Historische Theologie

Frank Lüdke / Norbert Schmidt (Hg.): Kopf und Herz vereint zusammen. Grundlinien pietistischer Hochschulbildung

Frank Lüdke / Norbert Schmidt (Hg.): Kopf und Herz vereint zusammen. Grundlinien pietistischer Hochschulbildung, Pietas et Scientia, 2, Darmstadt: WGB Academic / Herder, 2023, geb., 195 S., € 38,–, ISBN 978-3-534-40743-9


„Pietas et Scientia“, Frömmigkeit und Wissenschaft sollen in der neuen Reihe der Evangelischen Hochschule Tabor miteinander ins Gespräch gebracht werden. Pietas et Scientia kann somit als inhaltlich näher bestimmte Fortsetzung der „Schriften der Evangelischen Hochschule Tabor (SEHT)“ (Münster: Lit Verlag) gelten. Im Rahmen von SEHT erschienen von 2010 bis 2020 zehn Sammelbände und Monographien.

Auch in den Veröffentlichungstypen – Monographien und Konferenzschriften – bleibt die neue Schriftenreihe der alten treu: Als Band 1 von „Pietas et Scientia“ erschien eine Dissertation von Eduard Ferderer über den Eisenacher Bund und sein Verhältnis zur Gemeinschaftsbewegung (2022). Der vorliegende zweite Band ist ein Sammelband, in dem die Referate des 7. Neupietismus-Symposiums der EH Tabor vom Januar 2021 veröffentlicht werden. Der Titel „Kopf und Herz vereint zusammen“ spielt auf Graf Nikolaus von Zinzendorfs Lied „Herz und Herz vereint zusammen“ an. Wegen der Corona-Reisebeschränkungen fand die Konferenz ausschließlich online statt (8). Das Ergebnis der acht Vorträge (14–133) wird abschließend von Herausgeber Frank Lüdke zusammengefasst (134–138). Vier weitere Beiträge, die mit dem Thema zu tun haben, sind dem Sammelband beigegeben (139–193).

Frank Lüdke bietet in seinem ersten Beitrag (14–18) einen Überblick über das Thema „Kopf und Herz“ im Pietismus. Lüdke lokalisiert stärkere „pietistische“ Bemühungen um die Einheit von wissenschaftlicher Arbeit und Frömmigkeit in der Kernzeit des klassischen Pietismus im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert. Nach 300 Jahren komme es seit dem 20. Jh. zu einer neuen Blüte, aber weitgehend in vereinsmäßig organisierten Zusatzangeboten zur Universitätsausbildung und in den letzten zwanzig Jahren an Hochschulen in privater Trägerschaft.

Die drei nächsten Vorträge vertiefen das Thema am Beispiel der Theologen Philipp Jakob Spener (19–36) und Adolf Schlatter (52–71) sowie des Philosophen Christian Wolff (37–51). Ulrike Treusch stellt Speners Vorschläge zur Reform des Theologiestudiums als Teil der Kirchenreform vor. Eruditio und pietas gehörten im Studium und bei der Übernahme eines kirchlichen Amtes zusammen. In Predigerseminaren, akademischen Collegia Pietatis sowie in der Umsetzung von Reformvorschläge an der Universität Halle sei es gelungen, die pietistische Bildungsvorstellung zu verwirklichen. Speners Ratschläge enthielten Ansatzpunkte für die heutige Frömmigkeit und Ausbildung (33–35).

Norbert Schmidt referiert über die „Causa Wolffiana“, also über die Aufnahme des aufgeklärten und 1723 von der pietistischen Universität Halle vertriebenen Universalprofessors Christian Wolff in Marburg. Auch diese Vertreibung habe mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Frömmigkeit zu tun, meinten doch die Hallenser Pietisten, durch Wolffs rationalistische Neubegründung der christlichen Lehre würde der „Atheisterey“ Vorschub geleistet (41f). So zeige die Causa Wolffiana exemplarisch, wie pietistisch betriebene Wissenschaft an einer öffentlichen Universität in Turbulenzen kommen kann, die – damals vom Standpunkt eines spinozistisch begründeten Determinismus aus – ihr auf Dauer den Platz an der Universität streitig machen würden.

Adolf Schlatters von Pietisten seiner Zeit dankbar aufgenommene Theologie wird von Thorsten Dietz in seinem Aufsatz zur „Offenbarung Gottes in der Geschichte“ als Beispiel für die Wasserscheide in der neueren pietistischen und evangelikalen Theologie vorgestellt (53). Schlatter kritisiere den atheistischen Wissenschaftsbegriff der Epoche und stelle diesem – so Dietz – eine „Theologie der Wahrnehmung“ entgegen. Offenheit für die geschichtliche Erkenntnis, auch Gotteserkenntnis, stehe im Zentrum der Rezeption von Schlatters Lebenswerk, das Frömmigkeit und Wissenschaft verbindet und bis heute „Erbe und Ansporn“ (70) sein könne.

Erfrischend unabhängig von innnerevangelikalen Meinungsverschiedenheiten in Deutschland geht die Sammlung mit dem englischsprachigen Beitrag von Christopher Gehrz über pietistisch orientierte Christian Higher Education innerhalb des Council for Christian Colleges and Universities in den USA weiter (72–79, Lit.: 35, Anm 58). Die pietistisch geprägten Hochschulen wie Bethel University in St. Paul seien im allgemein-evangelikalen Kontext der anderen Institute durch ihren Fokus auf Frömmigkeit, christuszentrierte Gemeinschaft (ecclesiola) und ihre überkonfessionelle und auch auf die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bezogene Irenik ausgezeichnet. Mit dieser Zielsetzung bezieht sich Gehrz auf Speners Reformvorschläge, die in der überbordenden theologischen Disputationswut des ausgehenden 17. Jahrhunderts Friedfertigkeit anmahnten.

Die drei letzten Beiträge des Neupietismus-Symposiums sind praktisch-theologisch ausgerichtet. Johannes Zimmermann entwickelt ein Modell pietistischer Hochschulbildung, das nach Speners Vorbild die „Frommen“ fördern und fachliche Ausbildung mit persönlicher und geistlicher Förderung verbinden soll (94). – „Für Frömmigkeit und Wissenschaft“ (pietati et scientiae) lautet das Motto der katholischen Philosophisch-Theologischen Hochschule in Frankfurt am Main. Der Jesuit Bernhard Knorn erläutert, wie diese beiden Begriffe im Zusammenhang der Ausbildung in der Verbindung von akademischem Studium und Ausrichtung des Lebens auf Gott zugeordnet werden. Dies geschehe in der Rückbindung an die weltweite katholische Kirche; sie werde ergänzt von einer Weltfrömmigkeit, welche „die Aufmerksamkeit auf benachteiligte Menschen, kulturelle Prägungen und andere Religionen lenkt“ (95–108, Zit. 103). – Heinzpeter Hempelmann weist in seinem Aufsatz nach, dass auf Seiten der Wissenschaft als auch der Frömmigkeit in der Neuzeit erhebliche Kritik am jeweiligen Gegenüber besteht. Er plädiert dagegen für eine komplementäre Ergänzung von pietas und scientia (109–133).

Im Anschluss an die acht Vorträge des Symposiums und Frank Lüdkes Zusammenfassung der Ergebnisse wurden vier weitere Themen aufgenommen. Lüdke macht auch hier den Auftakt, indem er die pietistische Hochschulbildung an der Evangelischen Hochschule Tabor vorstellt, deren Grundsätze scientia, pietas, communio und caritas auch in die Gestaltung des Hochschul-Siegels eingegangen sind (139–143). – Eduard Ferderer behandelt die Vernetzung von eher wissenschaftskritischen Gemeinschaftskreisen auf den Gnadauer und Blankenburger Konferenzen sowie eher universitätsorientierten, dem Pietismus nicht abgeneigten Theologen des Eisenacher Bundes auf ihren jeweiligen Konferenzen. Als Ergebnis hält er fest, dass ein Bedürfnis nach Verständigung zwar vorhanden war, Mitglieder des Eisenacher Bundes aber auf den Gnadauer und Blankenburger Konferenzen nicht als zentrale Akteure in Erscheinung traten (144–161). – Zwei Aufsätze des methodistischen Kirchengeschichtlers Karl Hein Voigt stehen am Ende des Sammelbandes: In der Diskussion mit Werner Schmückle (SEHT 9) plädiert Voigt für eine stärkere Gewichtung des angelsächsisch-methodistischen Einflusses auf die Evangelisationspraxis (162–189). In einer beigegebenen Miszelle klärt Voigt die Herkunft des Begriffs „Bekehrungsmethodismus (190–193).

Der Sammelband präsentiert dankenswerterweise Aspekte des Verhältnisses von Frömmigkeit und Wissenschaft im Kontext pietistischer Ausbildung, die besonders im 19. und 20. Jahrhundert kaum erarbeitet worden sind. Allerdings wäre es interessant gewesen, zumindest in einem Impulsreferat geschichtlich noch weiter zurückzufragen als bis zu den Reformbemühungen der altprotestantischen Orthodoxie (vgl. 81). Der Beitrag des Jesuiten Bernhard Knorn ist in dieser Hinsicht ein positives Beispiel: Der Unterricht an den im Mittelalter entstehenden Universitäten wurde von Gelehrten der Ordensgemeinschaften getragen. Sie verbanden auf natürliche Weise geistliches Leben: Stundengebet und tägliche Gottesdienste mit gemeinsamem Leben und dem Unterricht. Auch die Kirchenväter strukturieren ihren Alltag als Geistliche, Bischöfe und Lehrer der Kirche wie selbstverständlich durch Gebete und Gottesdienste. So steht das heutige „pietistische“ Bemühen um Pietas et Scientia in einer langen christlichen Bildungstradition, die in Priesterseminaren und Ordensschulen weltweit bis heute ganz selbstverständlich gepflegt wird. – Über diesen ermutigenden historischen Hintergrund sollte der Leser mehr erfahren!


Pfarrer Dr. Jochen Eber, Schriesheim