Eleanor Dickey: Latein lernen wie in der Antike
Eleanor Dickey: Latein lernen wie in der Antike. Latein-Lehrbücher aus der Antike. Aus dem Englischen übersetzt von Marion Schneider, Basel: Schwabe Verlag, 2022, Hardcover/geb., 217 S., € 22,–, ISBN 978-3-7965-4088-2
„Sprachschüler, die Latein als Fremdsprache lernten, gab es auch in der Antike und deren Erfahrungen sind in mancher Hinsicht den unseren sehr ähnlich“ (15). Mit dieser Feststellung beginnt die Autorin Eleanor Dickey, Professorin für Klassische Philologie an der University of Reading (Großbritannien), ihre Einführung in „Latein lernen wie in der Antike“, erstmals 2016 erschienen unter dem Titel „Learning Latin the Ancient Way“. Die hier vorliegende deutsche Übertragung der Latinistin Marion Schneider ermöglicht nun einem breiteren deutschsprachigen Leserpublikum den Zugang zu Dickeys Buch, wobei die deutsche Ausgabe mehr ist als eine bloße Übersetzung: Marion Schneider tauscht Beispiele der Autorin, wie z. B. das Weihnachtslied „Jingle Bells“, gegen vergleichbare deutsche Texte („Leise rieselt der Schnee“) aus und ergänzt die englische Forschungsliteratur um aktuelle deutschsprachige wissenschaftliche Studien, um eine „möglichst niedrigschwellige Verwendung im deutschsprachigen Unterricht“ (5) zu ermöglichen. Diese aufwendige Adaption für eine deutschsprachige Leserschaft ist gelungen und unterstützt damit das Ziel, das das Buch verfolgt.
Denn die Autorin lädt dazu ein, antike Schulbuchtexte im modernen Lateinunterricht zu verwenden. Sie hat damit zuerst die Praxis von Lateinlehrenden und Lateinschülern heute im Blick. Zugleich spricht ihr Buch aber auch den historisch-philologisch Interessierten an, dem sie in Anmerkungen, mit der Bibliographie (214–217) sowie einer detaillierten Übersicht über die von ihr verwendeten antiken Originaldokumente samt Nennung der wissenschaftlichen Edition im Anhang (208–213) einen vertieften Zugang zum Thema bietet.
In der Einleitung (Kap. 1; 15–25) führt Dickey zunächst in die spannende Frage ein, wer in der Antike wie, warum, zu welchem Zweck und mit welchen Lehrbüchern Latein lernte, bevor sie in acht Kapiteln (2.–9.; 26–207) die lateinischen Lernmaterialien nach Gattungen, wie z. B. Dialoge, Grammatiken, Glossare, mit ausführlichen Textbeispielen vorstellt. Gerade diese Textbeispiele sind so aufbereitet, dass sie direkt in den heutigen Lateinunterricht übernommen werden können, freilich, wie die Autorin selbst mehrfach anmerkt, unter Umsetzung in aktuelle Unterrichtsdidaktik. Denn der Lateinunterricht in der Antike bestand in weitem Maße im Auswendiglernen von Texten.
Anhand von Latein-Lernmaterialien vom 2. Jh. v. Chr. bis zum 6. Jh. n. Chr. zeigt die Autorin, dass Latein als Zweitsprache vor allem im griechischsprachigen Osten des Römischen Reichs gelernt wurde, und zwar sowohl von Kindern als auch als „nutzenorientiertes Unterfangen“ (17) von jungen Erwachsenen, die in der Interaktion im römischen Militär, für den Handel, für Reisen oder für das Praktizieren des römischen Rechts zumindest Grundkenntnisse des Lateinischen benötigten. Entsprechend wurde Latein auch in Kasernen und Rechtsschulen gelernt, hier mit Hilfe von zweisprachigen, griechisch-lateinischen Texten. Erst auf höherer Lernstufe bestand auch die Notwendigkeit von Wörterbüchern, einsprachigen Glossaren oder Grammatiken, wobei manche Lateinlerner ganz auf das Schreiben und Lesen lateinischer Texte verzichteten und mit Hilfe von transliterierten Texten ausschließlich die mündliche Sprachfähigkeit einübten. Die unmittelbare Verwendbarkeit und der Praxisbezug sind charakteristisch für die von Dickey zusammengetragenen und analysierten antiken Lerntexte. Ebenso praxisnah sind die antiken Beispieltexte für Lateinunterricht heute aufbereitet: „Ziel ist es, […] die Rekonstruktion der antiken Erfahrung des Lateinlernens zu ermöglichen, indem die antiken Materialien in einem Format zur Verfügung gestellt werden, das es modernen SchülerInnen erlaubt, damit wie die antiken Schüler umzugehen“ (23).
Nach Textgattungen sortiert und mit einer Kurzeinführung bietet Dickey in neun Kapiteln zahlreiche lateinisch-deutsche, nur lateinische und auch griechisch-lateinische Textbeispiele, die auch Lateinlernende heute ansprechen können, einen Einblick in das antike Leben und das ‚Alltagslatein‘ geben und durchaus humorvoll sind. Exemplarisch sei die Gattung der Kolloquien angeführt, „zweisprachige Dialoge und Erzählungen, die für die Verwendung in einem frühen Stadium des Spracherwerbs bestimmt waren“ (26). Hier geht es um alltagsnahe Szenen und das Lernen von Vokabeln dafür, z. B. wenn ein Schüler morgens aufsteht, sich anzieht und sich – so der lateinische Text – gleich drei Kleidungsstücke überwirft, einen Mantel, ein Übergewand und einen Umhang (palla, alba, paenula), „von denen im echten Leben kein einziges unter dem anderen getragen werden könnte“ (29), oder wenn ein Gast bei einer Abendgesellschaft sämtliche Lebensmittel von Bohnen über Fischsauce bis zu Trüffeln zu speisen wünscht. Solche Texte, darunter auch Abschnitte im Stil eines Sprachführers zum Thema „Beleidigungen“ (74–77), „Ausreden“ (76–77) und „Beschwerden“ (77–78), sind nicht nur vergnüglich zu lesen, sondern auch für den Lateinunterricht verwendbar. Andere Gattungen, wie z. B. Grammatiken, Glossare und lateinische Stilübungen sprechen eher den wissenschaftlich interessierten Leser an, während die griechisch-lateinischen Texte ohne deutsche Übersetzung, z. B. aus den Fabeln Aesops (163–165), vielleicht auch für beide Sprachen lernende Theologiestudierende interessant sein könnten.
Die Beispieltexte spiegeln die unterschiedlichen Lernniveaus und -situationen von antiken Lateinlernern wider. Die Einführungen dazu sind durchweg leicht verständlich und zeigen zugleich in den Anmerkungen die profunde Gelehrsamkeit der Autorin, die zum Thema Lateinerwerb in der Antike bereits zahlreiche Arbeiten publiziert hat. Insofern ist es schade, dass sich die Diskussion über die deutsche Ausgabe „Latein lernen in der Antike“ auf einer großen Online-Plattform fast ausschließlich auf die Verwendung des großen -i- („LateinlehrerInnen“) der Übersetzerin konzentriert. Das wird dem Buch nicht gerecht, das mit den Worten eines antiken Lehrers gewürdigt werden darf: „Bene fecisti; modo te laudo“ (41) – gut gemacht!
Dr. Ulrike Treusch, Professorin für Historische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule Gießen