Johann Arndt: Vier Bücher von wahrem Christentum (1610)
Johann Arndt: Vier Bücher von wahrem Christentum (1610). Buch 4. Kritisch herausgegeben und kommentiert von Johann Anselm Steiger unter Mitwirkung von Ralf Schuster, Sarah Lehmann und Anika Zimmer, Philipp Jakob Spener, Schriften, hg. von Erich Beyreuther (+) u. Dietrich Blaufuß, Sonderreihe Texte – Hilfsmittel – Untersuchungen, Bd. VII.4; Johann-Arndt-Archiv, hg. von Johann Anselm Steiger, Bd. IV.4, Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms, 2023, € 248,–, ISBN 978-3-487-15896-9
Mit dem vorliegenden Band ist die historisch-kritische Ausgabe von Arndts „Vier Bücher von wahrem Christentum“ abgeschlossen. Der in der Rezension zu Bd. 1 (https://rezensionen.afet.de/?p=1224) und Bd. 2 u. 3 (https://rezensionen.afet.de/?p=1719 ) dieser Ausgabe geäußerte Wunsch, diese Edition möge „in absehbarem Zeitraum“ vollendet werden können, ist somit erfreulicherweise in Erfüllung gegangen.
Auch wenn sich die Rezension eigentlich nicht mit dem hier edierten Arndtschen Text selbst befassen muss, mag an dieser Stelle dennoch auf die Sonderfunktion des vierten Buches des WChr hingewiesen und einige inhaltliche Gedanken dargelegt werden. Arndt selbst spricht in der Vorrede von den beiden Büchern, die auf Gott und Christus hinweisen, nämlich den liber scripturae (Heilige Schrift) und den liber naturae (Buch der Natur). Im vierten Buch wird nun die Natur als Zeuge bzw. als „Handleiter“ (11) zu Gott und Christus aufgerufen. Freilich wird damit nicht darauf verzichtet, auf die Bibel als schriftliche Offenbarung Gottes zu verweisen. Wäre das Buch nicht schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstanden, läse es sich vielmehr wie eine naturtheologische Apologetik der biblischen Wahrheiten. Vor allem im ersten Teil von Buch 4 wird in besonderer Weise deutlich, wie sehr sich Arndt mit der paracelsischen Denktradition beschäftigt, also mit Paracelsus und dem italienischen Renaissanceplatoniker Marsilio Ficino (1433–1499). Selbst wer den Text mit seinen Anmerkungen nicht vollständig liest, erkennt dies in dem auf S. 555–565 gebotenen „Gesamtregister der Personen“ aller vier Bände. Erscheinen die Namen dieser beiden Genannten in den Büchern 1 bis 3 nur ganz selten, so werden sie im ersten Teil von Buch 4 geradezu zu Hauptzeugen der Ausführungen Arndts, auch wenn Paracelsus selbst namentlich kaum erwähnt wird. In der Arndtforschung ist dies nicht unbekannt. Doch durch die Edition werden die Anklänge und (teilweise) wörtlichen Zitate leicht greifbar. Teil 1 ist über die dargebotene „theologia naturalis“ hinaus damit ein imposantes Zeugnis für die „wissenschaftliche“ Natur- und Weltlehre damaliger Zeit, indem Arndt offensichtlich seine Lesefrüchte (vornehmlich, aber nicht nur des „vortrefflichen Teutschen Philosophi Paracelsi“ [79]) aus diesen Disziplinen mit dem Ziel zusammenträgt, wie alle Beobachtung der „großen und kleinen Welt“ (S. 9) (Schöpfung als „Makrokosmus“ und Mensch als geistlich analoger „Mikrokosmos“) zu Gott und Christus führen. Als Beispiele sei verwiesen auf das Referat damaliger „wissenschaftlicher Erkenntnis“ über die Größe der Sonne und deren Entfernung zu Erde (75, 77, 102), der stärkeren Wirkung von Heilkräutern auf hohen Bergen, weil sie dem Himmel näher seien (53f), der Entstehung von Wind, Tau, Mineralien (91f) und anderes mehr. Alles wird dann auch geistlich gedeutet. Exemplarisch mag hier Arndts Abhandlung über das Meer dienen, in der er sich auch mit der Schifffahrt beschäftigt, die sich mit Hilfe des magnetischen Kompasses orientieren kann. Dieser „Magnet“ als Wegweiser wird von Arndt auf Christus bezogen: „Also ist vnser Magnet Christus Jesus vnser Herr“ (134). Auf diese Weise ist der „liber naturae“ nicht nur ein „Handleiter“ zu dem weisen Schöpfer, sondern immer auch ein Bild für den Erlöser und verweist auf „Gott und Christus“ (10).
Der zweite Teil des Buches, so weisen die Herausgeber mit Hilfe einer ausführlichen synoptischen Darstellung (Anhang I, 251–420) nach, ist eng an Raimund von Sabundes (1385–1436) Werk „Theologia naturalis“ angelehnt, in dem die Übereinstimmung von Natur und Bibel betont und ein ontologischer Gottesbeweis geführt wird. Dieser Teil, der wie eine „Ausdifferenzierung und Erweiterung des sechsten Kapitels des ersten Hauptteils“ (477) verstanden werden kann, ist „assoziativ, kreisend, Themen variierend und neu aufnehmend“ (Hermann Geyer, Libri Dei. Die Buchmetaphorik von Johann Arndts ‚Vier Büchern von wahrem Christentum‘ als theosophisch-theologisches Programm, in: Hans Otte/ Hans Schneider [Hg.], Frömmigkeit und Theologie. Johann Arndt und die „Vier Bücher vom wahren Christentum“, Göttingen 2007, 132). Damit wirkt der Text häufig sehr redundant. Dass er – weil in zeitlicher Nähe zu Arndts „Psalterpredigten“ entstanden – reichlich (und teilweise wörtlich) diese im ersten Teil von WChr 4 (aber noch häufiger in WChr 2) aufnimmt, wird in einer Tabelle (Anhang IV, 506-509, mit Einführung auf S. 501–506) belegt.
Schaut man sich die vorliegende Edition an, ist ihre Textkonstituierung und -darbietung schon in den bisher vorliegenden Bänden (mit den dazu gehörenden Rezensionen, s. o.) beschrieben worden (vgl. die Hinweise auf S. 451). Auch dieses Mal fällt bei der Lektüre auf, mit welch großer Sorgfalt die Varianten der verwendeten Auflage dokumentiert sind. Im historischen Kommentar sind vor allem die Worterklärungen nicht immer konsistent vorgenommen worden. Dass Begriffe erklärt werden, die für Leser, die an die Sprache des 17. Jahrhunderts nicht gewohnt sind, regelmäßig und meist mit einem Verweis auf das „Grimmsche Wörterbuch“ erklärt werden, ist hilfreich. Dabei geschieht es aber gelegentlich, dass leichtverständliche Wortvarianten eine Anmerkung erhalten (z. B. „sonderes“ für „besonderes“ u. ä. [137, 153 u. ö.]; „empfahen“ für „empfangen“ [42, 96]; unerläutert bleibt dagegen die ähnlich verständliche Form „beschleussen“ für „beschließen“; 75), während andere, die einer Erläuterung eher bedurft hätten, unkommentiert bleiben (z. B. „Dreyeling“, 37, oder „im Mittel“ für „in der Mitte“, 44).
In dem 565 Seiten starken Werk benötigt „Buch 4“ des WChr nur 248 Seiten. Dazu kommen neben den schon genannten Synopsen in Anhang II eine Auflistung der in der Ausgabe verwendeten Drucke (423f), ein Verzeichnis der Emendationen (425–429; dazu s. die Rezension zu Bd. 1), ein ausführliches „Quellen- und Literaturverzeichnis“ zur gesamten Edition (431–449), ein „Editorischer Bericht“ (451f) und ein Nachwort (453–484), das sich mit der Entstehung von Buch IV (453–466), dem „Aufbau und traditionsgeschichtlichen Physiognome“ (467–478) und „Arndts Adaptation von Prätexten aus der ‚Theologia naturalis‘ des Raimund von Sabunde“ beschäftigt. Selbstverständlich finden sich ein Bibelstellen- und Personenregister (487–496) und ein Abkürzungsverzeichnis (497). Schließlich ist auf die zweisprachige Edition eines Briefs von Johann Arndt an Johann Gerhard vom 29.1.1608 zu verweisen, der aus dem Autograph ediert und ins Deutsche übersetzt wurde (513–523). Es handelt sich um ein Begleitschreiben der Sendung des zweiten bis vierten Buches als Manuskript „zum Privatgebrauch“ (513f). Darin spiegeln sich die kritischen Reaktionen auf das erste Buch (514). Arndt reagiert darauf mit der nachdrücklichen Betonung seiner Rechtgläubigkeit (519) und definiert die von ihm anvisierte Zielgruppe als die „Christen, bei denen die Bekehrung ihre täglichen Fortschritte und Stufen machen und haben muss, durch welche […] [das Herz] dem Bräutigam Christus durch den Heiligen Geist und die täglichen Übungen der Frömmigkeit und Buße mehr und mehr geöffnet [wird] und der innere Mensch von Tag zu Tag zur Teilhabe am größeren Licht und an den Gaben des Heiligen Geistes erneuert wird“ (515). Der Skopus eines jeden der vier Bücher wird von ihm skizziert (518). Bemerkenswert ist Arndts Bekenntnis, „besonders im dritten Buch, das durchgehend vom inneren Menschen handelt“ noch nicht alles begriffen zu haben, „besonders die äußerst verborgenen Dinge nicht, die einige Theosophen und Gottesgelehrte vom innersten Rückzugsort der Seele auseinandersetzen“ (522). Ausdrücklich wird in diesem Zusammenhang Johann Tauler erwähnt.
Besonders hervorgehoben sei das Ende des Bandes dargebotene „Gesamtregister“ der Bibelstellen und Personen zu der gesamten Edition des WChr. Damit ist eine schnelle Orientierung vor allem zu Personen und Quellentexten, auf die sich Arndt bezog, möglich.
Dass das WChr eines der meistaufgelegten Erbauungsbücher ist, ist bekannt. Es ist deswegen überaus hilfreich, dass der Text nun wissenschaftlich eingeführt, konstituiert und kommentiert vorliegt. Trotz einer umfangreichen Forschungsliteratur zu Arndt sind noch zahlreiche Fragen der Rezeption offen. Viele der von Arndt verwendeten „Quellen“ sind im Zuge der Arbeit an der Edition entdeckt worden und nun ordentlich dokumentiert. Die Rezeption dieses bedeutsamen Werkes „innerhalb oder außerhalb des rechtgläubigen Luthertums“ (477) gilt es weiterhin zu erforschen. Nicht zuletzt gilt dies für die Bedeutung des WChr in den erwecklichen Bewegungen des Pietismus und der ihm folgenden Frömmigkeitsausprägungen. Dazu vermag die vorliegende Edition einen kräftigen Vorschub leisten.
Klaus vom Orde, Halle (Saale)