Systematische Theologie

Jim Davis / Michael Graham: The Great Dechurching

Jim Davis / Michael Graham: The Great Dechurching. Who’s Leaving, Why Are They Going, and What Will It Take to Bring Them Back? Grand Rapids: Zondervan, 2023, geb., XXIV+242 S., € 30,–, ISBN 978-0-310-14743-5


Jim Davis ist Pastor der Orlando Grace Church und Moderator des Podcasts As in Heaven. Michael Graham ist Direktor des Keller Center of Cultural Apologetics. Ihr Buch und die dahinterliegende Studie analysiert die gegenwärtige religiöse Landschaft in Amerika, gibt Tipps, wie man verhindern kann, dass noch mehr Menschen die Kirche verlassen und liefert hilfreiche Vorschläge, wie man die zahllosen Familienmitglieder, Freunde und Nachbarn erreichen kann, die heute nicht mehr der Kirche angehören.

Die Notwendigkeit dieses Buches ergibt sich aus dem Kontext der amerikanischen Kirchengeschichte. In den Vereinigten Staaten gab es im 18. und 19. Jahrhundert drei Perioden, in denen die Zahl der Kirchenmitglieder rapide anstieg. So wichtig diese Wachstumsphasen auch waren, die größte Veränderung fand in den letzten 25 Jahren statt. Vierzig Millionen Amerikaner haben aufgehört, in die Kirche zu gehen. 15,5 Prozent der erwachsenen Amerikaner sind aus der Kirche ausgetreten. Schockierenderweise sind in den letzten 25 Jahren mehr Menschen aus der Kirche ausgetreten, als während der ersten „Great Awakening“ (große Erweckung), der zweiten „Great Awakening“ und den Billy-Graham-Evangelisationen zusammen Christen geworden sind (5). Daher auch der etwas zynisch wirkende Titel als diametrale Gegenüberstellung zu Erweckung: The Great Dechurching (Die große Entkirchlichung).

Davis und Graham greifen auf die Expertise der Soziologen Ryan Burge und Paul Djupe zurück, die ihre Forschung jeweils in drei Phasen durchführen. In Phase 1 versuchen die Forscher, das Ausmaß der Entkirchlichung (Dechurching) zu bestimmen. Eine entkirchlichte Person ist jemand, der früher mindestens einmal im Monat in die Kirche ging, jetzt aber weniger als einmal im Jahr (xxi). In Phase 2 werden Entkirchlichte aus allen religiösen Traditionen befragt und es wird festgestellt, dass keine theologische Tradition, Altersgruppe, ethnische Zugehörigkeit, politische Zugehörigkeit, Bildungsgrad, geografische Lage oder Einkommensklasse von der Entkirchlichung in Amerika ausgenommen ist (xxiii). Phase 3 konzentriert sich auf Menschen, die aus evangelikalen Kirchen ausgetreten sind.

„Part 1: Meet the Dechurched“: Obwohl Entkirchlichung überall stattfindet, zeigen Umfragen, dass nicht alle Menschen aus den gleichen Gründen aus der Kirche austreten. Und so kommen die Autoren mithilfe ihrer Studie dazu, die Menschen in Gruppen zu sortieren, welche ähnliche Gründe für ihr Fernbleiben zeigen.

Davis und Graham liefern diese Beschreibungen der Entkirchlichten in „Part 2: Profiles of the Dechurched“. Sie skizzieren fünf Gruppen, die sie in ihrer Forschung herausgefiltert haben: 1. Kulturelle Christen – die größte Gruppe, die kaum Anzeichen einer Bekehrung zeigt; 2. Entkirchlichte Mainstream-Evangelikale – eine Gruppe, die sehr orthodox ist, aber aufgrund eines Umzugs oder veränderter Gewohnheiten nicht mehr zur Kirche geht; 3. Ex-Evangelikale – eine Gruppe, welche den Evangelikalismus als Gesamtheit hinter sich gelassen hat; 4. Entkirchlichte BIPOC – eine Gruppe, die Schwarze, Indigene und People of Color beschreibt, die sich entkirchlicht haben; und zuletzt 5. Entkirchlichte, progressive Protestanten und Katholiken – diejenigen, die sich von den amerikanischen Landeskirchen (Reformierte und Katholiken) abgewandt haben.

In „Part 3: Engaging the Dechurched“ geht das Buch von der Beobachtung zur Tat über. Die Erkenntnis, dass sich in den letzten 25 Jahren eine große Zahl amerikanischer Erwachsener von der Kirche abgewandt hat, ist erschreckend, aber es gebe laut Davis und Graham Hoffnung auf Veränderung. Die Kirchen und Gemeinden müssen ihre Struktur, Strategie und Doktrin in angemessener Weise anpassen, um die 51 Prozent der entkirchlichten Evangelikalen zu erreichen, für die ein Wiedereinstieg durchaus möglich ist (120). Christen sollten zudem ihre Beziehungen zu Nicht-Christen und Aussteigern vertiefen und erweitern.

„Part 4: Lessons for the Church“ handelt von praktischen Impulsen und fünf Handlungsideen für Kirchen und Gemeinden. Der Weg zu einer Kirche mit wenig Austritten und wiedergewonnenen Aussteigern wird laut Davis und Graham darin bestehen, konfessionell und missionarisch zugleich sein (199–215). Kirchen sollten theologisch verwurzelt sein (confessional) und säkulare Menschen in ihrem Milieu zu Christus führen (missional). Das Buch schließt mit einer allgemeinen Ermutigung für Gläubige, sich an das Exil zu gewöhnen, in dem wir seit Beginn der Aufklärung (wieder) leben.

Zwei Aspekte erschwerten mir die Anwendung der Studie, wobei besonders der zweite eine sinnvolle Übertragung auf deutschsprachige Regionen hindert. Was bei der Veröffentlichung von Studien normalerweise gerne überflogen wird, kommt hier zu wenig zum Tragen. Man erfährt sonderlich wenig über Fakten und Methoden der Studie. Wie fundiert und wissenschaftlich sie ist, kann man nicht prüfen, da sie dem Leser nicht vorgelegt oder zur Verfügung gestellt wird. Zum einen gibt es keinen Hinweis auf eine Begutachtung der Qualität der Forschungsmethoden, Datenanalyse und Schlussfolgerungen. Des Weiteren ist die Stichprobengrösse von 1’043–4’099 Personen eher klein (xxii) und die Kriterien für die Stichprobenauswahl sind nicht ersichtlich. Zur Datenerhebung bleiben folgende Fragen offen: Sind die verwendeten Daten zuverlässig und glaubwürdig? Wurden geeignete Instrumente zur Datenerhebung verwendet? Der letzte Mangel dieser Studie betrifft die allgemeine Überprüfbarkeit durch Referenzen und Quellen: Frühere Arbeiten und Studien werden kaum zitiert und referenziert. Auf diesem Hintergrund wirkt die Studie, und folglich die präsentierten Ergebnisse und Interpretationen teils unwissenschaftlich oder zumindest unüberprüfbar.

Der zweite Aspekt betrifft die Tatsache, dass wir in der evangelikalen Frömmigkeitsbewegung im deutschsprachigen Raum zwar ähnliche Profile wie in den USA haben, jedoch bei weitem nicht dieselben prozentualen Anteile. In Westeuropa erscheint es mir beispielsweise nicht sinnvoll, die Gruppe BIPOC überhaupt als Profil zu definieren, da wir aus dieser Gruppe im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten viel weniger Abgänge haben. Dafür haben wir hierzulande eine hohe Anzahl an Exvangelicals, also Personen, die mit dem Evangelikalismus jeglicher Form abgeschlossen haben. Der Postevangelikalismus, was sich mittlerweile als Sammelbegriff für so einiges in diesem Bereich etabliert hat, zeigt uns, was in Amerika im Rahmen der Emerging-Church Bewegung bereits vor zwei Jahrzehnten geschehen ist: Zweifler und Kritiker treten nicht einfach aus der Kirche aus, sie definieren Kirche und ihre Werte neu und bleiben in anderer Form in den Statistiken vorhanden. Wie begegnen wir dieser Bewegung? Das Buch lieferte zu klaren Kritikern und Zweiflern nur wenig Informationen. Die Betrachtung dieser Gruppierung hätte intensiver ausfallen und gewichtet werden können.

Ich empfehle The Great Dechurching für Gemeindeleiter trotzdem aus folgenden Gründen. Erstens ist es ein großer Vorteil, Forschungsergebnisse kennenzulernen, welche Eindrücke und Anekdoten von Menschen belegen, die nicht mehr zur Kirche gehen. Für Gemeindeleiter ist es eine große Herausforderung geworden, sich ein Bild von Aussteigern zu machen, welche nicht mehr auffindbar sind. Darüber hinaus machen die Autoren die Forschungsergebnisse durch zahlreiche Grafiken und Diagramme zugänglich und verständlich. Die Umfragen helfen Leitern von Kirchen zu verstehen, warum Menschen die Kirche verlassen haben und was nötig ist, damit sie diese zurückgewinnen können. Die Geschichten am Anfang jeder entkirchlichten Splittergruppe (Exvangelicals, Cultural Christians etc.) helfen auch, den Statistiken Namen und Gesichter zu geben. Zweitens bieten die Autoren, obwohl sie sich auf die soziologische Forschung konzentrieren, im ganzen Buch viele praktische Vorschläge. Darum endet dieser Bericht auch mit der für die Autoren wichtigsten Anwendung: Laden Sie Ihre entkirchlichten Freunde wieder in eine gesunde Gemeinde ein. Laden Sie sie in Ihr Leben ein, zu dem die Kirche gehört (123).


Joshua Ganz, Pastor und Armeeseelsorger, Winterthur, Schweiz