Altes Testament

Judith Gärtner: Das ägyptische Hallel

Judith Gärtner: Das ägyptische Hallel. Eine Untersuchung zu Theologie und Komposition der Psalmen 113–118, BThSt 193, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2023, Ln., 213 S., € 69,–, ISBN 978-3-525-56091-4


Die Psalmenforschung ist bestimmt von zwei Grundfragen, die sich mit einem K– und einen L-Gegensatz auf den Punkt bringen lassen: 1. Ist dieser Psalm, diese Psalmengruppe liturgisch („kultisch“, Verhaftung in gottesdienstlicher Aufführung) oder literarisch (Lesepsalter, spirituelle Verhaftung)? 2. Ist der Psalter eine Kompilation (lose oder wenig organisierte Zusammenstellung von Psalmen) oder eine Komposition (durchdachte, beabsichtigte Abfolge und Anordnung der Psalmen)? Die Einstufung der Serie der Psalmen 113–118, die als „ägyptisches Hallel“ bezeichnet werden, und ihre Untersuchung durch die Rostocker Alttestamentlerin sind von diesen Fragestellungen mitbestimmt. Wir werden darauf zurückkommen.

Die Vfn. hat sich bereits mit einer inhaltlich bestimmten Gruppe von Psalmen beschäftigt (Die Geschichtspsalmen, FAT 84, 2012). Nun legt sie Studien zu einer zweiten, seriell angeordneten Psalmengruppe vor. Von den acht Beiträgen sind fünf (1. und 4.–7.) bereits früher publiziert worden.

Der erste Aufsatz widmet sich dem „Exoduspsalm“ 114 und den untereinander verknüpften Psalmen 113 und 115. Diese rahmen mit ihrer Betonung der Alleinherrschaft Jhwhs in Schöpfung und Geschichte die heilsgeschichtliche Begründung in Ps 114. Umgekehrt bildet dieser die Voraussetzung für die Erfahrbarkeit der Einzigartigkeit Gottes in der Gegenwart. Die Kleingruppe Ps 113–115 erweist sich als „gestaltete Komposition“.

Im zweiten Beitrag geht am Beispiel von Ps 113 und 78 um Ethik. Mit seiner Orientierung an den Schwachen äußert sich in Ps 113 eine von Gott verbürgte Gemeinschaftsordnung und Geschwisterethik. Er zeichnet dieses Ideal und seine Implikationen von der Außenperspektive (Ränder der Gesellschaft), Ps 78 dagegen von der Innenperspektive her. Ps 78,1–11 skizziert eine Erinnerungsgemeinschaft, die sich an der göttlichen Weisung orientiert.

Der dritte Beitrag kreist um das Verhältnis von Jhwh und den Völkern. Ps 113 (V. 4) setzt ein mit der Erhabenheit Jhwhs über alle Völker. In Ps 115 wird eine Götzenpolemik aufgegriffen und das Bekenntnis zu Jhwh als einzigem Gott formuliert, und im kurzen Hymnus Ps 117 wird die Völkerwelt zum Gotteslob aufgerufen. Ps 117 als diskursiver Höhepunkt der Psalmengruppe gibt Antwort auf die Argumentation von Ps 115 und bestätigt das Bekenntnis in Ps 113.

Der vierte Essay widmet sich dem vielschichtigen Ps 118, der als Schlusspsalm der Gruppe geschaffen wurde. Er lässt die aus Ex 15 geschöpfte Rettungserfahrung zum Paradigma für neue Heilserfahrungen des Gottesvolkes werden. Dabei kommen eine monotheistische, eine anthropologische und eine geschichtstheologische „Profillinie“ zum Abschluss und machen Ps 113–118 zu einem „Kompendium“.

Im fünften Kapitel wird Ps 116 formgeschichtlich als Danklied (Toda) charakterisiert. Aufgrund von Erweiterungen liegt freilich eine späte, literarische Bildung im Sinne eines theologischen Reflexionstextes vor. Zu erwähnen sind das Doppelbekenntnis „Ich liebe …“ und „Ich glaube …“ (V. 1.10), die modifizierende Rezipierung von Ex 34,6(–7) in V. 5 (ohne den Zorn-Aspekt) und das Bekenntnis zu Jhwh als gnädigem Gott. Im Kontrast dazu steht die Aussage, dass alle Menschen Lügner sind (V. 11). Gemeint sind nicht einzelne Taten, sondern das Wesen des Menschen.

Der sechste Beitrag knüpft an die „Gnadenformel“ in Ps 116,5 an, die sich auch im alphabet-akrostichischen Doppelpsalm 111–112 findet (111,4; 112,4). Die Danklieder Ps 116 und 118 sind miteinander verbunden und verzahnen die Gründungsereignisse am Schilfmeer (Rettung, Ps 118) und am Sinai (Gnadenaussage, Ps 116). Das in Ps 116,5 der Gnadenformel hinzugefügte Attribut „gerecht“ (so auch in Ps 111,4) verbindet sich mit den menschlichen Charakterisierungen in Ps 118,15.20. Dem Hallel vorangestellt sind die Gnadenaussagen in Ps 111,4 und 112,4. Die mehrdeutige Formulierung von Ps 112,4 transformiert wahrscheinlich die Gnadenformel als anthropologische Spitzenaussage auf die „geradlinigen“ Menschen. Die Gnadenformel profiliert für die Psalmengruppe 111–118 insgesamt den Aspekt der Gerechtigkeit. Ps 111–118 wird als „redaktionsgeschichtlich gewachsene Einheit“ eingestuft, wobei Ps 113–118 durch Ps 111–112 erweitert wurde.

Im siebten Aufsatz wird mit Ps 111–112 das Vorfeld von Ps 113–118 und mit Ps 119 dessen Nachfeld in den Blick genommen. Den das Hallel rahmenden Psalmen sind eine weisheitliche Grundierung und die alphabet-akrostichische Poesie gemeinsam. Der in Ps 111–112 skizzierte Gottesfürchtige lebt in Übereinstimmung mit der Tora und erfährt Lebensfülle, wogegen in Ps 119 der Beter in unterschiedlichen Lebenssituationen als Bedürftiger und auf die Tora Angewiesener zu Wort kommt. 

Der letzte und umfangreichste Beitrag bietet eine Synthese, die „literarhistorische Komposition“ des ägyptischen Hallels nachzeichnend. Nach Hinweisen zu dessen Gestalt in Qumran und der Septuaginta werden redaktionskritische Thesen erörtert. Gemäß der Vfn. bilden Ps 113–115 den Kern des Hallels. Dieser wird in einer ersten Fortschreibung um die Psalmen 117 und 118 ergänzt. Mit dem eingeschobenen Reflexionstext Ps 116 wird die Gruppe Ps 113–118 dann abgeschlossen und zudem mit Ps 111–112 verbunden. Das Hallel entfaltet die Frage von Ps 113,5: „Wer ist wie Jhwh, unser Gott?“ Die Antwort „Niemand“ ist nach dem Durchgang durch die Psalmen evident.Der Umstand, dass der Band nicht in einem Wurf entstanden ist, sondern frühere Studien aufnimmt und mit neuen verbindet, bringt – fast unvermeidlich – Wiederholungen mit sich. Die von der Vfn. vorgelegten Untersuchungen sind materialreich, gut durchdacht und theologisch fruchtbar. Ausleger, die sich intensiv mit Ps 113–118 beschäftigen, werden an diesem Buch nicht vorbeikommen. Auf die eingangs gestellten Grundfragen zurückkommend, dies: Es kommt hier eine Psalterexegese, also ein kompositioneller Ansatz, zum Tragen. Dabei wird der synchrone Textverlauf umsichtig mit diachronen Überlegungen (die bekanntermaßen hypothetisch sind) verbunden. Obwohl Vfn. die liturgische Verwendung des Hallels kennt, ist ihre Profilierung der Psalmengruppe literarisch bestimmt. Wenn jedoch eine Psalmengruppe eine liturgische Erfassung verdiente, dann vor allen anderen das ägypt. Hallel. Mit Blick auf eine solche Akzentuierung ist der zeitähnlich erschienene Beitrag von Susan Gillingham zu empfehlen („The Egyptian Hallel“, in: The Formation of the Hebrew Psalter, FAT 151, 2021, 347–366).


Beat Weber, Pfr. Dr. theol., Basel; Research Associate am Department of Ancient and Modern Languages and Cultures, Universität Pretoria, Südafrika