Neues Testament

Stefan Schreiber: Die Johannesbriefe

Stefan Schreiber: Die Johannesbriefe, ThKNT 21, Stuttgart: Kohlhammer, 2025, 357 S., kt., € 59,−, ISBN: 978-3-17-020771-4


Stefan Schreiber (Prof. für Ntl. Wissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Augsburg) kommentiert in der von ihm mitherausgegebenen Reihe die Johannesbriefe kompetent und hilfreich auf 320 Seiten (11-48 Einleitung 1-3Joh; 49-261 zum 1Joh; 262-298 zum 2Joh; 299-329 zum 3Joh). Er schließt sich mit überzeugenden Argumenten den Forschern (Lieu, Wade, Rusam, Griffith, Jensen, Streett, Hahn, Olsson u. a.) an, die eine „nicht-polemische“ Lesart der Briefe vertreten. Im Hintergrund der konfliktbedingten Ausführungen und Abgrenzungen im 1-2Joh steht nicht etwa die lehrmäßige Abwehr eines Doketismus oder gar der Gnosis, sondern die Frage, ob Jesus der jüdische Messias ist („dass Jesus der Christus ist…“ (1Joh 2,22; 5,1ff). Die Formulierung „im Fleisch gekommen / kommt“ (1Joh 4,2; 2Joh 7) meint die vergängliche und mit Schwachheit behaftete Existenz des Menschen Jesus (der der Messias sein soll? 188-191. 282-284). – Wenn Schreiber zur Gegnerfrage anmerkt: „selten denkt man auch – wie ich – an jüdische Christus-Anhänger“ (284), so erinnert er selbst an anderer Stelle (37) daran, dass das nur bedingt stimmt. Die Sicht, dass es sich bei den „Konkurrenten“ (s. 1Joh 2,18f) – so nennt Schreiber sie – um Juden(christen) handelt, die zur Synagoge zurückkehrten, wurde vor dem Aufkommen der religionsgeschichtlichen Schule (prominent z.B. von Semler, Eichhorn ua.) breit vertreten, zuletzt ausführlich 1903 in einer Monografie von A. Wurm. Diese Linie verfolgt Schreiber m. E. zu Recht ausdrücklich weiter.

Die Einleitungsfragen werden kenntnisreich besprochen und beantwortet. 1Joh ähnelt in der Form dem frühjüd. lit. Brief, ist ein einheitliches Schreiben (5,14-21 ist keine sekundäre Redaktion, 243) und sprachlich kunstvoll gestaltet. 2/3Joh sind Alltagsbriefe und es gibt keinen Grund, dass nicht alle drei Briefe vom selben Verfasser stammen, ja auch das (1-2 Jahre vor den Briefen geschriebene, 46) JohEv vom selben stammen könnte (26-29). Die Adressaten des 1Joh würden zum Umfeld des „joh. Kreises“ gehören und wohl in paganer, städtischer Lebenswelt zu verorten sein. Dasselbe gelte für 2/3Joh, wobei die „erwählte Herrin“ Chiffre für eine eigenständige Gemeinde ist (43-44. 267-269) und Gaius Teil einer lokalen, eng mit dem Presbyter verbundenen, Gruppe ist (44-46. 300f). Nach Schreiber sind sowohl das JohEv als auch 1-3Joh „am selben Ort“, am ehesten in der Großstadt Antiocha geschrieben und zwar „vielleicht sogar“ in den 80er Jahren des 1. Jhdts. (48). – Axiomatisch wird im Abschnitt zur Verfasserfrage (30, auch 63 Anm. 39 ohne Begründung) erklärt, das „wir“ in 1Joh 1,1ff sei „eine Wir-Gruppe“, ja „ein Verfasserkollektiv“. Diese sei zwar noch in Kontakt mit Augenzeugen der Jesus-Geschichte gestanden, aber der ab 2,1 individuelle Verfasser zähle schon zur nächsten Generation (32, s. auch 63). Man möchte mit Schreiber fragen: „Wo steht das im Text?“ (so seine treffende Anm. 575 zu einer Spekulation von Rusam). Oder wo finden sich dazu außertextliche, historische Anhaltspunkte? Tatsächlich wird damit ohne weitere Begründungen eine „Gruppe, die die johanneische Tradition empfangen, geformt und weitergegeben hat, also die Traditionsträger“ (31) eingeführt. Diese soll als Teil eines „johanneischen Kreises“ (mit Hinweis auf O. Cullmann zur Tatsache erhoben (33, Anm. 61)) im ganzen Kommentar durchgehend um die rechte Tradierung der Jesus-Geschichte besorgt gewesen sein. Sollte diese unterdessen in die Jahre gekommene Verfasserhypothese (ohne historische Anhaltspunkte und mit wenig Plausibilität) angesichts der neueren Joh-Forschung nicht wenigstens begründet oder gar hinterfragt werden? Neben diesen Mangel gesellt sich eine fehlende Auseinandersetzung mit der altkirchlichen Tradition zur Orts- und Verfasserfrage. Auf zwei Zeilen weist Schreiber zwar auf Irenäus (nennt Joh, in Ephesus, z.Z. Trajans) hin (gibt es nur diesen Text?), um gleich anzumerken, dieser habe das JohEv einem Augenzeugen zuschreiben wollen und die Überlieferung unterliege (daher?) historischen Zweifeln (47). Ein ähnliches Schicksal des Nichteingehens trifft die Papiasnotiz zur Frage der Identität des Presbyters (2Joh 1 und 3Joh 1, inkl. der Wirkungsgeschichte) auf sechs Zeilen (266). – Eine m. E. negative Folge dieser Festlegung der/s Verfasser/s auf eine Tradentengruppe ist, dass Schreiber an allen Stellen, an denen vom „wissen“ („Wir wissen…“ 3,2.14; 5,15.18-20) die Rede ist, reflexartig von „johanneischer bzw. christlicher Tradition“, „gemeinsamer Kenntnis aus der johanneischen Tradition“ usw. spricht. Das joh. „Wissen“ ist aber mehr als ein kognitiver Akt der Traditionsvermittlung und untrennbar mit der übernatürlichen Erfahrung der Gotteskindschaft verbunden (s. dazu z. B. de la Potterie). Eine weitere Konsequenz dieser spekulativ-hypothetischen Annahme: Dieser „Kreis“ soll scheinbar ausschließlich aus Judenchristen bestanden haben und bis gegen Ende des 1. Jhdts eine von den übrigen „Christen“ abgesonderte Theologie (s. zu 1Joh 3,23: eigene Tora-Hermeneutik, ohne Bezug zu Paulus (109); Jesu Tod gedeutet ohne Bezug zu Kult und Sühne, s. dazu unten) gepflegt haben. Beides ist aus historischer Sicht kaum denkbar. Vielleicht kann deshalb (das paulinisch geprägte) Ephesus nicht Ort der Abfassung sein?

Der Kommentierung der Texte steht eine eigene Übersetzung voran, meist gefolgt von einem Abschnitt „Struktur und Sprache“, der stets nachvollziehbare Hinweise zu strukturellen Markern und genaue Beobachtungen zur Sprache, auch zu sprachlichen Nuancen enthält. Überhaupt fällt eine hohe Kompetenz und ausgewogene Fachkenntnis zur griech. Sprache (z.B. zu Aor, Pf, Präs, zum Umgang mit Gen.-Konstruktionen oder zur Syntax z.B. des en touto oder den oft „offenen“ Bezügen der Personalpronomen usw.) auf. Gewichtige Begriffe (z.B. für Sünde (148f) oder „Götzenbilder“ (1Joh 5,21; 258-261) werden auf dem atl.-jüd. Hintergrund erläutert. Auch eigene Übersetzungsbegriffe an neuralgischen Punkten (Antichristusse (125); „erzeugt“ statt gezeugt (143)) werden einleuchtend begründet. Speziell ist, dass für die Wortbedeutungen nicht so sehr die ntl. Spezialwörterbücher, sondern in erster Linie Menges Großwörterbuch (Langenscheidt) und Passows Handwörterbuch dienen. – Wo nötig folgt ein Abschnitt zur Textkritik, wobei diese sich auf die relevanten Stellen beschränken, dort aber verständlich und kundig behandelt werden (so wird bei der Besprechung des sog. Comma Johanneum (227-228) auch die erst 2010 entdeckte Randleseart in der Handschrift 177 angeführt). – Es folgt die ausführliche „Erklärung“, die durch Versangaben und Stichworte am äußeren, breiten Rand der Seiten sehr leserfreundlich erschlossen ist. Ab und zu findet sich in der fortlaufenden Auslegung auch ein Abschnitt „Forschung“, der zu einem Textteil, einer Aussage oder einem Thema einen kurzen Forschungsüberblick im Kleindruck gibt. Ebenfalls in eingerücktem Kleindruck findet man Zusammenfassungen von z.B. konzentrierten Begriffsstudien zur Verwendung in AT und Umwelt oder sprachliche Parallelen und Erklärungen. Eine weitere Überschrift „Sozialgeschichte“ fasst Informationen zusammen, die für das Textverständnis wichtig sein können. Zu 1Joh 4,5 erläutert Schreiber z.B. hilfreich die Situation der jüd. Diaspora im späten 1. Jhdt. des römischen Reiches. Die dort genannten Privilegien für Juden könnten übrigens gepaart mit dem – von Schreiber nicht thematisierten – Druck zur (öffentlichen) Kaiserverehrung auch für „Judenchristen“ neben der enttäuschten Messiaserwartung ein weiterer starker Grund für das „von uns weggehen“ gewesen sein. – Jeder Abschnitt (des 1Joh) endet mit einer „Zusammenfassung“, die in wenigen Sätzen den Gedankengang präzise wiedergibt. Eine weiterführende Aktualisierung ist nicht Fokus der Reihe, allerdings macht Schreiber zur Verweigerung von Gastfreundschaft und Gruss in 2Joh 10-11 eine Ausnahme und formuliert eine lesenswerte „Aktualisierung“ zur Relevanz ev. auch heute geforderter Abgrenzungen (291).

Besondere Highlights der Auslegung sind z.B. die Ausführungen zum Verständnis der drei Personengruppen (Kinderchen, Väter, junge Männer) in 1Joh 2,15-17 (111-114), zum atl. Hintergrund der Aussage „Gott ist Liebe“ (199-200), zum Verständnis von „Wasser und Blut“ in 5,6ff als Metonyme für und den gewaltsamen Tod Jesu, (229-233) oder den Hintergrund der Aussage in 3Joh 7 (310-313). Überzeugend sind auch die Erklärungen zu den sich nach Meinung Schreibers nicht widersprechenden drei Stellen im 1Joh (1,5-10; 3,4-10; 5,16ff), die prominent die Sünde und das Sündigen zum Thema machen (73ff. va. 81f; 148ff; 247ff). Über den Kommentar verteilt und an entsprechenden Stellen eingefügt finden sich zehn lehr- und ertragreiche Exkurse: Zum Messias (60-62), der Frage nach einem joh. Dualismus (69-71 – verneint), Sünde und Vergebung (79-82), Liebe als Deutung des Todes Jesu (88-90), Ethik in 1Joh (104-106) + Tora-Hermeneutik in den JohBriefen (106-110), Aus Gott erzeugt und Kinder Gottes (141-144), Der Presbyter (263-267), Gastfreundschaft (291-294) und ekklesia / Hausgemeinde / Versammlung (308-309). Formal wünscht man sich eine klarere Markierung des Endes der Exkurse (insbesondere nach Exkurs 10 fehlt die Leerzeile?, 309).

Kritisch anmerken möchte ich zwei inhaltlich gewichtige Punkte: Schreiber will die Aussagen zur Bedeutung des Todes von Jesus in den Briefen unter Absehung eines Bezugs zum kultischen Opfer (oder gar einer stellvertretenden Sühne) verstanden wissen. Die Formulierung „das Blut (Jesu) reinigt“ (1Joh 2,7) stamme zwar aus dem Opferkult Israels, hier liege aber „eine eigene Anwendung der kultischen Sprache“ vor: „Dabei wird der Tod Jesu nicht als Kultopfer gedeutet, sondern die Sprache kultischer Reinigung vermittelt die Heilswirkung des Todes Jesu zugunsten der Seinen.“ (74) Auch in V.9 sei „reinigen“ vom kultischen Hintergrund gelöst (77f). Möchte Schreiber wirklich sagen, dass es „die Sprache“ ist, die „die Heilswirkung“ „vermittelt“? Wie muss man sich das vorstellen? Zum Begriff hilasmos (2,2; 4,10) stellt er fest: „Beide Stellen enthalten keine Hinweise darauf, dass hilsamos auf dem Hintergrund kultischer Opfer verstanden werden will.“ (87), auch nicht das Syntagma „für unsere Sünden“ in 4,10 (202-203). Auch das „Sünde wegnehmen“ in 3,5 geschieht „aus Gottes Treue und Gerechtigkeit auf der Basis des Bekennens“ (150) und der Hinweis auf den soteriologisch wirksamen Tod Jesu in 5,6 sei simpel im Sinne des „Ausdruck[s] der Liebe Gottes“ zu verstehen. Diese Sicht „Allein die Liebe Gottes bewirkt die Versöhnung“ (203) versucht Schreiber im Exkurs 4 („Liebe als Deutung des Todes Jesu“) mit den bekannten Argumenten zu begründen. Der Hinweis auf 1Joh 3,16 sowie 4,9f und Parallelen des antiken Idealbildes der Freundschaft sind seine Hauptzeugen. Fazit: „Das Medium eines kultischen Opfers ist überflüssig, sodass keine Sühne- oder Opfervorstellung in den Blick kommt“ (89). Ich meine, dass Schreiber auf der exegetischen Ebene die sonst von ihm öfter gesehene Intertextualität (z.B. Anm. 155 zu 1Joh 2,11 und Joh 12,35.40) und Verwobenheit mit dem Alten Testament unterschätzt. Zu Recht fordert er dazu nachvollziehbare Kriterien (Anm. 346), aber die gibt es unterdessen nicht nur für das Vorkommnis der Intertextualität. Auch die von der kognitiven Sprachforschung untersuchten Phänomene der Isotopie, metaphorischer Bildfelder und der Frame-Semantik sind so weit ausgereift und methodisch kontrollierbar, dass sie von der ntl. Exegese aufgegriffen werden (sollten). Sie dürften zeigen, dass die wenigen Stichworte zur Deutung des Todes von Jesus viel stärker mit dem atl. Sühneopferkult verbunden sind. Und auf der theologischen Ebene fragt man sich, wie genau das „Denkmodell“ des „Sterbens für“ geliebte Menschen die Frage nach den Folgen von Schuld/Sünde und damit zusammenhängender Gerechtigkeit „behandeln“ soll. Wie kann die aus Liebe motivierte Lebenshingabe eines Freundes eine Wirkung auf meine Sünde haben und in welchem Sinne kann eine solche Tat sie vergeben? Und wenn der Tod von Jesus tatsächlich „lediglich“ ein (freundschaftlicher) Ausdruck der größten Liebe Gottes zu den Menschen war, warum sollte dieser Jesus exklusiv der „einzige von Gott gesandte Sohn“ sein und nicht auch das Sterben eines anderen Menschen dasselbe bedeuten können? Falls die Verfasser der Briefe und ihre Empfänger tatsächlich eine solche „Christologie“ gelehrt und vertreten haben, könnte ich ohne weiteres nachvollziehen, warum Juden diese Gruppe verlassen haben. Zum äußerlich „schwacher Messias“ käme zudem im Blick auf das noch größere Übel der Sünde (und des Bösen) ein zwar nobler, aber für mich nicht erkennbar wirksamer Tod dieses „Messias“.

Damit zusammen hängt wohl auch die zweite Anfrage, nämlich ob nicht im 1Joh Aussagen über Jesus und sein Verhältnis zu Gott durchscheinen, die für Juden(christen) zum Anstoß werden konnten. Ich denke dabei an die auffallend vielen Stellen, an denen Personalpronomina entweder auf Gott oder auf Jesus bezogen werden können (und m. E. nicht in jedem Fall eindeutig geklärt werden kann, ja möglicherweise vom Verfasser bewusst offenbleiben, weil er Jesus in größter Nähe zu Gott sieht). Auch sollte in 2,20.27 („Salbung“); 3,9 („Same“); 3,24 und 4,12ff nicht vorschnell der Geist weggelassen oder entpersonalisiert und der Sohn zu einem reinen Repräsentanten herabgestuft werden. Die für die Frage zentrale Stelle 1Joh 5,20 wird hilfreich besprochen, aber es überzeugt die Erklärung, in 5,20 sei „der Bezug [des Wortes „Dieser…“] auf … Gott eindeutig.“ (256) nicht wirklich. Stärkster Einwand bleibt, welchen Sinnzugewinn die Aussage „Gott ist der wahrhaftige Gott“ im Gedankengang 5,18-20 haben soll. Wenn nun aber der/die Vf. und Empfänger der Briefe in Jesus tatsächlich so etwas wie „Gott selbst, gekommen in Menschengestalt“ erkannt haben sollten, ergäbe sich sowohl für das Zentralereignis seines Todes als auch für die Gründe des Weggehens der jüdischen Konkurrenten eine weitaus dramatischere Situation.

Diese kritischen Nachfragen sollen keineswegs den Wert des Kommentars schmälern. Im Gegenteil, sie sind Ausdruck dafür, dass das Werk zum intensiveren Nachdenken und Eintauchen in die Texte der kleinen Briefe anregt. Ein kleines, aber feines Literaturverzeichnis (an gewichtiger Lit. fehlt m. E. nur Malatesta) und hilfreiche Stellenregister beschließen den Band.


Dr. Jürg Buchegger-Müller, Pfarrer der Freien Evangelischen Gemeinde Wetzikon (Schweiz)