK, Neukirchener, 2002ff; V&R, 2022ff) in seiner Einleitung mit dem Hinweis, dass die synodalen Texte keinen Bekenntnischarakter hätten. Sie sei jedoch durch die Übernahme des Heidelberger Katechismus „für die Breite der Rezeptionsgeschichte dieses Katechismus wegweisend“ geworden (Bd. 1/1, 2002, S. 17, Anm. 37).
Hochaktuell wurden die Emder Synodalbeschlüsse in der schwierigen Lage bekennender Kreise im Dritten Reich und bei der Neugründung der EKD nach dem Zweiten Weltkrieg. Deshalb ist der lateinische Text in die Sammlung reformierter Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen von Wilhelm Niesel (BSKORK, 1938, 277–290) aufgenommen worden und in einer hochdeutschen Übersetzung von Hermann Klugkist Hesse in die Ausgabe von Paul Jacobs (RBSKO, 1949, 249–266) eingegangen. In den Ausnahmesituationen von Kirchenkampf und Neuordnung der Kirche waren die Dokumente von Emden als Zeugnis für eine „nach Gottes Wort ausgerichteten Kirchenordnung“ (RBSKO, 251) wichtig geworden. Klugkist Hesse hebt hervor, dass die Emder Versammlung als „echte Synode getagt“ und „die Gemeinden des Festlandes zu einer Kirche mit gemeinsamem Bekenntnis und gemeinsamer Ordnung zusammengefügt und nach der Schrift einheitlich ausgerichtet“ habe (BSKORK, 277). Er findet sich und die anderen Bekennenden des Kirchenkampfs im Dritten Reich in gleicher Lage wie die Versammelten bei der Emder Zusammenkunft: „Sie gab den verstreuten Gemeinden die Ordnung, die ihnen nicht nur in den kommenden Notzeiten als starkes Bollwerk diente, sondern ihrer immer wieder notwendig werdenden Reformierung und ihrer Besinnung auf wahrhaft kirchliches Handeln immer neu den von der Heiligen Schrift her zu beschreitenden Weg gezeigt hat“ (ebd., 277).
In dieser Situation befanden sich die wenigen Versammelten nicht, die sich zur Feier des 450. Jubiläums in Emden zusammenfanden. Die Jubiläumsfeierlichkeiten 2021, also im zweiten Pandemie-Jahr, wurden jedoch durch Covid-19-Schutzvorkehrungen empfindlich gestört. So mussten die Gäste für den Festakt in der Johannes a Lasco Bibliothek am 10. Juni 2021 wieder ausgeladen werden. Dafür wurde die Veranstaltung aber live übertragen (2022, Teil 1, 15–41) und liegt jetzt in Buchform vor. Martin Heimbucher, damaliger Kirchenpräsident der Evangelisch-reformierten Kirche, eröffnete den Festakt in Emden (2022, 17f). In seiner Begrüßung findet Heimbucher historische Parallelen zwischen Emden 1571 und den wichtigsten Freiheitsdokumenten der Neuzeit, der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten 1776 und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung im Jahr 1789. Nach Heimbuchers Beitrag wurde ein Grußwort des damaligen Präsidenten des Deutschen Bundestags Wolfgang Schäuble live übertragen (2022, 19–21).
Der Hauptvortrag der Mainzer Historikerin Irene Dingel würdigt nicht unkritisch die Emder Synode in ihrer Funktion als „Erinnerungsort par excellence“ (nach Pierre Nora) des reformierten Protestantismus (23–33, Zit. 25). Dingel erkennt als Ergebnis der Emder Synode eine doppelte Konsolidierung des europäischen Reformiertentums in Glauben und Lehre sowie in der Kirchenverfassung (2022, 32). Weitere Grußworte von Heinrich Bedford-Strohm (damaliger EKD-Ratsvorsitzender), Jeannette Galjaard (Vize-Präses der Protestantischen Kirche in den Niederlanden) und Tim Kruithoff (Oberbürgermeister Emden) vermitteln einen lebendigen Eindruck des Festakts, der nicht wie geplant als Live-Veranstaltung stattfinden konnte.
Am 6. Juni wurde im gleichen a Lasco-Bibliotheksgebäude, der ehemaligen Großen Kirche Emdens, eine Ausstellung zur Emder Synode eröffnet. Sie nimmt die Themen „Kontexte, Akteure“ und „Kulturtransfer“ auf (2022, Teil 2, 42–57). Zwei Vorträge und eine Predigt aus Anlass des Jubiläums ergänzen den Band (2022, Teil 3, 59–94), der etwa den gleichen Umfang hat wie die Textausgabe der Emder Synodalakten aus dem Jahr 2020.
Abbildungen von Originalseiten der ältesten Urkunden können auch Nicht-Historiker zu dem Versuch animieren, anhand der modernen Übersetzung die 450 Jahre alten Dokumente zu entziffern (2020, 49–56). Das Literaturverzeichnis ermöglicht den sofortigen Einstieg, ja ein komplettes Eintauchen in das Thema anhand der wichtigsten Veröffentlichungen der letzten Jahrzehnte (2020, 60–63). Diese Hinweise sollten ausreichen, um zur Lektüre der beiden Jubiläumsbände zu animieren! Wenn die Emder Synode schon nicht „gewürdigt“ wurde, als Bekenntnisschriften zu gelten, so wird sie durch diese Neuausgabe doch neu im Gedächtnis verankert und als bedeutender Text aus der Frühzeit reformierter Kirchengeschichte nutzbar.
Pfarrer Dr. Jochen Eber, Steinen