Irene Dingel (Hg.): Der Synergistische Streit (1555–1564)
Irene Dingel (Hg.): Der Synergistische Streit (1555–1564), bearb. von Kęstutis Daugirdas, Jan Martin Lies, Hans-Otto Schneider, Controversia et Confessio 5, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2019, geb., 820 S., € 140,–, ISBN 978-3-525-55864-5
Die Frage einer Mitwirkung des menschlichen Willens bei der Bekehrung ist nicht erst im Neupietismus und bei Freikirchlern in den letzten Jahrzehnten umstritten. Es lohnt sich, tief in die evangelische Theologiegeschichte einzutauchen, um schon vor Melanchthons Tod im Jahr 1560 heiße Debatten und tragfähige Lösungen für das Problem zu finden! Doch auch in anderer Hinsicht lohnt sich die Lektüre des Bandes für Theologen aus „evangelikalen“ Kreisen im Land. Hätten wir zum Beispiel gewusst, dass schon damals intensiv um das richtige Verständnis des Begriffs „Bekehrung“ gerungen wurde (vgl. 13)? Die altprotestantische Orthodoxie hat einen schlechten Ruf, weshalb sich nur wenige Studierende und Forschende mit ihr beschäftigen. Auch wenn sich die in Controversia et Confessio veröffentlichten Dokumente spätreformatorischer theologischer Theoriebildung noch nicht zu den Höchstleistungen scholastischer Systembildung, wie man sie dann bei Theologen des 17. Jahrhunderts findet, aufgeschwungen haben, sind sie doch weitgehend in Vergessenheit geraten und werden nur von wenigen Spezialisten bearbeitet.
Ausgangspunkt der nur wenige Jahre andauernden, aber intensiven Diskussion über die Wahlfreiheit des Menschen in seiner Bekehrung sind zwei gelehrte Disputationen, die der Leipziger Superintendent, Pfarrer an der Nikolaikirche und Theologieprofessor Johannes Pfeffinger im Jahr 1555 abhielt. Zweiter Protagonist im Synergistischen Streit ist der Jenaer und Leipziger Theologieprofessor Victorin Strigel. Hauptsächliche Regionen der Auseinandersetzung sind das ernestinische Sachsen und Württemberg.
Die Frage nach der Bekehrung erweitert sich im Lauf der Diskussion zu dem größeren Thema, ob der Mensch sich frei dem Guten zuwenden könne. Herzog Johann Friedrich der Mittlere von Sachsen versucht, den theologischen Differenzen durch Vermittlungsbemühungen, aber auch durch Entlassungen von Geistlichen und Professoren entgegenzuwirken.
Mit der Kritik lutherischer Theologen an Strigel und Pfeffinger soll eigentlich deren Lehrer Melanchthon getroffen werden (vgl. u. a. 533, Z. 26f und Amsdorfs Vorwurf 772, Z. 14). Dieser brachte zum Ausdruck, dass der zustimmende menschliche Wille einen wichtigen Faktor bei der Bekehrung neben dem Heiligen Geist und dem Wort Gottes darstelle (7, 21: tres causae concurrentes, vgl. BSELK S. 1386, Z.17ff). Von Pfeffinger sind im vorliegenden Sammelband drei Schriften abgedruckt: 1. De libertate voluntatis humanae quaestiones quinque (Leipzig 1555, S. 18–44), 5. Antwort auf die öffentliche Bekenntnis der reinen Lehre des Euangelii und Confutation der itzigen Schwärmerei Amsdorfs (Wittenberg 1558, S. 146–173), 7. Nochmals gründlicher, klarer, wahrhaftiger Bericht (Wittenberg 1559, S. 210–265).
Die Publikation von Pfeffingers Disputationsthesen in einem Sammelband im März 1558 gab dem Synergistischen Streit (1555/58–1564) erst richtig Auftrieb. Verschiedene zeitgenössische lutherische Theologen antworteten auf Pfeffingers herausfordernde Thesen mit einer beachtlichen Zahl eigener Schriften, die ihrerseits aber Meinungsdifferenzen untereinander dokumentierten. Abgedruckt sind im vorliegenden 5. Band von Controversia et Confessio Beiträge des Weimarer Hofpredigers Johannes Stoltz (eine Veröffentlichung, Nr. 3), drei weitere des bekannteren Theologen Nikolaus von Amsdorf (Nr. 2, 6 und 18), fünf von Matthias Flacius (Nr. 4, 11 [Miturheber], 12, 13 und 15), zwei von Nikolaus Gallus (Nr. 8, 10), und Thesen von Simon Musaeus (Nr. 11 [Miturheber]) in selbständigen Publikationen oder Beiträgen zu Sammelwerken. In diesem Zusammenhang wird auch das Weimarer Konfutationsbuch, das ein Viertel des gesamten Bandes einnimmt (Jena 1559, Nr. 9, S. 288–501) erstmals lateinisch und deutsch kritisch ediert. Das Weimarer Konfutationsbuch konnte zwar im ernestinischen Sachsen Frieden stiften (294f). Da Victorin Strigel und der Jenaer Superintendent Andreas Hügel der von Flacius bestimmten Endredaktion des Weimarer Konfutationsbuchs nicht zustimmen konnten, ging der Streit jedoch weiter.
Besonders die folgenden Schriften von Victorin Strigel zeigen, wie schwierig es ist, in der Synergismusfrage theologische Fallen zu vermeiden. Strigel unterteilt den Bekehrungsvorgang in verschiedene psychologische Prozesse und stellt sich mit seinen Aussagen deutlich in die Nähe Pfeffingers. Auch die Weimarer Disputation von 1560 (Musaeus, Flacius, Strigel: Thesen zur Weimarer Disputation 1560, Nr. 11, 528–551) konnte die theologischen Unterschiede zwischen den ernestinischen Theologen nicht beseitigen. Meinungsverschiedenheiten führten zu Entlassungen, ja sogar zu Inhaftierungen von andersdenkenden Theologen. Im Lauf gelehrter Diskussionen wurde der in Jena entlassene Strigel 1562 wieder auf seinen Lehrstuhl berufen. Mehr als vierzig protestierende Geistliche, 1570 sogar 70 Würdenträger wurden ihres Amtes enthoben (636, 662). Ein Gutachten der Prediger in der Grafschaft Mansfeld protestierte kurz nach Strigels Rehabilitierung gegen dessen philosophisch geprägte Verwendung von Begriffen (640, Sententia ministrorum verbi in comitatu Mansfeldensi 1562, Nr. 14, 632–656).
Strigels theologische Position lud auch außerhalb von Sachsen zum Widerspruch ein, wie eine Sammlung von Beiträgen württembergischer Theologen zu seinen Aussagen (1563, Etliche Schriften und Handlungen der Württembergischen Theologen und Victorini Strigelij, Nr. 17, 740–767) belegt. Die Weimarer Disputation löste ab 1560/1561 den Streit zwischen Flacius und Strigel über die Erbsünde aus. Flacius betonte das tiefe menschliche Verderben und seine völlige Unfähigkeit, frei Gutes hervorzubringen. Im Eifer der gelehrten Disputation bezeichnete er die Erbsünde sogar als Substanz oder Wesen des Menschen. Dies wurde von Victorin Strigel mit seiner Gegenposition, die Erbsünde sei lediglich ein Akzidens, strikt abgelehnt (Vgl. BSELK S. 1189). Der Synergistische Streit geht folgerichtig in den Erbsündestreit über, ja er kam sogar über die Konkordienformel hinaus nicht zur Ruhe (Vgl. BSELK S. 1221, Anm. 12). Die Konkordienformel behandelt das Thema unter Bezugnahme auf zahlreiche Bibelstellen, frühere Bekenntnisse der reformatorischen Kirchen und einschlägige Luthertexte (BSELK Ep S. 1226–1235; SD S. 1346–1387; De servo arbitrio WA 18, 697,28 und die Genesis-Vorlesung WA 43, 457–463 vgl. 458,25f „Epikuräer“). Immerhin kam es 1566–1570 auch in Göttingen zu einem Bekehrungsstreit (BSELK S. 1383, Anm. 409). Der neue Band 5 in der Reihe Controversia et Confessio bietet die gute Gelegenheit, das heute in frommen landeskirchlich-pietistischen und in freikirchlichen Kreisen noch oft diskutierte Thema Bekehrung historisch zu vertiefen und zu klären. Dass in diesem Zusammenhang eine Klärung der Erbsündenfrage notwendig sein wird, zeigt der oft dürftige Sündenbegriff von Vertretern der Heiligungsbewegung. Diese wollen ihre Sündlosigkeit aus eigener Beobachtung von vermiedenen sündigen Taten im Sinne eines vom Methodismus inspirierten Higher Christian Life herleiten, anstatt zuerst danach zu fragen, was die Bibel und besonders das Neue Testament von der bleibenden Sündhaftigkeit des Menschen lehrt. Deshalb schließt der Rezensent mit einer Bitte an die Kollegen im Lehramt an Theologischen Seminaren und Fachhochschulen: Wenn Ihr über das Thema „Bekehrung“ arbeitet, bleibt nicht an Texten des 19. und 20. Jahrhunderts hängen. Beschäftigt Euch mit dem 16. Jahrhundert!
Pfarrer Dr. Jochen Eber, Steinen