Neues Testament

Manuel Nägele: Paulus und der Nous. Eine Untersuchung zur paulinischen Anthropologie vor dem Hintergrund hellenistisch-jüdischer und griechisch-römischer Konzeptionen

Manuel Nägele: Paulus und der Nous. Eine Untersuchung zur paulinischen Anthropologie vor dem Hintergrund hellenistisch-jüdischer und griechisch-römischer Konzeptionen, WUNT II/586, Tübingen: Mohr Siebeck, 2023, geb., 753 S., € 139,−, ISBN 978-3-16-161955-7 [auch als e-Book pdf Open Access: CC BY-NC-ND 4.0]


Manuel Nägele (geb. 1991) ist seit 2020 Assistent am Lehrstuhl für Neutestamentliche Wissenschaft mit den Schwerpunkten Antikes Judentum und Hermeneutik an der Universität Zürich und arbeitet an seiner Habilitation (zu den Wundern im lukanischen Doppelwerk, s. https://orcid.org/0000-0002-5686-1358). Mit dem zu besprechenden Buch hat er seine 2022 in Zürich vorgelegte Dissertation veröffentlicht. Sein Doktorvater J. Frey ermöglichte im Okt. 2019 eine interdisziplinäre Fachkonferenz zum Projekt (s. WUNT 464, 2021), was sicher zur überaus gelungenen Arbeit des Vf. beitrug.

Wie im Untertitel erkennbar, teilt sich seine Arbeit nach einer Hinführung (Kap. A mit Forschungsgeschichte, methodischen Vorüberlegungen und einer Skizze zur Etymologie und erste semantische Beobachtungen zur frühen Verwendung von νοῦς, 3–42) in drei Hauptteile: Kap. B untersucht das Lexem in der hellenistisch-jüdischen Literatur, d. h. der Septuaginta (45–142), bei Philo (143–221) und Josephus (222–252). Kap. C widmet sich entsprechend der griechisch-römischen Literatur, d. h. Epiktet (260–287) und Plutarch (288–360) als zeitlich Paulus nahestehende Repräsentanten je der stoischen bzw. des (mittel-)platonischen philosophischen Hauptströmungen. Und nach einem Zwischenfazit ergibt die Auswertung der geistesgeschichtlichen Umwelt des Gebrauchs von Nous (Kap. D, 361–386) ein kognitives Schema für das νοῦς-Frame mit drei Wahrscheinlichkeitsstufen/-ebenen für die Konnotationen der anthropologischen Bedeutung des Lexems (378; dieselbe Tabelle 613): Zur 1. Stufe gehören die (wahrscheinlichsten) Konnotationen „Innenansicht“, „kognitiv-voluntative Aktivität“, „psychisches Zentrum“, „Kern des Selbst“, „Relation zu Gott“ und „positivstes Element“ (im Menschen). Zur 2. Stufe die (weniger wahrscheinlichen) Konnotationen „dezidiert rational“ und „göttliches Element im Menschen“ und zur 3. Stufe (am unwahrscheinlichsten) „kommunikative Zuständigkeit“ und „Produkt der Instanz: Gedanke, Absicht, Plan, …“.

Im Hauptkapitel E zum Nous bei Paulus (387–612) prüft N. nun in den sieben unangefochten echten Paulusbriefen, welche der drei Stufen des νοῦς-Frames mit welchen Konnotationen bei den Stellen mit dem Begriff νοῦς im Vordergrund stehen. Es gibt vierzehn νοῦς-Belege in drei Briefen, nämlich Phil 4,7 (391–411), 1Kor 1,10; 2,16a+b; 14,14.15.19 (412–508) und Röm 1,28; 7,23.25; 11,34; 12,2; 14,5 (509–609; wobei 11,34 im Abschnitt zum 1Kor (447–454), weil wie in 1Kor 2,16 JesLXX 40,13 zitiert wird) und für jede Stelle wird ausführlich herausgearbeitet und sorgfältig erwogen, welche Bedeutungsanteile von νοῦς am stärksten aktiviert sind.

Das Buch schließt mit einem Gesamtfazit mit Ergebnissicherung und Auswertung und Ausblick (Kap. F, 613–654). Ein ausführliches Literaturverzeichnis (657–700) zeugt von der Fülle verarbeiteter Werke. Wie in der Reihe üblich folgen ausführliche Stellen-, Personen- und Sachregister. Das umfangreiche Werk ist sehr gut lektoriert und enthält nur ganz wenige Schönheits- (z. B. 75f; 135–141; 350f; 440f; 488f passt die Zuordnung einiger Fussnoten nicht zu den Seiten) oder sachliche Fehler (8 Anm. 37 fehlt die biografische Angabe zu Th. Simon; 361 „zu verstellen drohen“; 484 Anm. 497 „understanding“).

Die methodischen Überlegungen zum Aufbau und Vorgehen sind ausführlich reflektiert und überzeugen. Auffallend ist der außerordentliche Fleiß und breite Kenntnisse der besprochenen außerbiblischen Texte und der dazu gehörenden Fachliteratur. Besonders erwähnenswert ist auch die Sensibilität N.s für Fragen der Sprache (zur Frame-Semantik und dem Konzept eines kognitiven Schemas für ein Lexem orientiert sich Nägele an Finnern/Rüggemeier (Methoden der neutestamentlichen Exegese, 2016) und seine nüchternen, ausgewogenen, ausgereiften Urteile in exegetischen Fragen. Als Beispiel möchte ich seine Argumentation für eine recht einheitliche und Verwendung des Ausdrucks der 6 Römerbriefstellen nennen. Eindrücklich weist er auf einen verbindenden roten (semantischen) Faden der νοῦς-Stellen von 1,28 bis 14,5 hin. Und er schlägt für die komplexe Kommunikationssituation von Röm 7 (Perspektive und Verständnis von „Gesetz“) überzeugende Lösungen vor, die zukünftige Auslegungen beachten sollten.

Was sind die Ergebnisse? Eine Matrixtabelle mit den insgesamt 10 Teilkonnotationen des νοῦς-Frame hält die Erkenntnisse zu den 14 Belegstellen differenziert (mit 4 Kategorien + 3 weiteren Präzisierungen) fest. Paulus verwendet den Ausdruck für eine im Menschen liegende Instanz (nicht das Produkt = Gedanken, Pläne etc.; gegen Schlatters Sicht aufgrund von Josephus (s. 223, 249, 373, 598f, 644)). Diese ist kognitiv-voluntativ (in dieser Reihenfolge) aktiv und in diesem psychischen (Schalt)Zentrum oder Kern des Selbst spielen sich (rationales) Denken, Wollen und Entscheide/Steuerung zum Handeln ab. Dabei handelt es sich einerseits um das positivste aber kein göttliches Element im Menschen, da auch der menschliche νοῦς durch die Sünde betroffen, korrumpiert und getäuscht wird. Das gilt sogar für den durch Gottes Geist neugemachten νοῦς des Christen, auch wenn dieser für die Beziehung zu Gott das entscheidende Verbindungs“organ“ ist. Damit grenzt sich der Apostel deutlich gegen die Hochschätzung des νοῦς in seiner Umwelt ab. Gleichzeitig zeigt sich, dass wohl aufgrund des AT/LXX νοῦς und καρδία bei Paulus semantisch sehr nah beieinander liegen und oft austauschbar sind, καρδία allerdings ein breiteres Spektrum (inkl. emotionales Vermögen) abdeckt.

Zwei Anregungen hat der Rezensent: Eine wünschenswerte Erweiterung der Untersuchung wäre im Blick auf Paulus der Einbezug der weiteren Stellen der paulinischen Briefe, nämlich Eph 4,17 (wandeln in der Eitelkeit ihres nous, [deren dianoia verfinstert ist…]).23 (durch den Geist in eurem nous erneuert werdet); Kol 2,18 (von seinem fleischlichen nous); 2Thess 2,2 (vom (nüchternen) nous abbringen); 1Tim 6,5 (Der nous dieser Menschen ist durch und durch verdorben); 2Tim 3,8 (Menschen, deren nous durch und durch verdorben ist); Tit 1,15 (sowohl in ihrem nous als auch in ihrem syneidesis durch Sünde beschmutzt), sowie der mit νοῦς stammverwandten Wörter. – Und für Röm 12,2 (591f) ist exegetisch m. E. zu beachten, dass Röm 12,1–2 nicht Überschrift, sondern Scharnierverse (= stärkere Verzahnung mit Röm 6–8) sind, und die paulinische Wortneuschöpfung „Erneuerung“ ἀνακαίνωσις in Kombination mit dem Lexem νοῦς framesemantisch zur atl. Voraussage eines neuen Bundes führt (mit der Gabe des göttlichen Gesetzes (Jer 31,33) bzw. eines neuen Herzens (Hes 36,26a: לֵב חָדָשׁ; LXX καρδίαν καινήν) und neuen (bzw. Gottes, Hes 36,27: אֶת־רוּחִי; LXX τὸ πνεῦμά μου) Geistes (Hes 36,26a רוּחַ חֲדָשָׁה; LXX πνεῦμα καινόν) ins Innere (Jer 31,33 בְּקִרְבָּם LXX εἰς τὴν διάνοιαν αὐτῶν; Hes 36,26a.27 בְּקִרְבְּכֶם; LXX ἐν ὑμῖν) des Menschen bzw. das Schreiben Gesetzes auf die Herzen (Jer 31,33: עַל־לִבָּם LXX ἐπὶ καρδίας αὐτῶν; s. Röm 5,5), mit der Folge: „und ich werde machen, dass ihr in meinen Ordnungen lebt und meine Rechtsbestimmungen bewahrt und tut.“). Das bedeutet dann auch: Der „große Verstehensrahmen“ für Röm 12,2 und wohl auch 12,1 ist in erster Linie das Alte Testament und konkret das Neue des Neuen Bundes. Die initiale, geistgewirkte Neuschaffung des Christen wurde in Röm 6–8 beschrieben, hier in 12,2 geht es um die „tägliche“ Erneuerung des Nous = des „inneren Menschen“ (2Kor 4,16) = der „neue Mensch“ wird erneuert (Kol 3,10; Eph 4,23) = der Wiedergeborene wird durch den heiligen Geist erneuert (Tit 3,5). Das Lexem νοῦς ist auch hier eng mit dem atl. לֵב, LXX καρδία, verbunden und „neuralgische[r] anthropologischer Ort der Relation des Menschen zu Gott“ (530–532).

Diese Anregungen schmälern keineswegs den Wert der Arbeit oder ändern etwas an den Ergebnissen des Autors zum Verständnis des Nous bei Paulus. Im Gegenteil: Sie sollen jeden Theologen, der sich mit den anthropologischen Begriffen der Bibel oder den besprochenen Stellen in den Paulusbriefen beschäftigt, motivieren, dieses Buch zu lesen und zu lernen. Dank des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung kann für einmal auch der unfassbar hohe Preis der Bde. der WUNT-Reihe davon nicht abschrecken, denn das Buch steht jedermann unentgeltlich (Open Access: CC BY-NC-ND 4.0) online zur Verfügung!


Dr. Jürg Buchegger-Müller, Pfarrer der Freien vangelischen Gemeinde Wetzikon, Schweiz