Historische Theologie

Eduard Ferderer: Bedürfnis nach Verständigung

Eduard Ferderer: Bedürfnis nach Verständigung. Die Vermittlungsbemühungen des Eisenacher Bundes zwischen Kirche und Gemeinschaftsbewegung, Pietas et Scientia 1, Darmstadt: WBG Academic; Freiburg: Herder, 2022, geb., 311 S., € 48,–, ISBN 978-3-534-40647-0


Der Eisenacher Bund und die Gnadauer Gemeinschaftsbewegung: Der Versuch, zwischen konservativen Theologieprofessoren und dem frühen deutschen Gemeinschaftspietismus zu vermitteln, zeigt in nuce Fragestellungen und Probleme, die noch heute für die beiden Gruppen in ihrem Verhältnis zueinander bewegen.

Der Tabor-Absolvent und Gemeinschaftspastor Eduard Ferderer, heute Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Kirchengeschichte an der Internationalen Hochschule Liebenzell, hat mit der vorliegenden Osnabrücker Dissertation einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der Beziehung zwischen Universitätstheologie und Gemeinschaftsfrömmigkeit geleistet.

In der Einleitung (Teil 1, 11–22) klärt Ferderer den Stand der Forschung, Zielsetzung, Methodik und Quellen des darzustellenden Bereichs evangelischer Frömmigkeitsgeschichte. Besonders auf Konferenzen und in Zeitschriften spiegeln sich die Themen, die Gnadauer Gemeinschaftskreise in der Phase zunehmender Entfremdung von den Landeskirchen am Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigten. Als historischen Kontext (Teil 2, 23–32) benennt Ferderer die wachsende Säkularisierung und die Kirchenaustrittsbewegung dieser Zeit. Beidem konnten die Landeskirchen mit der evangelistischen Arbeit der Inneren Mission und der sozialmissionarischen Arbeit der Diakonie keinen Einhalt gebieten. Freikirchen hatten zwar wachsenden Zulauf, waren aber dennoch gesellschaftlich eher unbedeutend.

Die Entfremdung zwischen der Gnadauer Gemeinschaftsbewegung und den Landeskirchen in den Jahren 1890 bis 1900 (Teil 3, 33–87) wurde von der Evangelischen Allianz, von der Evangelisations- und der Heiligungsbewegung beeinflusst. Ferderer zeichnet die vielfältigen personellen Verbindungen zwischen den verschiedenen Kreisen nach; er nimmt aber auch die Unterschiede ernst, die sich besonders in der Ekklesiologie, in der Zuordnung von Rechtfertigung und Heiligung sowie in der vom englischsprachigen Raum geprägten Frömmigkeitsliteratur und Hymnologie zeigen. Treibende Kraft der zunehmenden Kirchenferne war der Blankenburger Flügel der Evangelischen Allianz (85 u. ö.).

Die Vermittlungsversuche der Eisenacher Konferenzen von 1902 bis 1904 zwischen Landeskirchen, positiven Theologen und den Gnadauer Gemeinschaftskreisen sind Inhalt des Hauptteils von Ferderers Dissertation (Teil 4, 89–181). Als Initiatoren sind besonders Johannes Lepsius und Samuel Keller zu nennen. Während das Andenken von Lepsius gepflegt und erforscht wird, ist die monographische Aufarbeitung von Samuel Kellers Lebenswerk bis heute ein Desiderat. – Im „Wiedergeburtsstreit“ (101–104) zwischen Lepsius und der Gemeinschaftsbewegung wurde diskutiert, ob die Bekehrung eine wesenhafte Änderung des Menschen bewirke (101, Neuauflage einer Diskussion in der vorkonkordistischen Phase des spätreformatorischen Luthertums). Folglich bewegte dieses Thema die fast 400 Teilnehmer der ersten Konferenz in Eisenach vom 26. bis 28. Mai 1902. Adolf Schlatter und Hermann Cremer referierten über das Verständnis von Bekehrung und Heiligung. Aus dem Treffen ergaben sich Annäherungen zwischen Gemeinschaften und den Universitätslehrern. „Pastorale Gemeinschaftskonferenzen“ nahmen die Themen auf (134f). Johannes Lepsius bewegte besonders die „moderne Theologie“ von A. Ritschl und A. von Harnack, vor der er warnen wollte (136). Auch wenn die Mehrheit der Gemeinschaftsleute kein Verständnis für akademische Theologie hatte (142), verteidigten doch Theologen wie Otto Stockmayer und Ernst Modersohn die schliche theologische Arbeit in Gemeinschaftskreisen.

Auf der zweiten Eisenacher Konferenz vom 8. bis 10. Juni 1903 wurde intensiv über das Verhältnis von Rechtfertigung und Heiligung bei Theodor Jellinghaus diskutiert (150–152). Dieser widerrief einige Jahre später (1912) seine „oberflächlichen biblischen Auffassungen“ zentraler theologischer Begriffe (150). Auf die bleibende Verschiedenheit der Lehren von Eisenachern und Gemeinschaftstheologen wies Friedrich Zeller, Schwager von Johannes Lepsius, mit der Aussage hin, dass die Verbalinspirationslehre nicht annehmbar sei (154). – Die dritte Eisenacher Konferenz (25. bis 27. Mai 1904) scheiterte schließlich an der auch schon auf der Gnadauer Gemeinschaftskonferenz (24. bis 26. Mai 1904) umstrittenen Heiligungslehre von Jonathan Paul (157ff). Seine Vorstellung von Heiligungsstufen, Geistempfang und von der Überwindbarkeit der (Erb-)Sünde führte später zur Trennung der pfingstkirchlich orientierten Kreise von Gnadau. Nach der 3. Konferenz gründeten „Eisenacher“ einen Verband (1905: Bund) für innerkirchliche Evangelisation und Gemeinschaftspflege (vgl. 183), weil die Förderung dieses Anliegens durch die Blankenburger „darbystisch“ orientierten Allianzkreise nicht mehr gewährleistet zu sein schien. Ein Vermittlungsversuch Friedrichs von Bodelschwingh d. Ä. scheiterte. Dieser gründete darauf 1905 die positiv ausgerichtete Theologische Schule Bethel (170–173). Die landeskirchlichen Behörden misstrauten weiterhin der Gemeinschaftsbewegung; die unabhängige innerkirchliche Evangelisationsbewegung kam zum Erliegen (173–177).

Im Eisenacher Bund sammelten sich von 1905 bis 1914 die Kräfte, die für innerkirchliche Evangelisation und Gemeinschaftspflege standen (Teil 5, 183–241). Da man Teile der Gemeinschaftsbewegung als Bedrohung der Stabilität der Landeskirchen empfand, wandte sich der „Bund“ nicht nur gegen „moderne Theologie“, sondern auch gegen das „Allianzchristentum“ (188). Das Leitungsgremium des Eisenacher Bundes war überwiegend deckungsgleich mit dem Vorstand der Deutschen Orient-Mission. Der Schwerpunkt der Hauptkonferenzen änderte sich von 1906 bis 1914. Erbaulich-missionarische Veranstaltungen traten in den Hintergrund, die Themenauswahl war deutlich durch akademische Herausforderungen geprägt (197f). 1908 trat der vorwiegend evangelistisch arbeitende Samuel Keller aus (198). Die Treffen hatten zunehmend den Charakter kirchlicher Pastoralkonferenzen (200).

Die in dieser Zeit zunehmend auftretenden pfingstlerisch-enthusiastischen Phänomene führten die Gnadauer Gemeinschaftsbewegung in eine Krise. Durch die Berliner Erklärung von 1909 trennten sich die Pfingstkreise von Gnadau, eine Neuausrichtung des Verbandes, auch in theologischer Hinsicht, wurde möglich (227).

Mit dem Ersten Weltkrieg endete die Arbeit der Eisenacher Konferenz nach sechzehn Tagungen (236). Doch blieben die Bemühungen der „Eisenacher“ nicht wirkungslos (Teil 6, 243–261). Ferderer zählt dazu nicht nur die neue Ausrichtung der Gemeinschaftsbewegung, sondern auch ihre Annäherung an den Eisenacher Bund und Distanzierung von der Blankenburger Allianz (245). 1913 entstand der Pastorengebetsbund (247, später „Pfarrergebetsbruderschaft“). Auch die Gründung des Bethelkreises und der späteren Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ sind in diesem Umfeld erklärbar. Nicht zuletzt können theologische Strömungen der heutigen Gnadauer Ausbildungsstätten als Fortsetzung der universitären positiven und der sog. Bibeltheologen verstanden werden (260f).

Im Fazit (Teil 7, 263–270) fasst der Autor zusammen, weshalb die Eisenacher Konferenzen mit ihrem Anliegen innerkirchlicher Evangelisation scheitern mussten. Immer wieder weist Ferderer darauf hin, dass es zu wichtigen Strömungen und Ereignissen wie den Gnadauer und den Blankenburger Konferenzen keine wissenschaftliche Sekundärliteratur gibt. Das kann man ebenso feststellen, wenn man Veröffentlichungen zu Leben und Werk führender Persönlichkeiten wie Theodor Jellinghaus, Ernst Modersohn, Anna von Weling, Dora Rappard, Otto Stockmayer, Otto Funke und Theophil Krawielitzki sucht – um nur einige zu nennen. Bemerkenswert ist ebenso, dass es nach dem Ende der Eisenacher Konferenzen heute auch so gut wie kein lutherisches Gemeinschaftschristentum und entsprechendes Schrifttum mehr zu geben scheint.

Das Quellen- und Literaturverzeichnis (Teil 8, 271–285) zeigt, was für eine große Zahl von Zeitschriften, Protokollen und weiteren Veröffentlichungen Ferderer für die Dissertation ausgewertet hat. Als Anhang (Teil 9, 287–311) findet man Originale abgedruckt: Die Einladung zur ersten Eisenacher Konferenz 1902, das Programm und die Satzung des Eisenacher Bundes 1905, die Berliner Erklärung von 1909 ohne Namen der Unterzeichner, eine tabellarische Übersicht zu den Vorträgen der Eisenacher Konferenzen von 1902 bis 1914 und eine tabellarische Aufstellung von Biogrammen zu den wichtigsten genannten Persönlichkeiten, „Personenregister“ genannt (296–311). Ein richtiges Personenregister wäre sinnvoll gewesen.

Die Hochschulschrift von Eduard Ferderer bildet als erster Band der neuen Tabor-Reihe „Pietas et Scientia“ einen würdigen Auftakt für diese neuen Reihe. Die Arbeit zeigt deutlich ein Grundproblem theologischer Gespräche jeder Art und mit Gesprächspartnern unterschiedlicher kirchlicher Herkunft auf: Unnötige Differenzen und Trennungen sind vorprogrammiert, wenn der Kenntnisstand von Theologie und dogmengeschichtlichen Auseinandersetzungen nicht annähernd gleich ist. Und weiter: Natürlich kommen im geistlich lebendigen Teil der Landeskirchen theologische Verständnisfragen auf, die man sich in den abgestorbenen Teilen überkommener Kirchtümer nicht zu stellen pflegt. Doch andererseits ist es unbegreiflich, dass sich die betreffenden aktiven Kreise nicht mehr mit ihrer eigenen Geschichte beschäftigen.


Pfarrer Dr. Jochen Eber, Schriesheim