Walter Dietrich: Samuel. 2 Samuel 15 – 20
Walter Dietrich: Samuel. 2 Samuel 15 – 20, BKAT VIII/5, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2023, geb., XXIV+412 S., € 100,–, ISBN 978-3-525-50363-8
Mit dem fünften Kommentarband zu den Samuelbüchern kommt Walter Dietrichs Auslegung zu einem vorläufigen Ende. 2Sam 21–24, den sog. „Anhang zu den Samuelbüchern“, wird er gemeinsam mit seinem Baseler Kollegen Hans-Peter Mathys untersuchen. Wie bereits seine frühere Kommentierung zeichnet sich der gegenwärtige Band durch drei Elemente aus, die im Folgenden näher beleuchtet werden und im Kommentar eigene Abschnitte bilden: A) Ausführliche und präzise synchrone Erzählanalyse, B) konsistente diachrone Rekonstruktion und C) ertragreiche Betrachtungen der Rezeptionsgeschichte.
A) In Dietrichs unverkennbarem Kommentierungsstil, einer detaillierten wie analytischen erzählenden Exegese, zeichnen sich die synchronen Abschnitte durch eine tiefgehende Narrativanalyse aus. Zugegebenermaßen ist der Vergleich mit anderen Samuelkommentaren durch Dietrichs Ausführlichkeit (fast 400 S. für sechs Kapitel) fast unfair und dennoch: Wer Dietrichs Kommentar zu einer Stelle gelesen hat, vermisst diese erzähltechnische Tiefe sehr. Insbesondere seine Analyse der Charaktere ist zuweilen nicht nur gewinnbringend, sondern fast schon leidenschaftlich zeigt er das Anliegen des Textes auf: So bezeichnet er Abschalom als „Möchtegern-Richter“ (41), der jeder Person Recht gebe, statt Recht zu sprechen, was Dietrich nach alttestamentlicher Rechtsvorstellung zum schweren „Fauxpas“ erklärt und zudem geschickt auf die Wertung von 2Sam 8,15 über Davids fortwährende gerechte Rechtsprechung verweist.
B) In Bezug auf die Entstehung von 2Sam 15–20 folgt Dietrich seinen bekannten Thesen von frühen Überlieferungen, dem Höfischen Erzähler, deuteronomistischen Redaktionen und späteren Ergänzungen. Im Einzelnen nimmt Dietrich für 2Sam 15–20 eine fünfstufige Textentstehung an (19–24):
1. Der Grundbestand entstamme der Amnon-Abschalom-Novelle, die bereits in Kap. 13–14 beginnt und sich präzise auf „die Gefährdung Davids und seiner Herrschaft durch den Putsch Abschaloms und dessen Niederschlagung“ (20) fokussiert (wie 15,13–16a.17b.18.23.*24.27–30.33–37; insgesamt etwa 80 V.). Dieser Grundbestand zeichne sich – einer typischen Novelle entsprechend – durch seinen präzisen, informativen und spannenden Erzählstil aus. Direkte theologische Wertungen fänden sich hier nicht, stattdessen liege ein nüchterner und schnörkelloser Erzählstil vor. Dieser Grundbestand verdanke sich einem zeitgenössischen Anhänger Davids, womöglich handle es sich um Kimhan (vgl. Kommentierung von 19,38–41).
2. Danach habe eine Ergänzung „aus dem Erzählkranz vom Aufstieg und Niedergang der Sauliden“ (S. 21) stattgefunden. Diese Quellenstücke, wie bspw. die Verweise auf Saul und seine Nachkommen, bestünden aus kurzen, lose zusammengestellten Episoden. Diese hätten erst nach dem Tode Sauls (1Sam 31) vorgelegen und würden vom Machtverzicht von Sauls Nachkommen und dessen Unterwerfung unter Davids Herrschaft erzählen (wie 2Sam 19,19b.20.24.*25.26–28a.30; insgesamt etwa 30 V.).
3. Weitere kleinere separate Quellenstücke macht Dietrich bspw. in der Liste davidischer Beamter 20,23–26 aus. Diese Notizen würden einzelne historische oder genealogische Aspekte betonen.
4. Wesentlich prägender sei dann das Höfische Erzählwerk über die ersten Könige Israels gewesen, das mit seiner Zusammenstellung und Überarbeitung zu einer Großerzählung fast schon den Umfang des Endtextes erreichte. Dietrich verortet dies in der mittleren Königszeit und zählt zu dieser Phase bspw. 15,14b.16b.17a.19–23a.25b.26.31.34b (insgesamt etwa 60–70 V.). Dietrich spricht dabei dem Höfischen Erzähler zu, dass er ein „pietätvoller Bewahrer überlieferter Tradition, geschickter Redaktor, […] und begnadeter Literat“ (24) sei. Die bestimmende Figur sieht er in Jahwe (vgl. 17,14b), dessen Eingreifen und Beziehung zu David häufig reflektiert werde. Zugleich zeichne der Höfische Erzähler aber auch ein höchst realpolitisches Werk eines oft gebeutelten und ambivalenten Davids nach, der aber überwiegend mit Sympathie bedacht werde.
5. Nur geringe Spuren deuteronomistischer Redaktionstätigkeit (19,10–11.13.44aβ) macht Dietrich aus, die er DtrH zuordnet. Hier würde die große Bedeutung Davids sowie die wankelmütige Haltung Israels betont.
In seiner diachronen Analyse wird dabei die hohe Bedeutung und Schätzung der Amnon-Abschalom-Novelle und des Höfischen Erzählers immer wieder deutlich. Auffällig ist auch, wie viel historische Plausibilität – bei aller weitausgeprägten Skepsis – im Vergleich (!) zu anderen deutschsprachigen Kommentaren Dietrich dem Grundbestand des Textes zumisst (vgl. 34–38; 70–71). Weniger Beachtung findet dafür der Sitz im Leben, den Dietrich oft nur zurückhaltend zu rekonstruieren versucht.
C) Die Rezeptionsgeschichte beleuchtet Dietrich wie gewohnt erkenntnisreich, indem er Werke kurz zusammenfasst (vgl. zu 15,13–37 auf 86–91). Zugleich fällt diese kürzer als in den vorherigen Bänden aus, was aber wohl der teils weniger starken Rezeption von 2Sam 15–20 geschuldet ist. So finden sich jetzt kurze Gedanken auch in kurzen Petit-Abschnitten in der Kommentierung, wie bspw. zur mittelalterlichen Darstellung von Abschalom auf 43, und vornehmlich in den Ziel-Abschnitten.
Detailliert hat Walter Dietrich in seinem opus magnum mit fünf (!) Bänden die Samuelbücher gewinnbringend und akribisch genau kommentiert. Wer indes an einem schnellen Einstieg in Dietrichs Verständnis der Samuelbücher interessiert ist, dem sei das 2022 erschienene Buch „Die Samuelbücher heute lesen“ empfohlen (Walter Dietrich: Die Samuelbücher heute lesen, Zürich: TVZ, 2022, CHF 22,80, ISBN 978-3-290-18455-1). Auch dort zeichnet Dietrich die antike Textgeschichte nach, behandelt die Rezeptionsgeschichte und thematisiert zentrale Aspekte der Samuelbücher (z. B. Themen wie Krieg; Macht und Gewalt oder Gottesbilder).
Für die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Samuelbüchern dagegen erweist sich auch der fünfte Kommentarband als wertvolle, fast unverzichtbare Lektüre, die eindrücklich einen vielschichtigen und offenen Blick in die nicht ganz glatten Texte der Samuelbücher gewährt.
Christian Hilbrands, Doktorand an der Theologischen Universität Utrecht, Niederlande